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Der Schock

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Es ist jetzt fast schon wieder drei Wochen her, dass Peter Kleinlein auf der Geburtstagsfeier seiner Schwägerin Elli, der jüngeren Schwester seiner Ehefrau Marga, mit einer plötzlich auftretenden, seltsamen Mattigkeit zu kämpfen hatte. Ein ungewohntes Gefühl hatte sich unmittelbar nach dem letzten Tanz in ihm breit gemacht, das er nicht recht zu deuten vermochte. Er hatte urplötzlich enorme Mühe Luft zu holen. Es fühlte sich an, als ob ein zentnerschwerer Mühlstein auf seinen Schultern liegen, seine Lungenflügel zusammendrücken und mit Macht jeglichen Atem herauspressen würde. Peter war jedoch noch nie in seinem mittlerweile fast siebzigjährigem Leben Müller, noch pflegt er für gewöhnlich solch schwere Lasten auf seinen Schultern spazieren zu tragen. Er war sein Lebtag lang ein IT-Spezialist, ein Schreibtischtäter und befindet sich nun im Ruhestand, seit sieben Jahren schon. Der Stress des täglichen Funktionierenmüssens liegt weit in der Vergangenheit und ist bereits komplett vergessen. Druck verspürt er seitdem nicht mehr. Weder seelisch, noch körperlich. Daher war ihm mit einem Schlag klar, dass hier etwas überhaupt nicht stimmte. Die ungeheuere Enge, die er verspürte und die jeden Atemzug zur Qual machte, war von einer Art und ungeheuren Intensität, die er so nicht kannte. Müde zu sein fühlte sich entschieden anders an. Die Atemlosigkeit hatte ihre Ursache aber auch nicht in dem wilden Tanz, zu dem ihn die meist jüngeren Festgäste animiert und mit auf die Tanzfläche geschleift hatten. Auch dieses Gefühl hätte er sicher erkannt. Es war einfach anders. Es fühlte sich so seltsam fremd an, dass er es sich nicht erklären konnte. Auch seiner Marga nicht, die ihn aufgrund seines überraschten Gesichtsausdruck fragend ansah.

„Woss issn Beder? Du schausd richdi kabudd aus. Ich maan, etzerdler werds langsam Zeid, dass mer hamm gänger. Du gfällsd mer im Momend garnedd.“

Dass er ihr nicht gefiel stimmte so nicht ganz. Er gefiel ihr im Allgemeinen sogar ausnehmend gut und heute ganz besonders. Schick sah er aus in seinem Festtagsanzug und der silbergrauen Krawatte, die inzwischen, auch infolge der heftigen Verrenkungen und der damit unmittelbar verbundenen Hitzewallungen, schon lange auf Halbmast hing. Die meisten anderen Gäste hatten die ihren schon lange abgenommen oder von vorne herein auf den als altmodisch verrufenen Kulturstrick verzichtet. Was Marga vielmehr meinte war, dass Peter nicht gesund aussah und ihr sein Zustand nicht gefiel. Die anderen Gäste hatten allesamt noch nichts bemerkt, seine bessere Hälfte kannte ihn jedoch in und auswendig und wusste genau wie er selbst augenblicklich, dass etwas ganz und gar nicht stimmte.

„Etz iss ja aa scho glei vierer in der Fräih, dou iss schließli nimmer grad zu bald, wemmer hamm gäihd. Kumm, mir soong ade zu der Elli und zum Manfred und dann fahr mer. Drink dei Zeich aus und dann bagg mers. Iss sowieso nu a weider Weech bis hamm nach Rödnbach.“

Wenn es eines weiteren Indiz‘ für Peters Zustand bedurfte hätte, dann hätte die Marga es aus der Tatsache erhalten, dass ihr Mann sofort aufstand und sein halb volles Glas einfach unbeachtet stehen ließ.

Im Auto wurde es nicht besser. Peter hing leicht nach vorne gebeugt in einer reichlich unnatürlichen Haltung auf dem Beifahrersitz. Sein Atem ging schwer. Nach wenigen Kilometern war beiden klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Es war Sonntag früh, ein Arzt wäre im jedem Fall nur über einen Notdienst erreichbar. Da kann man es getrost als Glück im Unglück bezeichnen, dass die Kleinleins auf ihren Nachhauseweg von Schwabach, wo die Feier zu Ellis sechzigstem Geburtstag stattgefunden hatte, über die Autobahn mussten und dass gerade in diesem Augenblick das blaue Schild mit dem Hinweis auf die Abfahrt Nürnberg-Langwasser aus dem Dunkel auftauchte, mit der Zusatzinformation Klinikum Nürnberg-Süd. Kurz entschlossen setzte Marga, die auch ohne Peters aktuelles Problem, allein schon aus alkoholtechnischen Gründen als Fahrerin eingeplant gewesen wäre, den Blinker und nahm zügig die Ausfahrt. Weitere zehn Minuten später standen die beiden bereits vor dem spärlich beleuchteten Haupteingang des Klinikums. Einen Parkplatz hatten sie, was um diese Zeit nicht verwunderte, unmittelbar vor dem dorthin führenden, überdachten Weg gefunden. Ein Umstand, der tagsüber gut und gerne einem Sechser im Lotto gleichgekommen wäre. Es war inzwischen kurz vor fünf Uhr morgens und es regnete leicht.

Der Haupteingang ist ab 21.00 Uhr geschlossen.

Bitte benützen sie den Eingang über die Notaufnahme.

So stand es auf dem Schild zu lesen, das an der gläsernen Eingangstür angebracht war. Soweit, so gut, aber wohin musste man sich nun wenden? Die Kleinleins waren nun mal keine Nürnberger, sondern stammten aus dem kleinen Örtchen Röthenbach, das etwas mehr als eine halbe Fahrstunde von der Großstadt entfernt liegt und sie hatten daher auch noch nie das Nürnberger Klinikum besucht, weder als Patient, noch als Besucher. Peter fiel das Atmen von Minute zu Minute schwerer. Zu allem Überfluss stellte sich auch noch ein beängstigendes Stechen in der linken Lungenhälfte ein. Dennoch schafften sie es, im Dunklen den Fußweg zu finden, der zu dem ein Stockwerk tiefer gelegenen Eingang der Notaufnahme führt.

Sofort wurden sie von einer jungen Dame, welche eine warme Strickweste über der Schwesternkleidung trug, an der Rezeption in Empfang genommen. Sie wirkte müde und erschöpft. Ihre Schicht hatte wohl schon viele Stunden gedauert und neigte sich hoffentlich bald dem Ende zu. Peters Personalien wurden aufgenommen. Er hatte aufgrund der Atemnot und der mittlerweile immer stärker werdenden Schmerzen große Mühe zu sprechen. Die Daten seines Versichertenkärtchens, das er glücklicherweise immer in seinem Geldbeutel mit sich führte, wurden erfasst. Danach ging alles ganz schnell. Er wurde in einen Raum geführt, wo er sich auf einer Liege lang austrecken sollte. Seine Schuhe und seine warme Jacke wurden in einen großen Plastikbeutel gepackt und am Fußende der Liege deponiert. In seine linke Ellenbogenbeuge wurde eine Nadel gestochen und befestigt. Das geschah alles ganz unaufgeregt und nach einem tausendfach erprobten Ritual.

Die Marga musste derweil in sichtlicher Sorge zurück bleiben. Von nun ab überschlugen sich die Ereignisse. Kurze Zeit nach einer Blutentnahme betrat ein grün gewandeter Arzt den Raum, Peter tippte auf eine Herkunft irgendwo aus Asien. Indien oder Pakistan vielleicht. Er teilte Peter mit, dass es sich wohl um einen, wenn auch leichten Herzinfarkt handeln würde. Diese Nachricht traf den Patienten wie ein heimtückischer Überfall aus dem Hinterhalt, wie ein Hieb den man nicht kommen sah und gegen den man keinerlei Abwehrmöglichkeit hatte. Als notorischer Optimist hatte er sich auf der Fahrt ins Krankenhaus die beruhigende Theorie zurechtgelegt, der zufolge sich wohl infolge der wilden Tanzerei ein Wirbel verklemmt hätte, ein Problem, das der Doktor mit einer harmlosen Spritze schnell und problemlos erledigen könnte. An einen Herzinfarkt hatte er nicht im Entferntesten gedacht.

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Die Marga saß derweil im Warteraum der Notaufnahme und rutschte unruhig und nervös auf der unbequemen Bank hin und her. Jetzt war ihr Ehemann schon seit weit mehr als einer Stunde in den Behandlungsräumen verschwunden und sie hatte noch immer keine Nachricht darüber, wie es ihm ging und was eigentlich Sache war. Eine ganze Stunde! War denn kein Arzt verfügbar? Oder war es am Ende sogar so ernst, dass die Behandlung aufgrund der Schwere des Falls so lange dauern musste? Die Ungewissheit machte ihr sehr zu schaffen. Alle möglichen und mit zunehmender Wartezeit auch unmöglichen Vorstellungen schossen durch ihr Gehirn. Er wird doch nicht … Um Gottes Willen! Nein, dann hätte sie doch erst recht schon Bescheid bekommen. Nein, es würde sicherlich nichts Schlimmes sein. Das durfte es auch gar nicht. Sie brauchte ihren Peter doch noch länger.

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Der wurde inzwischen mit Medikamenten versorgt. Zu allererst hatte man ihm etwas gegen seine Schmerzen gegeben und nach gesicherter Diagnose auch blutverdünnende Mittel. Nachdem die akute Gefahr offenbar beseitigt war und nach Abschluss der Notfallmaßnahmen wurde er auf ein Zimmer gebracht, wo er erstmals wieder mit seiner Marga sprechen konnte. Sie hatte sich natürlich immense Sorgen gemacht, die mit jeder Minute, die sie ohne Information im Wartezimmer der Notaufnahme verbracht hatte, noch an Stärke zugenommen hatten. Auch noch jetzt war sie völlig aus dem Häuschen, ganz im Gegensatz zu Peter, der erstaunlich ruhig wirkte. Er befand sich offenbar in einem gewissen Schockzustand. Ein Schutzmechanismus des Unterbewusstseins verhinderte anscheinend, dass er die volle Tragweite der niederschmetternden Nachricht erkannte und sorgte dafür, dass er sich in seinen Gedanken ausschließlich mit den organisatorischen Konsequenzen seines Zustandes beschäftigte. Was würde die Marga jetzt ohne ihn anfangen? Seltsamerweise machte er sich Sorgen um den Weihnachtsschmuck, die Dekoration des Hauses, die noch nicht einmal halbwegs fertiggestellt war. Und dabei war das Kleinleinsche Anwesen doch immer eines der am schönsten geschmückten im ganzen Ort. Wer sollte jetzt den schweren Nikolaus mitsamt seinem Rentierschlitten auf das Vordach stemmen und befestigen? Wusste die Marga eigentlich wie man, wie man … Über all diesen Nebensächlichkeiten fielen ihm die Augen zu und er dämmerte kurzzeitig weg.

Als er wieder erwachte, hatte sich die Marga erstaunlich verändert. Erst nach einigen Sekunden, die er brauchte um richtig wach zu werden, erkannte er, dass anstelle Margas jetzt eine Ärztin an seinem Bett stand, die ihm verkündete, dass in den nächsten Stunden der Herr Professor eine Herzkatheteruntersuchung bei ihm durchführen würde. Danach würde man weitersehen. Er musste eine ganze Menge Informationsmaterial lesen, von dessen Inhalt er das meiste schon wieder vergessen hatte, als er sein Einverständnis zu dem Eingriff und seinen möglichen Konsequenzen am Ende per Unterschrift auf dem Formblatt erklärte. Ging ja auch gar nicht anders.

Eine Schwester holte ihn samt seinem fahrbaren Bett ab und schob ihn durch ein Labyrinth von Gängen, deren Flügeltüren sich wie von Geisterhand vor ihm öffneten. Schon bald hatte er die Übersicht verloren. Am Ende landete er in einem Operationsraum, der ihn eher an einen Kinosaal als ein Krankenhaus erinnerte und ihm wurde mit einem Schlag klar, warum die Engländer in diesem Fall von einem „Operating Theatre“ sprechen. Monitore überall, eine ganze Wand war vollgepackt damit, über ihm an der Decke hing ein riesiger Apparat, gleich einer metallenen Krake, mit an den Enden der Fangarme befestigten hochkomplizierten medizinischen Geräten, die sich, sobald der Professor mit der Katheteruntersuchung begonnen hatte, im Wechsel von ihn weg und dann erneut auf seine Brust zubewegten. Auf einem der Monitore konnte man nun Peters Brustkorb erkennen, das heißt er konnte es erst, als ihm der Professor die Abbildungen erklärte. Da gab es einen dunklen Fleck, der sein Herz darstellte und in unmittelbarer Umgebung zwei dicke, ebenfalls dunkle Linien von etwa einem halben Zentimeter Durchmesser, dazwischen ein dünner Strich der in etwa die Stärke einer Paketschnur aufwies.

„Sehen sie, Herr Kleinlein“, erklärte der offenbar gut aufgelegte Professor, „das sind die Arterien, die ihr Herz mit Blut versorgen und das da in der Mitte, das ist unser Problem, das ihnen aktuell so zu schaffen macht. Die sollte genauso dick dargestellt werden wie die beiden anderen, ist sie aber nicht, weil sie nahezu völlig verstopft ist. Ich werde ihnen jetzt einen sogenannten Stent einsetzen, der die Ader wieder aufdehnt und voll funktionsfähig macht. Danach sind sie wieder fast wie neu.“

Die sympathische und vor allen völlig entspannte Stimme des Arztes verfehlte ihre Wirkung auf Peter nicht. Er war sich in diesem Moment völlig sicher, dass nun alles wieder ins Lot kommen und er bald wieder ganz hergestellt sein würde. Dass er als Kassenpatient vom Professor persönlich operiert wurde oder war das technisch gesehen gar keine richtige Operation, er wurde ja nicht einmal aufgeschnitten, das verwunderte ihn schon. Später erfuhr er, dass der Professor ohnehin zur Sonntagsvisite im Hause war und man die Gelegenheit genutzt hatte, ihn, Peter Kleinlein, so schnell wie möglich zu versorgen. Der ganze Vorgang dauerte nicht sehr lange, obwohl Peter beim besten Willen keine verlässliche Angabe über die Dauer des Eingriffs hätte machen können. Irgendwie hatte ihn der ganze Vorfall so sehr aus seiner Routine gerissen, dass sein Zeitgefühl doch sehr gelitten hatte. Als der dünne Schlauch, den man ihm auf Hüfthöhe in die Arterie geschoben hatte, wieder entfernt war, zeigte ihm der Professor gut gelaunt ein neues Bild seines „reparierten“ Herzens auf dem Monitor.

„So, jetzt haben wir es geschafft. Schauen sie, da in der Mitte, diese Arterie ist jetzt mindestens genauso durchlässig wie die beiden anderen. Ich würde sagen, der Eingriff ist bestens gelungen. Das Gefäß sieht wieder aus wie eine eins, ach was, eine eins plus.“

Genauso fühlte sich Peter auch. Keine große Operation und anscheinend auch kein großer bleibender Schaden am Herzen. Er war einfach nur froh und glücklich. In diesem Jahr hatte er sein Weihnachtsgeschenk schon etwas früher bekommen. Die Nacht musste er trotz des guten Verlaufs auf der Intensivstation verbringen. Aus dem Weg dorthin hörte er dumpf die beiden Krankenschwestern miteinander sprechen, wie sie über das geeignete Zimmer berieten, während sie sein Bett durch die Gänge schoben.

„Fahr mern am besdn auf die Viererzwanzich. Die Fümferzwanzich hald mer uns in Reserve, falls villeichd doch noch a ernsder Fall reikummd.“

Falls ein ernster Fall hereinkommt. Das relativierte die Vorstellung, die Peter mit dem Begriff Intensivstation bisher verbunden hatte und die, so lange er zurückdenken konnte, immer so etwas wie höchste Alarmstufe vermittelte, zumindest ein wenig. In der jetzigen Situation war alles, was zu seiner Beruhigung beitragen konnte natürlich herzlich willkommen. So auch diese so leicht dahin gesagte Bemerkung, die seinen Fall, zumindest in den Augen der Profis, als weniger kritisch einstufte als er selbst es getan hatte. Der Grad seiner Entspannung erreichte ein neues Niveau. Anscheinend war er noch einmal davon gekommen. Er war dankbar und zufrieden.

Die Nacht verlief ruhig, wenngleich er es als sehr unangenehm empfand, dass er wegen des Druckverbandes, den man zum Verschließen der Einschnittstelle an der Leiste anlegen musste, gezwungen war still zu liegen und man ihm deshalb eine Urinflasche zur Benutzung im Bedarfsfalle an sein Bett gehängt hatte. Ihm war das alles extrem peinlich, auch wenn dies für die Pflegerinnen und Pfleger eine selbstverständliche und alltägliche Routine darstellte. Und nichts trinken, wie er sich das anfangs gedachte hatte, das kam überhaupt nicht in Frage, darauf achtete das Krankenhauspersonal peinlichst genau. Alle halbe Stunde weckte ihn, sofern er doch einmal ein bisschen eingenickt war, ein Brummen zur Linken und das daraufhin folgende Aufpumpen der Blutdruckmanschette. Die Werte, die er auf dem über seinem Bett angebrachten Monitor verfolgen konnte, trugen zu seiner weiteren Beruhigung bei. Alles gut!

Mords-Therapie

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