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Eine Jahrhundertkatastrophe

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Mittwoch, 27. Juni 2018, spätnachmittags

Inzwischen war fast ein Monat vergangen. Auf dem Zeltnerhof schien der Hund verreckt zu sein, wie man in Franken gerne sagt, wenn sich nichts, aber schon rein gar nichts regt. Auf den ersten Blick sah es tatsächlich so aus, als ob diese Redewendung wortwörtlich zu nehmen wäre. Der Harras, von Berufs wegen Hofhund bei den Zeltners, lag faul und teilnahmslos, die mächtige Schnauze flach auf den Boden gepresst, auf dem grob gepflasterten Vorhof des Anwesens. Nur hin und wieder gab er ein schwaches Lebenszeichen von sich. Dann blinzelte er für einen winzigen Augenblick in die Spätnachmittagssonne des angenehm warmen Junitages, so als wollte er wenigstens so tun, als hätte er seine Pflichten als Wächter des Hauses noch nicht ganz vergessen. Eine geradezu unheimliche, fast übernatürliche Stille lag über der Szenerie. Nicht einmal der prachtvolle, ansonsten so stimmgewaltige Hahn auf dem ebenso beachtlich großen Misthaufen gab auch nur einen einzigen Ton von sich. Irgendwie war die ganze Stimmung durch und durch deprimierend.

Dazu passte auch der offensichtlich zutiefst niedergeschlagene Mann, der sich in einer abgewetzten, ehemals schwarzen Hose und einem weißen T-Shirt kraftlos und schlurfenden Schrittes über das Pflaster in Richtung Heuschober bewegte. Sein schleppender Gang erweckte den Eindruck ein schwerer Schicksalsschlag habe ihn an den Rand seiner körperlichen Leistungsfähigkeit gebracht. Was zum Teil auch stimmte. Ein aufmerksamer Betrachter hätte natürlich die schmalen anthrazitgrauen Streifen und das auffällige Emblem auf der Vorderseite des Hemds sofort richtig gedeutet. Wem dies noch nicht gereicht hätte, der hätte spätestens aufgrund der aufgedruckten Zahl 13 und dem Schriftzug Müller auf seinem Rücken Klarheit gehabt. Es handelte sich um ein Originaltrikot der deutschen Fußballnationalmannschaft. Der war ja bekanntlich und das sehr zum Leidwesen des gebeutelten Mannes, seit einigen Jahren das Nationale im Namen und das Fußballerische, vorsichtig ausgedrückt, in ihren Beinen ein wenig abhanden gekommen. Deshalb bezeichneten sie sich selbst auch nur noch als ‚Die Mannschaft‘. Eine Neuerung, die dem vom Kommerz bestimmten Zeitgeist geschuldet war und die dem Zeltnerbauern und um niemand anders handelte es sich bei dem dahin schwankenden Wrack, ganz und gar nicht gefiel. „Keinen Stolz, diese Söldner“, hätte er geschimpft, wenn ihn denn nur einer nach seiner Meinung dazu gefragt hätte. Hatte aber keiner.

Es war wieder einmal Weltmeisterschaft, genauer gesagt Fußball-Weltmeisterschaft, normalerweise eine Spanne von vier Wochen, in der in Deutschland die Ordnung weitgehend auf den Kopf gestellt wird. Mitarbeiter forderten zusätzliche Pausen, um die Spiele am Fernsehen verfolgen zu können, selbst Kabinettssitzungen wurden verschoben, weil der WM-Zeitplan der absoluten Konzentration auf die Regierungsgeschäfte geschadet hätte und an fast allen Häusern hingen schwarz-rot-goldene Fahnen aus den Fenstern. Autos fuhren hupend durch die Großstädte, der Verkehr brach regelmäßig zusammen, doch niemand regte das auf, es war halt wieder mal WM.

So war das alle vier Jahre der Fall, bisher jedenfalls. Diesmal jedoch fand das Großereignis in Russland statt, was die Sache ein klein wenig veränderte. Es war weiterhin allgemeine Bürgerpflicht, die Spiele, wenigstens die der Deutschen, am Fernsehgerät zu verfolgen, wenngleich dies auch nicht mit der gleichen Euphorie geschah wie noch vor vier Jahren. Dafür sorgten schon die zahllosen Berichterstatter, die bereits im Vorfeld nicht müde wurden von den PutinSpielen zu reden und die kein gutes Haar an der ansonsten liebsten Veranstaltung der Deutschen ließen. Manche hatten sich sogar zu dem Ratschlag verstiegen, man hätte gar nicht erst anreisen und die Propagandaspiele dieses lupenreinen Feindes aller aufrechten Demokraten ganz boykottieren sollen. Die russische Bevölkerung, die fast 150 Millionen Russen, die sich darauf freuten, die Welt bei sich zu Besuch zu haben, spielten in deren Überlegungen offensichtlich keinerlei Rolle. Der Fußball war bei dieser Weltmeisterschaft für die Deutschen zur Nebensache geworden, wie sehr, das konnten auch die größten Pessimisten in diesem Moment noch nicht ahnen.

Im Moment sah es ganz so aus, als würden die Deutschen, zumindest die auf dem Spielfeld, genau diesen Vorschlag befolgen. Boykott und das mit voller Konsequenz. Eine absolut trostlose Vorstellung, die sich der Zeltner da angetan hatte, ganz alleine im Wohnzimmer. Die Zeltnerin interessierte sich überhaupt nicht dafür, hatte sie jedenfalls gesagt, bevor sie die Wohnstube verlassen hatte, um angeblich ihren vielfältigen Pflichten auf dem stattlichen Hof nachzukommen. Dieses Verhalten hatte den Bauern doch ziemlich verwundert, wo sie doch noch beim Gewinn der Weltmeisterschaft vor vier Jahren eine der eifrigsten Anhängerin der Jogi-Buben zu sein schien. Überall hatte sie damals schwarz-rot-goldene Devotionalien aufgestellt, was sogar ihrem fußballverrückten Mann ziemlich albern erschien. Aber versteh‘ einer die Frauen.

Es war gerade Halbzeit im letzten und entscheidenden Vorrundenspiel der Deutschen Nat…, Pardon, der Mannschaft. Gegen Mexiko hatte sie schon eine Niederlage kassiert, obwohl Fachkreise im Vorfeld allgemein nur über die Höhe des zu erwartenden Sieges diskutiert hatten. Dieses enttäuschende Ergebnis hatte beim Zeltner bereits eine leichte Spur von Skepsis ausgelöst, was den weiteren Verlauf des Turniers anging. Dann aber hatten sie gegen die Schweden, die von allen Experten unisono als spielerisch unterlegen eingestuft waren, erst fünfzig Sekunden vor Ende der großzügig bemessenen Nachspielzeit und nur mit unendlich viel Dusel doch noch einen Sieg geschafft. Die Welt schien mit einem Mal wieder in Ordnung zu sein. Einfach Kroos-artig! Alles war wieder möglich. Man hatte es wieder selbst in der Hand. Eine reichlich oberflächliche Betrachtungsweise. Beim Zeltner und der war Experte, hatte die Art und Weise des Zustandekommens dieses Holpersieges die Zuversicht nur noch weiter nach unten gedrückt.

Heute schien für die Mannschaftler auch nichts zu laufen. Es stand immer noch 0:0 gegen Südkorea. Südkorea! Wo liegt das eigentlich genau? Der Zeltner hätte schon seinen alten Schulatlas herauskramen müssen, um das herauszufinden. Das hatte er aber nicht für nötig befunden, denn nächste Woche wäre Korea schon wieder Geschichte und man konnte sich Gegnern zuwenden, von denen man genau wusste, wo sie zuhause waren. England, Frankreich, Brasilien, Argentinien. Alle Fachleute hatten gehofft, dass das Erfolgserlebnis vom Samstag der Mannschaft heute Flügel verleihen würde. Vielleicht hätten die Kicker doch besser die Brause trinken sollen, die genau mit diesem Versprechen Werbung machte. Hatten die sie aber anscheinend nicht. Na, vielleicht in der Halbzeit. Diese Gedanken gingen dem Zeltnerbauern durch den Kopf, als er sich aufgemacht hatte, die Halbzeitpause für einen kleinen Rundgang über den Hof zu nutzen, um sich und seine angespannten Nerven ein wenig zu beruhigen.

Er war mittlerweile am Tor der riesigen Scheune angekommen und wollte soeben die ebenso mächtige hölzerne Schiebetüre in Gang setzen, als er unvermittelt auf der Stelle stehen blieb. Da war doch jemand. Er lauschte angestrengt, runzelte die Stirn, schüttelte ungläubig den Kopf und lauschte erneut. Diesmal sichtlich angestrengt. Was er hörte machte ihn stutzig. Zunächst. Je länger er jedoch lauschte, umso mehr wandelte sich sein Gefühl von ungläubigem Staunen hin zu tiefer Betroffenheit und schließlich grimmiger Wut. Dass er ein wenig aufgeregt und einigermaßen verwirrt war, das mochte schon sein, wen würde es wundern nach dieser ersten Halbzeit. Und es war auch nicht abzustreiten, dass er das Gefühl hatte, alles könne passieren, selbst das Undenkbare, nach dem, was er sich fünfundvierzig Minuten lang mit zunehmendem Unverständnis und gleichzeitig ständig dünner werdendem Geduldsfaden vor der Flimmerkiste ansehen musste. Aber das hier? So verwirrt konnte er doch gar nicht sein, oder? Er hatte es doch deutlich gehört. Oder etwa doch nicht? Das was an seine Ohren drang hätte eher in einen schmalzigen Liebesfilm gepasst als auf einen Bauernhof.

Eine weiche, männliche Stimme mit typisch südländischer Sprachmelodie gab schmachtend, wie mit feinstem Olivenöl geschmiert einige Worte von sich, die der Zeltner aufgrund häufiger Urlaubsreisen nach Rimini in den frühen Jahren seiner Ehe in seinem dauerhaften Reisewortschatz abgelegt hatte, gleich neben buon giorno und gelati.

„Amore mio, cara mia!“

Worauf prompt eine weibliche Stimme mit ebenso großer Inbrunst die eben gehörten verräterischen Worte wiederholte. Wenn er noch einen leisen Zweifel an der Identität der Sprecherin gehegt hatte, dann wurden diese endgültig beseitigt, als sie mit der ihm bestens bekannte Stimme ein deutliches „mach ich es richtig Enzo?“ hinterherschickte.

Ihm war ein wenig schwindlig und klares Denken fiel ihm augenblicklich schwer. Wie sollte er reagieren? Das Tor zurückschieben, wutentbrannt in die Scheune vordringen und dem ganzen Spuk ein für alle Mal ein Ende bereiten? Niemand hätte ihm einen Vorwurf machen können, wenn er genau so reagiert hätte. Ein Anderer an seiner Stelle hätte es vielleicht so gemacht, nicht er. Das hätte so gar nicht seinem Charakter entsprochen. So war der Zeltner Hans nicht. Er war viel zu rational veranlagt und tat selten etwas im Affekt, das er später bereuen musste. Doch wie sollte er jetzt reagieren? Im ersten Moment wollte ihm partout keine brauchbare Idee in den Sinn kommen. Er musste nachdenken, doch das fiel ihm ob der großen Nervenanspannung extrem schwer. Er fühlte sich benommen, wie vor den Kopf geschlagen. Die Gedanken schwirrten ungeordnet, deutlich mehr, als sie es zuvor schon aufgrund seines missratenen Fernsehvergnügens getan hatten. Seine Verwirrung hatte einen bisher nicht gekannten Level erreicht.

Es fiel ihm tatsächlich nichts Besseres ein, als traurig wieder auf seinen Platz vor der Glotze zurück zu trotten. Er versuchte in Ruhe zu überlegen. Sein Verstand befand sich in heftigem Widerstreit mit dem, was ihm seine verletzte Seele versuchte zu suggerieren. Er wollte, dass es eine harmlose Erklärung gab, auch wenn ihm auf Anhieb keine einfallen wollte. Erst einmal weitermachen wie bisher, es wird sich schon noch finden. Das war seine Reaktion für den Moment. Psychologen hätten wahrscheinlich von einer klassischen Verdrängungsreaktion gesprochen und wenn sie ihn näher gekannt hätten noch hinzugefügt, typisch für den Herrn Zeltner.

Zurück im Wohnzimmer ließ er sich wieder in den wuchtigen Sessel vor seinem Fernseher sinken. Eigentlich stand ihm der Sinn nun gar nicht mehr nach einem Fußballspiel. Aber er wollte auch nicht ausschalten, nicht allein sein mit seinen aufwühlenden Gedanken. Sie machten ihm richtiggehend Angst.

Bezüglich des russischen Abenteuers waren die Neuigkeiten ebenfalls nicht gerade erbaulich. Das Spiel war mittlerweile in der zweiten Halbzeit und die Lage hatte sich keineswegs gebessert. Die Deutschen, durfte man das überhaupt noch sagen oder musste es vielmehr die Mannschaftler heißen, zelebrierten stur ihren gewohnt eintönigen Ballbesitzfußball und diesen weiterhin ohne jeglichen Erfolg. Der Reporter nervte die Zuschauer, insbesondere den Zeltner endlos mit der wiederholten Klage darüber, dass sich die aufopferungsvollen Koreaner in unfairer Manier allesamt im eigenen Strafraum aufhielten, um sich todesmutig jedem der halbherzigen deutschen Angriffe in den Weg zu stellen und so die Unseren trotz deren gewaltiger technischer Überlegenheit an der erfolgreichen Ausübung ihrer Aufgaben und in der Folge die Zuschauer am Genuss eines verdienten Sieges hinderten. Wo es doch für uns um Alles ging. Welch eine Arroganz! Wussten das die Gegner etwa gar nicht oder war ihnen unser Schicksal einfach nur egal?

„Debb!“, schimpfte der Zeltner, dessen Aufregung unter diesen Umständen nur noch mehr anstieg, „woss hassd dou, dee stelln si alle hindn nei und mier homm kann Blatz für unsere Kombinationer. Dee wern doch von Unsere absichtlich hindn nei drängt und zsammerbferchd wäi a verängstichde Schafherdn von anner ganzn Hordn dollwüdiche Schäferhund. Dass ner dess der Lööf, der Bläidl, nedd endlich amal selber mergd“.

Mit dem Begriff „verängstigt“ lag er allerdings falsch. Die Koreaner ließen nun ab und zu sogar ihre Zugbrücke herunter und wagten überraschenderweise einige Ausfälle aus ihrer bedrängten Fluchtburg. Nach seiner verbalen Explosion ging es dem Zeltner kurzzeitig besser, wenn auch nicht für lange. In der nächsten halben Stunde schwankte seine Stimmung im Minutentakt von großer Hoffnung, noch würde ja ein Tor reichen, bis hin zu tiefster Verzweiflung, sowohl bezüglich des Fußballspiels als auch immer wieder wegen seines schrecklichen Erlebnisses am Scheunentor. Er wusste nicht was er davon halten sollte, von Beidem nicht. Begreifen konnte er weder das Eine noch das Andere. Er war einfach in jeder Hinsicht aus allen Wolken gefallen. Denn auch bezüglich seiner Angetrauten war er sich immer noch unschlüssig, was das Gehörte für ihn bedeuten würde. Betrog sie ihn oder hatte er vielleicht doch nur falsch gehört? Er hoffte es natürlich, so oft seine seelische Fieberkurve einen Ausschlag nach oben beschrieb. Ach was, wie konnte er sich da getäuscht haben. Auf sein Gehör konnte er sich noch immer verlassen, so dachte er sobald das Stimmungspendel wieder nach unten ausschlug. Und wieder stieg Verzweiflung in ihm auf.

Auf dem Nebenschauplatz in Russland trieben die Ereignisse auf einen dramatischen Höhepunkt zu. Das Spiel stand kurz vor dem Abpfiff, nur noch wenige Minuten waren zu spielen. Da fiel das 1:0 für die Koreaner. Das Entsetzen erreichte einen neuen, nie vorstellbaren Höhepunkt. Am Ende stand es 2:0 für die angeblich doch so jämmerlichen Asiaten und nach dem „National“ war der ehemaligen Fußballnationalmannschaft nun auch noch der Wortteil „Fußball“ endgültig verloren gegangen. Die Hoffnungen auf den erneuten Gewinn der Weltmeisterschaft hatten sich plötzlich und unerwartet ins Nichts aufgelöst. Der viel beschworene fünfte Stern war wieder ausschließlich zu dem geworden, was er eigentlich ist, ein Thema für Weihnachten.

Ob auch seiner Ehe das gleiche Schicksal beschieden war? Im Spiel seines Lebens, das für ihn bei Weitem wichtiger war als alle Kicker dieser Welt, stand es allem Anschein nach bereits Null zu Fünf. Seine Frau war er offenbar los. Seine aktuelle Stimmung lies auch hier keinen Zweifel mehr zu.

Mords-Zinken

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