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Allein mit der Waffe des Charismas

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In den ersten Jahren, die auf die Verbannung Napoleons nach Sankt-Helena folgten, wurde Frankreich regelmäßig im März von einer sonderbaren Krankheit heimgesucht. Es handelte sich um eine Art kollektiver Halluzination, die besonders stark in bonapartistischen Bastionen wie Lyon oder Grenoble auftrat und die mit der Erwartung an eine unmittelbar bevorstehende Rückkehr des Kaisers verbunden war. Dem März-Fieber lag ein klar zu benennendes Ereignis zugrunde. Am 1. März 1815 war Napoleon, von Elba, seinem ersten Exil, kommend, im Golf von Jouan bei Cannes gelandet. Von hier aus gelang es ihm, Frankreich im Sturm zu erobern und den König aus dem Land zu vertreiben. Sein Marsch auf Paris eröffnete die Herrschaft der Hundert Tage.

Unter den Hundert Tagen versteht man die Zeitspanne, die vom 20. März 1815, dem Datum von Napoleons Staatsstreich, bis zur Abdankung am 22. Juni reicht.1 Man kann sie entweder als relativ folgenloses Intermezzo oder als großes Geschichtsdrama im Zeitraffer ansehen. Für die erste Betrachtungsweise spricht, dass Napoleons Comeback schlussendlich mit einem glatten Misserfolg endete: Der König zog wieder in die Tuilerien ein. Napoleon wurde von dem vergleichsweise angenehmen Elba auf das unwirtliche Sankt-Helena zwangsumgesiedelt. So gesehen hätte der Weltgeist, gäbe es ihn denn, sich mit den Hundert Tagen nichts weiter als eine Extravaganz geleistet, eine schauerliche allerdings, denkt man an die vielen Toten von Waterloo.

Wer dagegen die Hundert Tage als grandiosen Geschichtsmoment begreift, denkt vor allem an den „Flug des Adlers“. Napoleons überraschendes Eindringen in Frankreich, der spektakuläre Marsch auf Paris und der gewaltlose Triumph seiner elfhundert Köpfe zählenden Miniatur-Streitmacht über die fast 200000 Mann des Königs riss sowohl Freunde wie Feinde hin. Der Dichter Chateaubriand, ein Royalist, sprach bewundernd von der „Invasion eines Landes durch einen Mann“, Germaine de Staël, die stets eine scharfe Feder gegen Napoleon führte, von einem „der größten Entwürfe der Kühnheit, die man in der Geschichte finden kann“. Balzac rief entzückt aus: „Das ist das größte Wunder, das Gott vollbracht hat.“

Zweifellos begünstigten bestimmte Umstände den erstaunlichen Erfolg des Kaisers. Die Bourbonen, die 1814 auf Frankreichs Thron zurückgekehrt waren, hatten es geschafft, sich in kurzer Zeit unbeliebt zu machen. Das lag weniger an Ludwig XVIII. Der aufgrund seiner Korpulenz und seiner schleppenden Fortbewegungsweise äußerlich wenig imposante König entpuppte sich als vergleichsweise vernünftiger Herrscher. Statt sich an denjenigen zu rächen, denen er sein langes und erniedrigendes Exil verdankte, bemühte er sich nach Kräften um Aussöhnung. Allerdings reichten seine Kräfte nicht aus, um den eigenen Anhang zu mäßigen, der sehr viel radikaler dachte als er und nur zu gern die Verhältnisse von vor 1789 erneuert hätte. Als Hypothek erwiesen sich auch die Umstände der bourbonischen Restauration. Man hatte die Franzosen nicht gefragt, ob sie die alte Dynastie wieder auf dem Thron sehen wollten, deren letzter König, Ludwig XVI., in den Revolutionswirren hingerichtet worden war. Wie ihre Gegner höhnisch sagten, waren die Bourbonen im „Gepäckwagen“ der Sieger zurückgekehrt. Das belastete Ludwigs Ansehen vor allem in der Armee. Trotzdem kann man nicht behaupten, dass Frankreich sich Anfang 1815 in einem aufgewühlten oder gar vorrevolutionären Zustand befunden hätte.

Zu einer ernsthaften Prüfung der Belastbarkeit des neuen Regimes kam es erst durch die Gegenüberstellung mit dem Mann, der das Land fast 14 Jahre lang regiert hatte, zuerst als Konsul, dann als Kaiser. Und das Unwahrscheinliche geschah: Je näher Napoleon Paris kam, desto mehr schwoll seine Streitmacht an. Regimenter, die ihn aufhalten sollten, liefen zu ihm über. Bauern und Handwerker schlossen sich den Soldaten an. Der Sturmgewalt dieses Plebiszits hielt die Königsherrschaft nicht stand. Wie ein Kartenhaus stürzte sie zusammen.

Kein Feldzug des Korsen war glänzender als der „Adlerflug“. Er überstrahlte selbst die Sonne von Austerlitz. Oft hatte man Napoleon einen Kriegsgott genannt. Bis zur Katastrophe in Russland 1812 war er von Sieg zu Sieg geeilt. Diese Schlacht aber gewann er nicht mit Kanonen, sondern allein mit der Waffe des Charismas. Das hatte seine Logik. Denn angesichts der höchst ungleichen Verteilung der Mittel musste er ein militärisches Kräftemessen unbedingt vermeiden. Also wählte Napoleon die psychologische Arena. Im Fernduell mit Ludwig XVIII. diente ihm das Wort als Artillerie, die Symbole ersetzten die Reiterei. Bei Laffrey, einem kleinen Ort in der Dauphiné, hätte die Ballade der Invasion ein vorzeitiges Ende finden können. Schussbereit stand ein Bataillon des Königs den Insurgenten gegenüber. Aber als sich Napoleon im bicorne, dem legendären Zweispitz, und in seinem berühmten langen Mantel, der redingote grise, den Soldaten zeigte, brachen sie förmlich zusammen und verweigerten den Schießbefehl.

Nie hatte Napoleon mit höherem Einsatz gespielt. Das Charisma ist eine Macht, bei der sich erst im Anwendungsfall herausstellt, ob sie überhaupt vorhanden ist. Der Kaiser konnte sich nicht sicher sein. Immerhin war der Nimbus seiner Unbesiegbarkeit spätestens seit der Völkerschlacht von Leipzig zerbrochen. Bei der Fahrt ins Exil wäre er vom aufgebrachten Pöbel beinahe gelyncht worden. Aber der alte Zauber wirkte noch, und wie er wirkte! Viele Jahre später fragte Balzac schwärmerisch: „Hatte es vor ihm jemand gegeben, der ein Reich nur dadurch eroberte, daß er seinen Hut zeigte?“

Es funktionierte auch noch einmal Napoleons meisterliche Sprachgewalt. Die Proklamationen, die der Kaiser nach der Landung in Frankreich verbreiten ließ, waren Spitzenleistungen der Propaganda. Sie trafen genau den Nerv jener Schichten, die die Wiederkehr der feudalen Vorrechte fürchteten oder sich – wie viele in der Armee – durch die Bourbonen um ihr Ansehen gebracht sahen. Ihnen bot sich Napoleon als Retter an, als Feldherr, der die geraubten Rechte der Nation zurückholen würde. „Der Adler in den nationalen Farben wird von Kirchturm zu Kirchturm fliegen, bis zu den Türmen von Notre Dame.“ Vor der Bildkraft seiner Ansprache gingen alte Haudegen in die Knie. „Wer schreibt heute noch so? So muß man zu den Soldaten sprechen!“, rief der Marschall Ney verzweifelt aus, als er die Proklamationen las. Ney wollte Napoleon in einem „eisernen Käfig“ fangen. Hoch und heilig hatte er es dem König versprochen. Am Ende entschied er sich für Napoleon und für die ruhmreiche Vergangenheit, die auch die seine war. Ney wurde zum Verräter.

Napoleons hundert Tage

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