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Der arabische Patient

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Am frühen Morgen, für die anderen Patienten gab es gerade Frühstück, durfte er bereits zurück auf sein „altes“ Zimmer. Er hatte in der Zwischenzeit einen Zimmergenossen bekommen. Auf dem Bett gegenüber saß, auf der Bettkante balancierend ein älterer Herr mit unheimlich traurigen Augen, schneeweißem, sauber gestutzten Dreitagebart und einem Haarschnitt, der ihn zusammen mit seiner markanten, fleischigen Nase und den typischen Gesichtszügen in Peters Augen eindeutig als Orientalen auswies. Er tippte auf den Nahen Osten oder eventuell Nordafrika. Der Mann verzog sein leidendes Gesicht zu einem freundlichen Grinsen, wandte sich dann aber gleich wieder ab. Er schien etwas scheu zu sein. Vielleicht hatte er ja auch Schwierigkeiten, sich in Deutsch auszudrücken. Das war wenigstens Peters erster Eindruck.

Im Moment war ihm dies ganz recht, denn er war verständlicherweise rechtschaffen müde. Immerhin hatte er seit Samstagfrüh keine Minute mehr geschlafen. Den Tag über hatte es zuhause genug zu tun gegeben, am Abend waren sie dann zur Geburtstagfeier aufgebrochen, hatten die ganze Nacht durchgefeiert und dann kam die aufregende Zeit in der Notaufnahme, gefolgt vom Eingriff mit dem Herzkatheter, und einer weiteren durchwachten Nacht auf der Intensivstation. Peter war daher gänzlich ermattet und fiel, obwohl völlig überdreht, in einen unruhigen Schlaf. Als er wieder aufwachte, wurde gerade das Mittagessen gebracht. Die Pflegerin fragte ihn, ob er am Tisch oder auf seinem Bett sitzend essen wolle. Er entschied sich für den Tisch. Es ging ihm gut genug und er wollte so bald wie möglich zur Normalität zurückkehren. So kam es, dass er seinem Zimmerpartner, Anwar al-Hamadi, wie er später mittels eines interessierten Blicks auf das Namenschild an gegenüberliegenden Bett feststellte, erstmals aus nächster Nähe in die auffällig traurigen Augen blickte. Sie verständigten sich mit Gesten und den wenigen deutschen Worten, die al-Hamadi beherrschte, wobei das Wort beherrschte bereits eine Übertreibung darstellte. Wahrscheinlich war er noch ganz neu in Deutschland, vielleicht sogar einer der vielen hunderttausenden von Flüchtlingen, die gegenwärtig Deutschland auf der Flucht vor Terror und Krieg in ihren Heimatländern buchstäblich überfluteten. Dass er gläubiger Moslem war, wurde sehr schnell klar, als er, mit dem Finger auf sein Fleisch deutend das Wort „Schwein?“ radebrechte. Peter war sich eigentlich ganz sicher, dass es sich um ein Putenschnitzel handelte, denn er hatte das gleiche Menu auf seinem Teller liegen, wollte aber sicher gehen, dass er sein Gegenüber nicht in einen Gewissenskonflikt stürzte und stand auf, um sich vorsichtshalber bei den Schwestern zu erkundigen. Auf seine entsprechende Frage antwortete die Schwester freundlicher, als Peter aufgrund der unwillkommenen Störung erwartet hätte:

„Der Herr al-Hamadi? Der hat, so viel ich weiß, Putenfleisch bestellt. Dann ist es sicher auch Pute.“

Peter dankte und machte sich auf den kurzen Weg zurück. Die Schwester schaute verwundert hinterher. Was das wohl für einer war, der gleich, kaum dass er sich wieder einigermaßen auf den Beinen halten konnte, den Dolmetscher und Betreuer seines Mitpatienten spielte? Zurück im Zimmer gab Peter dem Leidensgefährten die gewünschte Auskunft. In Englisch zunächst. Turkey. Wobei er bei der bewährten Kommunikationsmethode blieb und mit ausgestrecktem Zeigefinger auf das inzwischen kalte Schnitzel deutete, damit es kein sprachliches Missverständnis gab, denn Turkey bedeutet im Englischen auch Türkei. Nicht dass der Mann glaubte er wolle wissen, ob er aus der Türkei stamme und noch dazu, dass Peter ein neugieriger Mensch wäre. Wieder dieses bemühte, aufgesetzte Lächeln. Gegessen hat er das Fleisch dann doch nicht. Vielleicht hatte er Angst, dass zwar das Fleisch von der Pute stammte, die Soße aber doch aus Schwein hergestellt wurde oder dass sie wenigstens mit Speck angereichert war. Ein Problem, das Peter aus seiner früheren Firma sehr gut kannte, wo es regelmäßig mit dem Kantinenkoch Krach gab, nur weil das vermeintlich moslemisch unbedenkliche Essen in einem Behälter erwärmt wurde, der irgendwann schon einmal das verbotene Schweinefleisch enthalten hatte. Tatsächlich aß der Mann lediglich den trockenen Reis. Wie konnte er nur damit auskommen, wo Peter selbst nachdem er alles aufgegessen hatte, immer noch einen heftig nagenden Hunger verspürte. Doch in dieser Hinsicht sollte es bald Aufklärung geben.

Kurz nach dem Essen erschien eine mit Ausnahme des obligatorischen Kopftuchs durchaus europäisch gekleidete Frau um die Fünfzig, offenbar die Ehefrau des Mannes und brachte in einem blank polierten Kochgeschirr eine hausgemachte Mahlzeit, über die sich der Hungrige dann auch sofort eifrig hermachte. Mit seiner ausgestreckten Handfläche deutete er auf den Topf und lud Peter auf diese Weise offensichtlich ein, mitzuessen, was dieser jedoch dankend ablehnte. Zumal er nicht sicher war, ob die Geste nicht nur der im Orient häufig anzutreffenden Gastfreundschaft geschuldet war, einer traditionellen Formalie, die vielleicht gar nicht wortwörtlich genommen werden durfte. Wie wenig er eigentlich über diese Dinge wusste, ob wohl ihn dieser Teil der Welt schon immer fasziniert hatte. Allein Ägypten hatten er und seine Marga immerhin schon drei Mal und zuletzt noch einmal mit den Röthenbacher Freunden im Rahmen einer Bildungsreise besucht. Die paar Brocken, die er sich damals angeeignet hatte, um etwa ein Essen bestellen und um zudringliche Bakschischjäger abweisen zu können, reichten natürlich nicht aus, um dem Gespräch folgen zu können, waren jedoch gut genug um zu erkennen, dass die Eheleute miteinander arabisch sprachen. Ein krächzender Kehllaut jagte den anderen. Einige Worte erkannte er sogar ganz deutlich, so dass er sicher sein konnte. Aiwa, aiwa. Ja, ja. Die Ehefrau schien genaue Anweisungen zu bekommen, was daheim im Sinne des Hausherrn erledigt werden musste. Immerhin kam von ihm zwischendurch auch einmal ein kehliges Schukran, wenn auch bedeutend seltener, was danke bedeutete und zu Peters touristischem Minimalwortschatz gehörte.

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Nachmittags erschien erneut Besuch. Vier Männer auf einmal, alle viel jünger als al-Hamadi, durch die Bank bärtig und der arabischen Sprache mächtig. Mächtig vor allem in Bezug auf die Lautstärke, mit der sie ihre Unterhaltung führten, aber auch die ausladende Gestik betreffend, die Peter mehr an das Feilschen in einem orientalischen Souk erinnerte als an einen Krankenbesuch. Alle Neuankömmlinge begrüßten den Patienten mit mehreren Küssen auf beide stachligen Wangen, einer drückte sogar seine Lippen auf dessen Hände. Peter fühlte sich an eine Audienz beim Papst oder einem exotischen Würdenträger erinnert. Anscheinend nahm sein Mitpatient in den Augen seiner Besucher eine besondere Stellung ein. Ob es sich wohl um seine Söhne handelte? Ihm selbst war die Lautstärke egal, fast schon willkommen nach der Funkstille, die durch die mangelnden Deutschkenntnisse seines Gegenübers bedingt, die meiste Zeit herrschte. Er schloss seine Augen und versuchte ein wenig zu entspannen. Der Schlafmangel der letzten Tage war lange noch nicht kompensiert.

Nur dunkel bekam er etwas von dem Gespräch mit, das nur wenige Meter von ihm entfernt stattfand. Es würde gekrächzt und die Vokale nahezu gesungen, natürlich ohne dass Peter etwas verstehen konnte. Dieses für ihn eher monotone Klangmuster aber verhalf ihm trotz der ungewohnten Lautstärke tatsächlich dazu etwas einzunicken. Nur entfernt und sehr gedämpft hörte er ab und zu deutsche Städtenamen. Heilbronn, Stuttgart, Augsburg, Schwabach, wobei letzterer geradezu für die arabische Sprache gemacht zu sein schien, die bei Peter den Eindruck erweckte, als sei sie ausschließlich aus einer Vielzahl stark betonter Rachenlaute zusammengesetzt. Bach ach ach. Ob die Besucher wohl Grüße von Verwandten ausrichteten?

Peter fiel nun endgültig seinem Schlafmangel zum Opfer. Wach wurde er erst wieder, als der Stationsarzt im Eiltempo und mit einem Klemmbrett in der rechten Hand das Krankenzimmer betrat und die Unterhaltung am Bett gegenüber jäh unterbrach. Er versuchte dem arabischen Patienten wortreich die weiteren Behandlungspläne, die man aufgrund der Resultate eines ausgiebigen Bluttests für notwendig erachtete, näher zu bringen, was an den mangelnden sprachlichen Gemeinsamkeiten zu scheitern schien. Einer der vier Besucher verstand offenbar genug Deutsch, konnte aber mit den medizinischen Fachbegriffen nichts anfangen, so dass die Fragezeichen auf dem Gesicht al-Hamadis von Sekunde zu Sekunde mehr über Hand nahmen. Ein letzter Versuch des Arztes bestand in dem unzusammenhängenden Satz

„Thrombozyten zu viel, too much, verstehen sie?“

Danach schien er sich geschlagen zu geben und wollte sich schulterzuckend auf den Rückzug begeben. Da kam plötzlich Bewegung in die Männergruppe. Ein bemerkenswerter Anstieg der Lautstärke, ausgelöst durch gleichzeitig geäußerte erregte Gesprächsfetzen, die andernorts unweigerlich auf einen beginnenden Streit hätten schließen lassen, die aber hier nach wenigen Sekunden in einer allgemeinen Übereinstimmung endeten, die ihren Ausdruck in dem mehrfach wiederholten freudigen Ausruf „al-Saadi“ fand.

„Al-Saadi“, wiederholte auch der über das ganze Gesicht strahlende kranke Patriarch erleichtert und kramte sogleich ein supermodernes Handy aus seinem Schrank, worauf er mit einem einzigen Tastendruck die Anwahl einer scheinbar häufig benutzten Nummer auslöste.

„Da schau her“, staunte Peter, „dess häddi mer etz abber aa nedd denkd. Ä Smartphone, Reschbeggd! Und ich hobb nern für an verirrdn Ziegnhirtn ghaldn.“

Es stellte sich sogleich heraus, dass der besagte Herr al-Saadi Ägypter, ein Landsmann al-Hamadis und zugleich der Arzt seines Vertrauen war, der natürlich sowohl die deutsche Sprache, als auch die medizinischen Fachausdrücke aus dem Effeff beherrschte. So wurde aus der illustren Männerrunde im Nu eine Telefonkonferenz, wobei der hinzugezogene Arzt dem Patienten simultan zu den Erklärungen des Stationsarztes seine Übersetzung nebst persönlicher Empfehlung lieferte.

Die ganze Szene ließ Peter seine bisherige Einschätzung seines Gegenübers spontan überdenken. Hier schien es sich keineswegs um einen der vielen mittellosen Flüchtlinge zu handeln. Der Mann hatte immerhin einen Hausarzt, den er zu jeder möglichen und wie ein Blick auf seine Armbanduhr verriet, auch unmöglichen Zeit so einfach anrufen konnte und der daraufhin sofort zur Verfügung stand. Peter war sich sicher, dass das mit seinem eigenen Hausarzt, dem Doktor Eichberger, bei dem er schon jahrzehntelang Patient war, nicht so ohne weiteres möglich gewesen wäre. Interessant. Al-Hamadi entwickelte sich immer mehr zu einer schillernden Figur.

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Gegen Abend endlich kam auch die Marga wieder vorbei. Schwer schnaufend, als ob sie von einer ausgedehnten Einkaufstour ins vorvorweihnachtliche Nürnberg nach Hause zurückkehren würde. In beiden Händen hielt sie jeweils eine prallvolle Tasche und schnaufte dem zu Folge heftig wie nach einem olympischen Marathonlauf.

„Horch amal, hosd denn du den ganzn Haushald miedgschlebbd?“, fragte Peter staunend.

„Quadsch, dess iss doch nedd alles für dich. Dee aane Daschn hobbi doch brauchd, walli glei bei der Gelegnheid in die Stadt ganger bin und aweng nach Weihnachdsgschengge gschaud hobb. Etz kommer grad nu nei, wennsd erschd kummsd wenn alle kummer, dann derdreedns di doch in die Kaufheiser. Und wenn nou erschd der Christkindlersmarkd ohganger iss, dann konnsd doch scho gor nimmer hie.“

Peter nahm es pflichtgetreu nickend zur Kenntnis. Immer praktisch, seine Marga.

Die andere, minimal kleinere Tasche enthielt tatsächlich eine Reihe für Peter bestimmte Gegenstände, die er, wie ihm Marga ausführlich erklärte, dringend für seinen Krankenhausaufenthalt brauchen würde. Ein nagelneuer Schlafanzug, den er zuvor noch nie gesehen hatte, die Ladegeräte für sein Handy und den Kindle, Rasierzeug, genug Duschgel, Schampoo, Rasierwasser, Waschlappen, Deo für einen mehrmonatigen Aufenthalt in einer weltabgeschiedenen Gegend, wo es nichts zu kaufen gab, noch dazu in einer Menge, mit der er problemlos die gesamte Kardiologie hätte versorgen können. Dazu seine Hausschlappen, ebenfalls ein neues Paar. Die alten waren an einigen Stellen schon sehr fadenscheinig und an Weihnachten hätte er sowieso welche bekommen, dann einen langflorigen Bademantel, in dem er wie ein Eisbär aussehen würde, weiß mit dunkelgrauen, eingewirkten Fäden. Ebenfalls neu. Fünf Rätselzeitungen, einen Stift, die heutige Tageszeitung, seinen Kindle, der immerhin zirka einhundert Kriminalromane enthielt, sowie sämtliche Harry-Potter-Bände, damit es ihm in den Behandlungspausen nicht langweilig werden würde. Eine graue Jeans, dazu ein kariertes Hemd und einen warmen Pullover legte sie auf sein Nachtschränkchen, außerdem ein paar frische Strümpfe. Zuletzt förderte Marga noch eine Großpackung Lebkuchen vom Hufnagel, dem Röthenbacher Dorfbäcker, einen Apfel und drei Mandarinen zutage. Vitamine waren jetzt sicher sehr wichtig.

„Woss maansdn du, wäi lang ich dou herinner bleim soll? Der Doggder hodd gsachd, wenn alles gladd gäihd, dann konni in zwaa odder drei Dooch scho wieder hamm. Und wo sollin dess alles underbringer? Horch amal, so vill Bladds iss dou fei nedd.“

Er machte tatsächlich einen total überforderten Eindruck.

„Gibb mer dein Anzuuch mied und des weiße Hemmerd. Des wasch i dann glei und bring die Hoosn und die Jaggn in die Reinichung. Dess schdinkd doch alles beschdimmd furchtbar nach dem abgschdandner Rauch und dem Essn von der Feier. Horch amal, dee Elfriede hodd der villeichd widder qualmd. Wenn dee an Herzkaschber grichd hädd, dou hädd mer sich ja nedd wundern braung, abber du. Wäi gäihds der denn heid überhaubd?“ Und ohne groß Luft zu holen fuhr sie nahtlos und ohne auf eine Antwort zu warten fort:

„Ach übrigns, bevor is vergess. An schäiner Gruß von der Gisela und in Simon und du sollsd der nedd eiredn lassn, dass Brodwärschd nedd gsund wärn und der Lodaah wünschd der aa a goude Besserung und die Maria nadürli aa.“

Und nach einem kurzen Verschnaufer legte sie nach:

„Also, woss iss etz. Ich hobb di doch gefraachd, wäis der heid gäihd. Also, dir mou mer wergli scho alles aus der Noosn rauszäihng.“

„Bassd scho“, antwortete Peter ungerührt. „Wäi gsachd, der Doggder maand, dass alles soweid in Ordnung iss und dassi noch amal ganz schee Glück ghabd hobb. Abber auf a Reha müsserdi scho, drei Wochn.“

Als die Marga gegen 19 Uhr gegangen war, nicht ohne ihm noch einmal, begleitet von einem besorgten Blick über die Wange zu streichen, versuchte Peter den Inhalt der riesigen Tasche in dem schmalen Kleiderschrank unterzubringen, der unweit seines Bettes stand, was aufgrund der Menge an Gegenständen und Kleidungsstücken ein echtes Problem wurde, allerdings in keinster Weise mit der Herausforderung in Konkurrenz treten konnte, die ihm diesbezüglich auf der Reha bevorstand. Doch davon wusste er glücklicherweise noch nichts.

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Der nächste Morgen brachte zeitgleich mit dem Frühstück einen weiteren Zuwachs für das eigentlich für vier Personen ausgelegte Zimmer. Der Neue, ein Mann mittleren Alters, der äußerlich keinerlei Krankheit erkennen ließ, stand mit einer Reisetasche in der Hand und in Begleitung einer der Frühschichtschwestern in der Tür. Ein Notfall war das sicher nicht. Er erhielt das Bett rechts neben Peter zugewiesen und begann sich gleich häuslich einzurichten, so gut es unter den gegebenen Umständen eben ging. Wie sich bald herausstellte, war er gekommen, um einen seit Längerem geplanten Eingriff am Herzen vornehmen zu lassen. Ganz im Gegensatz zu dem arabischen Patienten war er ein ausgesprochen kommunikativer Typ. Ganze Sätze, Worte, immer häufiger aber auch nur Worthülsen schwirrten nur so durch die Luft. Vornehmlich in eine Richtung. Und so lernte Peter in kürzester Zeit mehr über das weite Feld der Kardiologie, als er in allen bisherigen Arztgesprächen zusammen erfahren hatte. Und was der Neue nicht von sich aus wusste, das recherchierte er augenblicklich mithilfe seines silbrig schimmernden Laptops. Mit der Ruhe in Zimmer 577 war es schlagartig vorbei.

Aus diesem Grund war Peter regelrecht dankbar, als sich erneut die Tür auftat und al-Hamadis Söhne oder Freunde, man wusste es immer noch nicht genau, erschienen und unter zahlreichen salam aleikums und Küssen auf stoppelige Wangen eine neue Runde orientalischer Kaffeehausgespräche eröffneten. Diesmal schien es sich um eine Art Krisengipfel zu handeln. Die Lautstärke war noch einmal deutlich höher als am Tag zuvor und der Tonfall bedeutend schneidender, was etwas heißen will, und die Augen rollten erregt hin und her. Hände vollführten schwungvolle Bewegungen, die eher an Übungen aus der rhythmischen Sportgymnastik als ein Gespräch unter Männern erinnerten. Etwas absolut Bemerkenswertes musste passiert sein. Handys wurden eilig gezückt, Konferenzen, mehrere auf einmal, wurden eröffnet. Peter und der Neue schauten fasziniert zu. Plötzlich schien eine Entscheidung gefallen zu sein. Die Besucher griffen nach ihren Jacken und Mänteln und verabschiedeten sich eilig. Al-Hamadi selbst saß in Gedanken versunken an dem quadratischen Essplatz, den die Gruppe wie selbstverständlich als Konferenztisch okkupiert hatte. Schließlich wandte er sich an Peter, den Neuen schien er überhaupt nicht zu beachten.

„Geschäft .. schlecht .. muss schau.“

In nächsten Moment begann er seinen altmodisch blau-weiß-gestreiften Schlafanzug aufzuknöpfen und sein Hemd aus dem Schrank zu holen. In weniger als drei Minuten war er komplett umgezogen. Er schien es eilig zu haben. Jetzt noch den Mantel. Peter staunte nicht schlecht, als der Asylant, für den er al-Hamadi zu Beginn gehalten hatte, in einem totschicken Mantel, mit modisch hochgestelltem Kragen vor sich stehen sah, mit dem er sicher aus all den uniformierten Trägern wattierter schwarzer Jacken in der Stadt herausstechen würde.

„Chommen wieder, chchpäter“, war das letzte was sie ihn rattern hörten, bevor er durch die Tür verschwand.

Stundenlang hatte keiner nach ihm gefragt, aber kaum war der Mann gegangen, kam prompt der Stationsarzt, um das weitere Vorgehen mit dem Ausreißer zu besprechen. Auf seine Frage, wo al-Hamadi denn sei, antwortete Peter neutral.

„Der iss naus ganger, keine Ahnung wohin.“

Petzen kam nicht infrage. Und so richtig gelogen war es ja auch nicht. Wohin er genau gegangen war, wussten die beiden Zurückgebliebenen ja wirklich nicht. Der Arzt schüttelte den Kopf und verließ wortlos den Raum. Die beiden Patienten grinsten sich zu wie ein paar Lausbuben, die ihrem Lehrer einen Streich gespielt hatten.

„Was das wohl für ein Geschäft ist, um das sich unser türkischer Freund kümmern muss?“, fragte der Neue, der eigentlich Jörg Rohrbach hieß, als der er sich dann auch vorstellte. „Irgendwelche Schiebereien, denke ich mal. Würde zu ihm passen.“

„Wie kommersn dou drauf“, entgegnete Peter, der von Vorurteilen nicht viel hielt, in versuchtem Hochdeutsch. Er bemühte sich also etwas deutlicher zu sprechen als üblicherweise, da sein Nachbar offenbar aus der Gegend stammte, wo man das Schriftdeutsch erfunden zu haben glaubte.

„Ich denk ja eher, dasser ein Obsthändler iss oder vielleichd a Andiquidädnhändler, seinem kosdschbielichn Audfidd nach zu schätzn. Er iss nämlich übrigns ka Dürke, sondern villmehr ein Ägybbder. Dou basserdn doch Andiquidädn hunderdbrozendich“, legte Peter sich fest.

Jörg Rohrbach überlegte kurz und räumte ein, dass ein Handel mit Altertümern durchaus denkbar wäre. Die Schiebereien die er bereits gemutmaßt hatte, würden, wie Herr Kleinlein wohl zugeben musste, jedenfalls bestens dazu passen.

„Und die verdächtige Unterhaltung gerade eben mit seinen Kumpanen oder Gehilfen oder was die in Wirklichkeit waren, das passt genau ins Bild. Das Beste ist, wir fragen ihn nachher einfach unverfänglich, dann werden wir ja sehen. Wollen wir wetten?“

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Nach zwei Stunden war der Gegenstand ihrer Spekulationen wieder da. Zufrieden über das ganze Gesicht strahlend, als ob es ihm in der Zwischenzeit gelungen wäre, das Geschäft seines Lebens zu machen. Ausgeglichen und völlig entspannt. Aus einer Plastiktüte zauberte er je einen Apfel, eine Orange und eine Banane für jeden seiner Zimmergenossen hervor. Freundliche Leute, diese Ägypter.

Peter grinste seinem Bettnachbarn verstohlen zu und raunte ihm mit einem Augenzwinkern leise zu: „Eins zu Null für Kleinlein“. Aber so leicht gab der andere nicht auf. Schon griff er nach seinem unvermeidlichen Laptop, den er zwischenzeitlich auf dem Beistelltischchen geparkt hatte und tippte wie wild darauf los. Sein Blick wechselte blitzschnell von gespannter Erwartung bis hin zu einem triumphierenden Grinsen, als er das Display mit dem Ergebnis der Google-Suche in Peters Richtung drehte. Hier stand es schwarz auf weiß.

Internet-Café Al Kahira, Inh. Anwar al-Hamadi, Gostenhofer Hauptstraße, Nürnberg.

„Rohrbach versus Kleinlein, Eins-zu-Null für mich. Was sagen sie jetzt?“

Al-Hamadi hatte von alledem nichts mitbekommen. Er telefonierte bereits wieder mit seinem supermodernen Smartphone.

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