Читать книгу Mords-Wut - Günther Dümler - Страница 6
Wohlauf! Die Luft geht frisch und rein! Wohlauf! Die Luft geht frisch und rein,
wer lange sitzt muss rosten.
Aus „Das Lied der Franken“
ОглавлениеHochwürden Willibald Stiegler saß tief in Gedanken versunken auf der kleinen hölzernen Bank, welche sich eng an die Südseite des Röthenbacher Pfarrhauses schmiegte. Er hatte Mühe, sich auf seine immer noch unvollendete Predigt für den bevorstehenden Pfingstsonntag zu konzentrieren. Immer wieder wurden seine Ideen von lautem Rufen und eiligen Schritten unterbrochen, sowie von einem Geräusch, wie es beim Schleppen schwerer Gegenstände entsteht. Hier, wo er sonst stets eine nahezu himmlische Ruhe vorfand und ihm, wie es ihm vorkam, der Heilige Geist gewissermaßen persönlich die passenden Worte eingab, herrschte im Moment eine hektische Betriebsamkeit und ein geradezu unerträglicher Lärm. „Herr, erbarme Dich!“
Der Herr erbarmte sich nicht. Es wäre auch schwer für ihn geworden, ohne ungerechterweise Partei zu ergreifen, denn genau den gleichen Stoßseufzer hatte vor gar nicht langer Zeit Barbara Reinwald zum Himmel geschickt, jedoch mit einer eher entgegengesetzten Intention. Sie wollte natürlich, dass ihr eigenes Vorhaben so schnell wie möglich vorankam. Am Pfingstmontag, gleich nach der Frühmesse, wollte sie mit ihrer Mädchengruppe in die fränkische Schweiz zum Zeltlager aufbrechen. Daher hatten sie und ihre Mädels nun alle Hände voll zu tun, die erforderlichen Gegenstände vom Dachboden des Gemeindesaals herunter zu schaffen und in den vor dem Pfarrhaus parkenden Kleinlaster zu verladen. Die Aufschrift „Metzgerei Bräunlein, feine Fleisch- und Wurstwaren aus eigener Herstellung“ täuschte ein wenig über den wahren Inhalt des Fahrzeugs hinweg. Das hatte ihnen großzügiger weise der Röthenbacher Metzgermeister, Simon Bräunlein, zur Verfügung gestellt. Statt der Schweinehälften und feinen Wurstwaren, die Simon normalerweise damit transportierte enthielt die Ladefläche nun allerlei Zubehör, das die Mädels für ihren Aufenthalt in der freien Natur benötigten. Doch noch lange nicht alles. Die Mädchen waren voller Vorfreude und schnatterten aufgeregt wie kleine Gänschen wild durcheinander. Und wo die ordnende Hand fehlt, da herrscht bald das absolute Chaos und ständige Zurufe treten an die Stelle sinnvoller Planung und durchdachten Handelns. Bärbel, wie die neue Gemeindereferentin Barbara Reinwald von ihren Mädels gerufen wurde, versuchte immer wieder mit energischer Kommandostimme Ordnung in das Durcheinander zu bringen. Dem Pfarrer wurde es bald zu bunt. Er gab klein bei, seufzte noch einmal vernehmlich und zog sich in sein Arbeitszimmer zurück, um sein Glück bei geschlossenen Fenstern erneut zu versuchen.
„Entschuldigung, wir sind gleich fertig!“, rief ihm Barbara noch hinterher.
Das war allerdings eine allzu optimistische Prognose, wie sich im weiteren Verlauf heraus stellen sollte. Die Heringe, den großen Hordentopf und den Grill hatten sie schnell gefunden und auch schon im Wagen verstaut, das riesige Zwölfmann-, Entschuldigung, Zwölfmädchenzelt war aber einfach zu sperrig und brutal schwer, so dass sich das Heruntertragen vom Dachboden, über die enge, steile Treppe bald als nicht durchführbar herausstellte. Nicht für die zarten Mädels, jedenfalls nicht ohne Kratzer an den erst kürzlich frisch gestrichenen Wänden und schon gar nicht ohne irreparable Schäden an den kunstvoll gestylten Fingernägeln der jungen Damen. Und um junge Damen handelte es sich zweifelsfrei. Sie waren im Schnitt zwischen sechzehn und siebzehn Jahre alt und daher eigentlich keine wirkliche Mädchengruppe mehr, sondern schon eher eine Interessengruppe heranwachsender junger Frauen. Das Attribut „heranwachsend“ darf man allerdings nicht allzu wörtlich nehmen, es galt ganz bestimmt nicht bezüglich des körperlichen Reifezustands. In dieser Hinsicht waren sie alle schon komplett. Der Wachstumsprozess war, wie man auf den ersten Blick erkennen konnte, diesbezüglich mit hervorragendem Erfolg abgeschlossen, was natürlich dem männlichen Teil der Röthenbacher Jugend durchaus nicht entgangen war.
Daher konnte es auch nicht verwundern, dass zwei dieser Burschen in einigem Abstand hinter dem Zaun des Pfarrgartens herum lungerten, anscheinend um angestrengt die aktuelle Entwicklung der Kräuter und Sträucher im Pfarrgarten zu studieren. Heimlich warfen sie von Zeit zu Zeit sehnsüchtige Blicke hinüber zum Ort des Geschehens, immer hoffend, dass man ihrer Mithilfe bedurfte. Endlich war es soweit. Als Barbara sah, dass ihnen mittlerweile die Zeit davonlief, machte sie den Jungs ein einladendes Zeichen während sie ihnen zurief: „Wenn ihr schon einmal da seid, dann könnt ihr euch auch nützlich machen!“
Feixend sahen sich die Beiden an. „Na also, geht doch!“, dachten sie und trabten erfreut los.
Einige der Mädels fingen heimlich an zu grinsen. Zwei von ihnen, Nadine und Lena, warfen sich bedeutsame Blicke zu. Es war nicht zuletzt Lena, weswegen Marc und in seinem Schlepptau Julian überhaupt gekommen waren. Marc und Lena waren seit Monaten schwer in einander verliebt und galten in Lenas Klasse als festes Paar. Ihre beste Freundin Nadine dagegen hatte seit langem ein besitzergreifendes Auge auf Julian geworfen, doch der schien bisher leider noch nichts davon zu bemerken. Die kunstvoll gepinselten pechschwarzen Wimpern waren im Begriff ihr Opfer geradezu aufzuspießen. Ein Entkommen war praktisch nicht mehr möglich! Und wenn er erst einmal realisiert hätte, was für ein Schmuckstück sich da seiner erbarmt hatte, würde er ohne Zweifel nie mehr etwas anderes wollen, als sich in ihrer betörenden Nähe aufzuhalten.
Die Einladung war für die beiden Jungs das Beste, was ihnen passieren konnte. Endlich konnten sie der versammelten weiblichen Dorfjugend im passenden Alter zeigen, was für tolle Kerle sie waren. In kürzester Zeit waren die beiden Gemeinschaftszelte auf die Ladefläche gehievt und die Heckklappe geschlossen.