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1. Akt: Die schöne Friedenszeit Der Hauptmann von Köpenick

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1.

»Also, das ist doch wirklich die Höhe!«

Michael Trotz sah empört von seiner Zeitung auf und seine Frau Anna an.

»Der Kaiser hat diesen sogenannten »Hauptmann von Köpenick« begnadigt. Das sich so einer überhaupt Hauptmann nennen darf. Ein vaterlandsloser Geselle, der die staatliche Ordnung in Frage stellte mit seinem lächerlichen Aufzug. Der Kerl müsste lebenslang hinter Gittern.«

Michael saß in der Küche seiner schönen Wohnung beim Frühstück. Er und Anna waren jung verheiratet, der kleine Sohn Peter gerade geboren. Er war zufrieden mit sich und der Welt. Als königlich preußischer Postbeamtenanwärter gehörte er zu den Aufsteigern der Gesellschaft, aus kleinsten bäuerlichen Verhältnissen.

Michael war ein großer, stattlicher und schöner Mann mit leuchtenden Augen, ehrgeizig und intelligent. Ein Mensch, der sich nicht so schnell aus der Fassung bringen lässt. Er strahlte eine natürliche Autorität aus.

Seine Anna war viel kleiner als er und eine zierliche Person, aber resolut und sah mit klaren Augen und einem wachen Verstand in diese Welt. Sie war stolz auf ihren Michael, einen gutaussehenden Mann, der es zu etwas gebracht und noch weiter bringen werde. Sie sah seine Vorzüge und Schwächen und würde ihn schon nach ihrer Fasson erziehen. Wer im Haus die Hosen anhatte, war unmissverständlich klar. Sie trug ein einfaches aber geschmackvolles Hauskleid, welches ihre schlanke Taille betonte. Beide, Michael und Anna waren ein schönes Paar und in diesem Jahr 1908 sechsundzwanzig und fünfundzwanzig Jahre alt. Und sehr ineinander verliebt.

Michael zündete sich eine Zigarre an und genoss die ersten Züge. Er war nicht in Eile, sein Dienst als Postbote fing erst am frühen Nachmittag an. Er lehnte sich gemütlich an die Stuhllehne und dachte nach. Was er da in der Trierischen Zeitung las, gefiel ihm nicht. Zum ersten Mal war er mit seinem Kaiser unzufrieden. Er verehrte ihn, ahmte ihn in Haltung und Stil nach. Sein prächtiger Schnurrbart stellte das getreue Ebenbild seines Vorbildes dar. Das war der Kaiser, eine absolute Respektsperson, er verkörperte für ihn die preußische Gesellschaftsordnung. Jeder hatte dort seinen Platz und er war mit dem seinen sehr zufrieden.

Michael kam aus ganz kleinen bäuerlichen Verhältnissen, geboren in einem klitzekleinen Dorf vor den Toren Triers.

»Vater taufte mich Michel, was für ein Name. Den habe ich ganz schnell in Michael umgeändert. Michel wie der Deutsche Michel, ich bin doch keine Witzfigur.« Trotzdem wurde er von einigen Freunden mit Michel angesprochen. Er ließ es zähneknirschend zu. Anna kam in die Küche zurück.

»Weißt du«, meinte er zu ihr, »der Kaiser wird schon seine Gründe für die Begnadigung haben. Aber solch ein haltloser Vagabund gehört hinter Gittern.«

»Eigentlich eine lustige Geschichte«, entgegnete Anna.

»Lustig nennst du das? Mit der ganzen Härte des Gesetzes müsste gegen ihn vorgegangen werden. Wo kommen wir da hin, wenn sich jeder Dahergelaufene solche Frechheiten anmaßen kann. In Preußen herrschen Recht und Gesetz, das Militär ist die Stütze des Staates, unseres Vaterlands. Mir gehen Recht und Ordnung über alles, als angehender Beamter muss das für mich auch so sein. Ich bin stolz auf unseren Staat und unseren Friedenskasier, um den uns die ganze Welt beneidet. Sind wir nicht schon sowieso nur von Feinden umgeben? Die elenden Franzosen lauern doch nur schon darauf, es uns wegen Sedan heimzuzahlen. Daher muss im Inneren des Staates Ordnung herrschen. Ordnung und bedingungsloser Gehorsam. Und wer dagegen verstößt, muss mit der ganzen Härte des Gesetztes bestraft werden.«

»Kaplan Buchholz war gestern hier, um wegen der Taufe von Peter mit uns zu sprechen.« Anna wollte ihren Mann auf andere Gedanken bringen, denn sie kannte seine Ansichten nur zu gut.

»Natürlich muss der Junge getauft werden, das ist doch klar. Wir sind gut katholisch und die Kirche bedeutet mir genauso viel wie der Staat. Eigentlich noch mehr. Es ist ein kleiner Wehmutstropfen, das in Preußen die Protestanten das Sagen haben. Wir Katholiken hier im Rheinland sind im Hintertreffen und werden manchmal schikaniert. Aber ich bin für den Staat und ordne meine persönlichen Gefühle unter.«

»Aber Michael«, meinte Anna, »was hat das mit der Taufe zu tun?«

»Unser Peter ist ein katholischer und deutscher Junge, so wie wir und unsere Vorfahren. Wir entstammen aus gut und streng katholischen Familien. Wir aber, du und ich, verbinden beides, den Staat und die Kirche und so wird unser Junge erzogen werden.

Mein Vater verlangte unbedingten Gehorsam von uns Kindern, und wo er die nicht bekam, setzte es Prügel. Jeder hat in unserer Gesellschaft den Platz auszufüllen, auf den ihn Gott gestellt hat. Und hat das Beste daraus zu machen. Ich bin ja auch bemüht, beruflich weiterzukommen und meine Stellung zu verbessern. Gehorsam, Pflichtbewusstsein und Fleiß sind nun einmal die preußischen Tugenden. Wer das nicht einsieht, muss dazu gezwungen werden und wenn nötig mit Gewalt.«

»Mit Schlägen ist noch nie etwas Gutes herausgekommen«, entgegnete Anna, »du willst doch unseren Jungen nicht so erziehen wollen?«

»Ich werde ihn zu einem guten deutschen und katholischen Menschen erziehen, der Gott und den Kaiser fürchtet. So wie Kirche und Staat von mir Gehorsam verlangen, verlange ich das von meinem Sohn. Gehorsam und Disziplin haben Deutschland groß gemacht. Ein Kind muss seinen Eltern bedingungslos gehorchen, da gibt es keinen eigenen Willen oder Widerspruch.«

Anna war klug genug, an diesem Punkt nicht zu widersprechen. Sie kannte ihren Michael, einen im Grunde herzensguten, aber harten Mann, in Punkte Kaiser und Kirche nur schwer zu beeinflussen. Das mit der Kirche sah sie ja noch ein, denn sie entstammte ebenfalls aus einer streng katholischen Postbeamtenfamilie, in Bezug auf die deutschen Tugenden dachte sie nicht so konservativ wie ihr Mann.

Sie war nur eine kleine Schneiderin, hatte aber einen klaren Verstand und dachte in Punkto Erziehung moderner als ihr Michael. Sie wollte eine moderne Frau sein, die altmodischen Ansichten Michaels waren nicht die ihren. Aber sie war klug genug, mit aller Vorsicht an die Sache heranzugehen. Widersprach sie zu sehr, reizte das bei Michael nur unnötigen Widerspruch.

Rede du nur, ich werde den Jungen und alle weiteren Kinder nach meiner Fasson erziehen. Gehorsam ist wichtig, aber nicht um jeden Preis. Ich werde in der Erziehung auch streng sein, denn ich bin eigentlich keine zärtliche Mutter, unser Verhalten entspricht der unserer Zeit, keine Gefühle offen zu zeigen. Die Männer sind in dem Punkt noch verkrampfter. Aber im Gegensatz zu Michael lasse ich mit mir reden. Ich bin offen für Argumente und neue Entwicklungen, mein Horizont ist nicht so eng und kleinkariert wie der meiner Umgebung. Aber mir fehlen die Entfaltungsmöglichkeiten. Wir Frauen haben noch nicht einmal das Wahlrecht. Wir sollen das Heimchen am Herd sein, uns um Kinder, Küche und Kirche kümmern. Dagegen habe ich eigentlich nichts, aber ich bin nicht so dumm, wie die Männer uns Frauen hinstellen.

Ich bin nur eine kleine Schneiderin und habe nichts weiter gelernt, nicht weil ich zu dumm dazu bin, sondern weil das in meiner Familie nicht üblich ist. Aber an meinen Kindern will ich das ändern. Sie sollen Bildung bekommen, denn nur eine gute Bildung garantiert den sozialen Aufstieg. Im Gegensatz zu Michael bin ich nicht von den gottgegebenen Plätzen im Leben überzeugt.

2.

»Ja, ja, unser Kaiser und sein Militär«, dachte Albert Dieckmann, der an diesem Tage ebenfalls die Zeitung las. Er saß im Lesesaal des Kolpingverein zu Berlin, wo er ein kleines karges Zimmer bewohnte. Ein armer Schreinergeselle auf Wanderschaft, heimat- und mittellos, aber sehr fromm und auf seine Weise ehrgeizig. Die einfache und dürftige Wanderkluft schlotterte an seinem spindeldürren Körper, dazu die Schreinerschürze und die Kappe auf dem Kopf. Ein durchs Leben hart gewordener zwanzigjähriger junger Mann von hagerer und irgendwie trauriger Gestalt. Ein wenig glich er dem Schuster Voigt, dem verhinderten Hauptmann von Köpenick. Dieser strahlte auf den Bildern ebenfalls eine gewisse Melancholie aus. Graf Galen hingegen pflegte des Öfteren zu sagen: »Unser Albert gleicht sehr dem heiligen Josef, dem Schutzpatron der Schreiner und Zimmersleut. Nur der Bart fehlt. Aber der Gesichtsausdruck, so fromm und gottesfürchtig.«

Albert war intelligent und mit dem Ehrgeiz versehen, sich trotz seiner Armut Bildung zu verschaffen. Deshalb saß er oft stundenlang in dem kleinen Lesesaal und las, was ihm unter die Finger kam.

In diesem Augenblick betrat ein stattlicher Herr den Saal, der Priester und Präsens des Kolpingvereins, Graf Clemens von Galen. Zwischen ihm und Albert lagen Welten, hier ein Abkömmling der staatstragenden adeligen Gesellschaft, dort ein armer Hund. Trotz der gewaltigen Standesunterschiede hegten beide Männer große Sympathien füreinander. Graf von Galen kannte die Sorgen und Nöte der kleinen Handwerksgesellen, die von ihren Meistern ausgebeutet wurden und wenige Chancen in der Gesellschaft hatten. Er stand in der Tradition des Gründers des Kolpingverein, Adolf Kolping und des Bischofs von Ketteler, die sich im 19. Jahrhundert dieser Menschen annahmen und ihnen durch Bildung Halt und Stütze geben wollten. Ketteler war übrigens der einzige deutsche Kirchenfürst, der sich für die Belange der Arbeiterschaft interessierte.

Graf von Galen schätzte diesen Albert vor allem deswegen, weil er fromm und gottesfürchtig, zugleich aber auch ungemein wissbegierig war. Für seinen niederen Stand ein sehr intelligenter, kluger Kopf. Und kluge Köpfe schätzte der Graf, ob hoch oder niedrig geboren. Besonders gefielen ihm aber Alberts korrektes akzentfreies Deutsch und seine gute Ausdrucksweise. Zudem konnte er gut und unterhaltend erzählen. Albert schätzte den Grafen ob dessen Gradlinigkeit und Menschenfreundlichkeit und der Hilfe, die er ihm, dem armen Schreiner, gewährte, indem er ihm bei seinem Bestreben half, Bildung zu erlangen.

»Nun Albert, was liest du gerade, was erzürnt dein Gemüt, ich sehe es dir am Gesichte an«, scherzte der Graf.

»Den Artikel über die Begnadigung dieses »Hauptmanns von Köpenick.«

»Ja, das ist eine recht merkwürdige Geschichte, ganz Deutschland lachte darüber, und nicht nur Deutschland, ich glaube die ganze Welt lachte uns aus.«

»Der Kaiser war noch stolz darauf«, entgegnete Albert stirnrunzelnd, »er soll zu dem Polizeipräsidenten gesagt haben, dass uns das auf der ganzen Welt keiner nachmache. Dieser mickrige Schuster hat ohne es zu ahnen das ganze System lächerlich gemacht.«

»Ich weiß, du bist kein Freund des Militärs«, schmunzelte Galen.

»Das stimmt, das bin ich nicht. Wer in unserer Gesellschaft nicht gedient hat, ist kein vollwertiger Mensch. Ich habe nicht gedient, weil meine älteren Brüder alle gestorben sind. Ich habe auch kein Verlangen nach dem Militär. Drill, Schikane und Prügel habe ich auch so genug bezogen, dafür benötige ich das Militär nicht. Dieser Hauptmann hat mit seiner Aktion die Lächerlichkeit des bürgerlichen Systems offengelegt, mit einer Uniform und ohne Legimitation. In Deutschland kann jeder mit einer Uniform und ohne Legitimation Dinge tun, ohne sich rechtfertigen zu müssen. Das ist blinder Obrigkeitsglaube und wohin soll das führen?«

»Aber die Obrigkeit und Stände sind gottgegeben, wir werden auf unseren Platz gestellt und müssen gehorchen.«

»Nur das einige bessere Plätze haben als andere«, entgegnete Albert stirnrunzelnd

»Du bist ja ein Anarchist Albert«, lachte Galen.

»Nein Hochwürden, das sicher nicht. Ich fürchte Gott und stehe fest zu den Lehren unserer heiligen katholischen Kirche. Aber Jesus war ein einfacher Schreiner und kein Adliger. Ich verachte die Kommunisten und Sozialdemokraten, denn sie sind gottlose Gesellen.«

Graf Galen zündete sich eine Zigarre an und hielt Albert das Zigarrenetui hin. Albert machte eine ablehnende Geste, während Galen genüsslich an seiner Zigarre zog.

»Ach ja, du rauchst ja nicht, trinkst auch nur ganz wenig Alkohol, du bist ein Muster an Seriosität.«

»Ach Hochwürden«, entgegnete Albert, »so würde ich das nicht sehen. Das Rauchen ist mir zu teuer und der Alkohol ist ein Werk des Teufels. Gerade in meiner Schicht gehen viele daran zugrunde. Er ist ein billiger Tröster, aber er führt in den Abgrund. Damit mache ich mich nicht kaputt.«

»Recht hast Du«, bestätigte Galen.

»Meine Heimat sind die Kirche und der Kolpingverein. Der Glaube gibt mir Halt und Stütze. Ich halte die Gebote Gottes und möchte danach leben. Ich besuche regelmäßig den Gottesdienst und empfange die heilige Kommunion.«

»Das ist auch lobenswert, mein Freund. Keiner hier im Haus ist darin so eifrig wie du.«

»Es ist der Glaube meiner Vorfahren, dem ich auch diene. Daher lese ich die heiligen Schriften, um noch besser zu verstehen. Die Bibel natürlich, aber auch das Leben der Heiligen und die von Ihnen so sehr empfohlene Nachfolge Christi des Thomas von Kempen. Ich achte den Papst, die Bischöfe und Priester als Diener Gottes. Was ich bei den Priestern aber nicht ausstehen kann, sind die Vertreter des typischen Herrenstandpunkts.«

»Albert«, unterbrach ihn hier lachend von Galen, »du bist doch ein verkappter Anarchist, leugne es nicht. Aber so ganz Unrecht hast du nicht. Nur habe ich jetzt keine Zeit mehr, mit dir darüber zu reden. Lass uns dieses Gespräch ein anderes Mal weiterführen. Hast du heute nicht zu arbeiten?«

»Mein Auftraggeber hatte heute keine Zeit, daher entfiel meine Arbeit. Kann ich Ihnen helfen?«

»Das trifft sich gut, könntest du in meinem Studierzimmer einmal nach einem Regal schauen, es scheint mir etwas wackelig und ich habe immer Angst, dass mir alle Bücher herunterfallen.« Graf Galen schätzte Albert zudem ob seiner hervorragenden Arbeit, die er als Schreiner leistete.

»Das mache ich gerne«, entgegnete Albert spontan, »kann ich nach dem Mittagessen kommen?«

»Einverstanden«, erwiderte der Graf und gab Albert die Hand. Daraufhin verließ er den Lesesaal und Albert kehrte unverzüglich an seine unterbrochene Lektüre zurück.

Schuld ohne Reue

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