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Tag 1 : In der Beschränkung zeigt sich der Meister

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Drei Wochen und zwei Tage später früh um 9:11 Uhr entstieg Peter Kleinlein der U-Bahn-Linie 1 und ließ sich von dem kontinuierlichen Strom der Mitreisenden zur Rolltreppe mittreiben, die ihn nach oben zum Busbahnhof Langwasser-Mitte bringen würde. Von hier aus sollte er die Buslinie 56 oder 57 nehmen, so stand es zumindest in der Onlineauskunft des VGN, der Nürnberger Verkehrsbetriebe. Beide würden ihn zum Klinikum-Süd bringen von wo aus es nur noch wenige hundert Meter Fußweg zum Rehazentrums ZFARM sein würden, in dem er die nächsten drei Wochen an seiner Rückkehr ins normale Leben, soweit es das Gesundheitliche betrifft, arbeiten sollte. Und auch wollte.

Peter hatte sofort zugesagt, als ihm die Krankenkasse eine ambulante Rehabilitationsmaßnahme anbot. Die stationäre Variante, die ihm der Sozialdienst des Krankenhauses noch zur Auswahl gestellt hatte - er hatte sogar schon in Abstimmung mit seiner Marga seine Präferenzen für zwei Häuser abgegeben, beide so gelegen, dass ihn die Marga an den Wochenenden hätte besuchen können – die gab es für ihn nun doch nicht. Das gab seine Diagnose nicht her. „Aus den vorliegenden Unterlagen des Klinikum Nürnberg Süd geht leider keine medizinische Notwendigkeit für eine vollstationäre Rehabilitationsmaßnahme hervor. Bei angegebener Indikation ist eine ambulante kardiologische Anschlussrehabilitation medizinisch möglich und ausreichend.“ So hatte es in dem Schreiben seiner Krankenkasse geheißen. Eine reichlich umständliche Umschreibung für „Wir müssen sparen“. Egal. Alles hat seine zwei Seiten, dachte Peter. Dann hatte er wenigstens den Vorteil, dass er die Nächte in seinem eigenen Bett verbringen konnte, ein Vorteil, der speziell in seinem Fall nicht zu unterschätzen war. Fremde Betten und warteten sie auch in noch so landschaftlich reizvoller Umgebung auf ihn, waren bei ihm stets ein Grund für schlechten Schlaf, zumindest die ersten Tage. Das kannte er aus langjähriger Erfahrung in den Urlauben, die ihn und seine Marga schon weit in die Welt hinausgeführt hatten. Und natürlich durfte man die Wochenenden im heimischen Röthenbach inklusive des hervorragenden Essens seiner Frau und den Kontakt mit den Freunden nicht außer Acht lassen.

Und so sah er den kommenden Wochen mit gespannter, aber auch hoffnungsvoller Erwartung entgegen.

„Hauptsach, es werd widder alles goud. Alles andre iss etz erschd amal worschd.“

Das war seine Devise. Mit dieser Einstellung gewappnet setzte sich Peter in den 56-er. Weitere zehn Minuten später marschierte er, in der rechten Hand eine kleine Sporttasche mit Turnschuhen, einem nagelneuen Jogginganzug, Badesachen und einer Menge schriftlicher Unterlagen auf den Eingang des ZFARM-Gebäudes zu. Die Abkürzung ZFARM steht für „Zentrum für ambulante Rehabilitationsmaßnahmen“, mit einer Farm im eigentlichen Sinn des Wortes hat das alles nicht das Geringste zu tun.

Die Tür öffnete sich automatisch und er betrat einen geräumigen Vorraum, in dem sich schon einige Patienten in legerer Freizeit- oder Sportkleidung in bequemen Sesseln sitzend die Zeit vertrieben, offenbar auf weitere Anwendungen wartend, mit Tassen oder Gläsern in den Händen. Hier befand sich auch die Rezeption, wo Peter sich ordnungsgemäß anmeldete. Eine der freundlichen Damen kümmerte sich sofort um ihn und wies ihn umgehend in die Gepflogenheiten des Hauses ein. Eine seiner ersten Tätigkeiten in seinem neuen Umfeld bestand überraschenderweise im Aussuchen der Mahlzeiten, die er in den kommenden drei Wochen im Speiseraum der ZFARM einnehmen würde. Immerhin gab es eine Auswahl aus jeweils drei Menus, die alle drei Vs komplett abdeckten: Völlerei, Vollkost, Vegetarisch. Das fing doch schon einmal ganz gut an. Wie sich bald herausstellte, sollte es allerdings mit der Völlerei nichts werden.

Schließlich erhielt Peter einen kleinen Schlüssel, der zusammen mit einer runden Plakette, in die die Zahl 97 eingraviert war, an einem kleinen metallenen Ring hing. Dieser würde im Umkleideraum für Herren zu einem Schrank passen, in dem er seine Straßenkleidung und seine Wertsachen tagsüber unterbringen konnte, sobald er sich umgezogen, das heißt seinen Jogginganzug und die Turnschuhe angelegt hatte. So hatte es ihm zumindest die fürsorgliche Dame vom Empfang erklärt. Was er allerdings bald schmerzlich vermisste, das war eine Gebrauchsanweisung für den so genannten Spind. Es gab keinerlei Hinweis auf einen wie auch immer gearteten Zaubertrick, den er zweifellos benötigt hätte, um seine Sachen in dem mikroskopisch kleinen Fach unterzubringen, das sich hinter dem Schloss mit der Nummer 97 verbarg. Peter fragte sich automatisch, wo das Wort Spind wohl seinen Ursprung haben mochte. Konnte es tatsächlich mit dem Begriff spindeldürr in Zusammenhang stehen?

„Scho eher wäi nedd“, dachte er, denn das Gebilde, das ihm als solcher zugewiesen war, glich eher einer in die Länge gezogenen Zigarrenkiste als einem Schrank, den er bis dato immer mit dem Wörtchen Spind verbunden hatte. Eine Blockflöte könnte man hier gerade so unterbringen, dachte Peter und er musste unweigerlich an seine Marga denken, als er vor diesem Wunderwerk der Miniaturtechnik stand. Der Platz würde nicht einmal für ihre Handtasche reichen, vielleicht für die schmale Ausgehtasche, gerade mal so. Nun gut, die oberen zwanzig Zentimeter der Röhre waren immerhin doppelt so breit wie der untere, maximal zehn Zentimeter breite längliche Spalt, der den Hauptteil der Kleiderablage ausmachte. Dadurch begünstigt gelang es ihm, nachdem er seine Hose an dem an der Decke befestigten Haken aufgehängt, diese dann hineingedrückt, sowie seine wattierte Winterjacke mit beiden Händen hinterhergequetscht hatte, auch noch sein Hemd und seinen warmen Wollpullover mit dem Norwegermuster auf dem verbleibenden kleinen oberen Absatz unterzubringen. Das Hemd ordentlich zusammenlegen zu wollen war illusorisch. Die sorgfältige Bügelfalte an den beiden Ärmeln, der Bruch, auf den Marga immer größten Wert legte, konnte man bei all den Knittern, die sich nach Sekunden vergeblicher Versuche eingestellt hatten, schon nicht mehr erkennen. So wie sein Hemd jetzt aussah würde sie ihm nie im Leben glauben, dass er tatsächlich wenigstens zehn Minuten mit angestrengtem Überlegen darüber verbracht hatte, wie er dieses Malheur und die unweigerlich damit verbundenen Vorhaltungen zuhause vermeiden könnte. Irgendwie musste er aber weiterkommen. Also nun noch die Handschuhe und die Mütze in eine kleine Ritze hineindrücken, die Schuhe und Strümpfe mussten notgedrungen auf dem Fußboden unter dem Schrank abgestellt werden. Vielleicht auch besser so. Die Kleidung musste nicht auch noch zusätzlich nach Fußschweiß riechen. Schließlich hatte er auch nicht gerade das Bedürfnis auf dem Rückweg nachhause in der sicher wieder randvollen U-Bahn geruchstechnisch negativ aufzufallen. Alles fertig. Gottseidank!

Peter wollte sich gerade mit seinem gelben Behandlungsplan in der Hand auf den Weg zur Erstuntersuchung machen, da fiel sein Blick auf die kleine Reisetasche, die immer noch, zwar nun leer, aber leider noch unaufgeräumt auf einem kleinen Hocker neben dem Heizkörper stand. Er hatte bereits endgültig Abstand von dem Gedanken genommen, ohne Verluste aus der Nummer herauszukommen und so faltete er sie in einem Anflug von Fatalismus einfach so gut wie möglich zusammen und presste sie, die Jacke einem finalen Zerreißtest unterziehend, neben diese in die längliche Abteilung des Dings, das im Folgenden der Einfachheit halber, obwohl irreführend, als Spind bezeichnet werden soll.

Endlich hatte er die Tür des Spinds zugebracht und konnte sich auf den Weg zu seiner ersten Station machen, „vor Zimmer 25, Erstaufnahme“ stand auf seinem Plan. Also setzte er sich pflichtgemäß auf einen der freien Stühle vor dem angegebenen Raum und wartete darauf aufgerufen zu werden. Er war ganz in Gedanken versunken und hatte den Blick vor sich auf den Boden gerichtet, als ihn eine entfernt bekannte Stimme von der Seite ansprach.

„Kennscht mi wohl gar nimmer?“

Er drehte sich überrascht nach dem Sprecher um und traute seinen Augen nicht. Neben ihm saß, ebenfalls in einen Trainingsanzug gewandet sein alter Kollege aus aktiven Zeiten, der Bäumler Werner und grinste ihn verschwörerisch an.

„Was machsdn du da? Sportverletzung oder was?“

Komisch, dass niemand einen Herzinfarkt bei ihm vermutete, andererseits freute es ihn innerlich auch, dass man es ihm offensichtlich nicht ansah.

„Naa, ich hobb an Herzinfargd ghabd, kann schlimmer, abber immerhin. Abber a Infargd iss a Infargd, hodd der Doggder im Granggnhaus immer gsachd, worschd wäi arch, aweng woss gäihd dabei immer kabudd. Naja, mir wern scho seeng“, antwortete der überraschte Peter. „Und du, woss machsd du dou?“

„Ich hab au scho wieder an Herzinfarkt ghabt, mei zwoidr“, berichtete Werner. An seiner Aussprache war trotz langjähriger Tätigkeit in Nürnberg noch immer der bayerische Schwabe erkennbar. Und so entwickelten sich ein munterer Erfahrungsaustausch bezüglich der aktuellen gesundheitlichen Situation, sowie höfliche Nachfragen nach den häuslichen Verhältnissen des jeweiligen Ex-Kollegen. Unterbrochen wurden die beiden erst von der Krankenschwester, die Peter zur Aufnahmeuntersuchung ins Zimmer hereinrief. Ihm blieb nur noch ein kurzes „Bis dann. Mir seeng uns wahrscheinli nu öfder etz!“ bevor er sich der neuen Situation zuwandte. Er wurde nach seinen persönlichen Daten gefragt, nach Größe und Gewicht, aber auch nach seinen Hobbies.

„Schafkobfn, Radfahrn und …“

Er zögerte einen Moment während er überlegte ob er seine zweifellos vorhandenen Erfolge als Hobbydetektiv ebenfalls angeben sollte und entschied sich erst einmal dagegen. Erstens ist es ihm generell eher peinlich, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen und zum anderen handelte es sich dabei ja genau genommen gar nicht um ein richtiges Hobby. Seiner Meinung nach wurde er bisher immer nur unfreiwillig und infolge ungünstiger Umstände dazu gedrängt sich in Nachforschungen einzumischen beziehungsweise erst selbst welche aufzunehmen, weil die eigentlich zuständigen Stellen bei der Polizei entweder gar nicht oder in die völlig falsche Richtung ermittelten, jedenfalls aus Peters Sicht. Seine Ehefrau Marga sah die Sache natürlich völlig anders. Für sie hätte er sich durchaus das eine oder andere Mal heraushalten können und es war nur seiner übermäßigen Neugierde und auch ein wenig der Tatsache zuzuschreiben, dass er seit seinem Eintritt in den Ruhestand einfach zu viel Zeit übrig hatte, so dass er seine Nase immer wieder in allerlei Angelegenheiten steckte, die ihn ihrer Meinung nach partout nichts angingen. Doch wie es auch sei, bisher hatte er noch immer Recht behalten, sehr zum Verdruss von Kriminalhauptkommissar Schindler und seinem Assistenten Heinz Havranek, mit denen er sich regelmäßig eine Art Wettrennen bei der Aufklärung der unterschiedlichsten Fälle geliefert hatte. Doch das gehörte nicht hierher und so fügte er abschließend hinzu:

„Ähh, naa, dess wars dann scho, Gardnarbeid villeichd nu, wenigsdns im Summer.“

Seit er den Infarkt erlitten hatte, verspürte er das ständig wiederkehrende Bedürfnis, sich für seine bisherige Lebensführung zu rechtfertigen. Nicht dass er zu sehr in Ausschweifung und ohne jegliche sportliche Betätigung gelebt hätte. Das nicht gerade, aber die Erwähnung von Bewegung in gesunder Luft schien ihm trotzdem wichtig. Er wollte nicht, dass man glaubte, er hätte seine Situation fahrlässig selbst herbeigeführt.

Die freundliche Schwester hatte auch gar nicht die Absicht, ihn auf der Stelle über eine gesundere Lebensführung aufzuklären. Das würde wohl später noch auf ihn zukommen. So viel wusste er schon von Freunden, die wegen ähnlicher Probleme schon einmal eine Kur absolviert hatten. Im Gegenteil, die Schwester ging überraschend auf ihn ein und begann ein richtiggehendes Fachgespräch über das Schafkopfspiel im Allgemeinen und seine diversen Spielvarianten im Besonderen. Peter begann sich zu entspannen und er erzählte von seinen wöchentlichen Runden zusammen mit den Freunden, dem Metzgermeister Simon Bräunlein, sowie dem Besitzer des Röthenbacher Friseursalons Lothar Schwarm und dessen Lebensgefährtin Maria Leimer, die dieser vor wenigen Jahren auf der legendären Ägyptenreise kennengelernt hatte und die seither den Salon Schwarm um eine kleine, aber feine Kosmetikabteilung und den Lothar selbst, einen Witwer, um eine neue Liebe bereicherte. Man kam schnell vom Hundersten ins Tausendste, so dass die nette Schwester resolut Peters Redefluss beenden musste. Insgesamt war nur eine halbe Stunde für das Aufnahmegespräch eingeplant und man musste sehen, dass man in der eigentlichen Sache weiter kam.

Als nächstes folgte der Gang auf die unbestechliche Waage, die rücksichtslos Peters wahres Gewicht präsentierte, welches um gut ein Kilo höher lag als das, was die Personenwaage vor seinem Infarkt zuhause im heimischen Badezimmer angezeigt hatte. Ein Kilo mehr! Und das, obwohl er angesichts seiner Erkrankung spontan beschlossen hatte mehr auf sein Gewicht zu achten und glaubte, sowohl unterstützt durch die spärlichen Portionen im Krankenhaus, als auch die seither angeleierten eigenen Diätbemühungen immerhin fast drei Kilo abgenommen zu haben. Also hatte er nach Adam Riese bisher schon immer fast vier Kilo mehr gehabt als gedacht, vorausgesetzt die Klinikwaage ging richtig, wovon leider auszugehen war. Andererseits, jetzt hatte er ja auch die schweren Sportschuhe an, immerhin Größe 47, das darf man nicht unterschätzen und die Armbanduhr und die Brille auf und hatte er nicht vorhin noch ein Glas Wasser getrunken? „Naja, dann bassds ja widder“ versuchte er sich innerlich zu rechtfertigen und beschloss auf eine weitere detaillierte Nachrechnung zu verzichten. Nicht noch eine Baustelle, es reichte auch schon so und gute Vorsätze hatte er ja.

Zuletzt wurde er der leitenden Kardiologin vorgestellt. Dann musste er ein Ergometerfahrrad besteigen, mit dessen Hilfe seine gegenwärtige Leistungsfähigkeit getestet wurde. Von den Messergebnissen würde die Trainingsintensität in den folgenden Wochen abhängen. Natürlich durfte er sich nicht gleich wieder zu hundert Prozent belasten. Aber es sah gut aus. Die Ärztin fragte ihn nach seinen sportlichen Aktivitäten, insbesondere ob er sich denn zuhause auch mit Radfahren fit halten würde. Die Messergebnisse waren offenbar gut, was sie auf sein zustimmendes Nicken hin auch bestätigte. Gleichzeitig wurde der Blutdruck gemessen, ein EKG unter Belastung mitgeschrieben und von Zeit zu Zeit über eine Blutentnahme am Ohrläppchen der Laktatwert ermittelt. Fast wie bei den Medizinchecks, welche potentielle Neuzugänge bei den Profis des 1.FCN obligatorisch über sich ergehen lassen mussten, dachte Peter. Unterschreiben musste er danach auch, allerdings keinen hochdotierten Vertrag als Profifußballer, sondern eine ganze Reihe von Formularen, in denen er bestätigte, dass er über die Abläufe während der Reha aufgeklärt wurde. Unter Anderem auch darüber, dass er für drei Monate kein Kraftfahrzeug mehr führen durfte, wenn er im Schadensfall nicht riskieren wollte eine Teil-, wenn nicht sogar die Hauptschuld wegen Missachtung seiner gesundheitlichen Einschränkungen zugewiesen zu bekommen. Das war ihm neu. Im Krankenhaus hatte mit ihm niemand über dieses Thema gesprochen und seither waren immerhin schon drei Wochen und einige hundert gefahrene Autokilometer ins Land gegangen.

Aufgrund der Tests und der Besprechungen sollte ein auf Peters gesundheitliche Situation abgestimmter Fahrplan für die kommenden drei Wochen erstellt werden. Den sollte er am nächsten Morgen zusammen mit seinem gelben Hefter ausgehändigt bekommen, wenn er sich am Empfang für einen weiteren Reha-Tag anmelden würde. Für heute aber war der anstrengende Teil der Therapie bereits beendet. Es folgte nur noch ein warmes Fußbad während dessen er doch glatt einschlief und erst wieder erwachte, als ihn die Physiotherapeutin sanft an der Schulter rüttelte.

„Aufwachen! Feierabend!“

Mords-Therapie

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