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Alltag

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1.

Michael begann sich in seiner Wohnung auf den Dienst vorzubereiten. Er zog seine Postuniform an, und nahm von Anna seine Brote in Empfang. Noch schnell einen Abschiedskuss und er war durch die Türe. Anna winkte ihm mit ihrem kleinen Sohn auf dem Arm nach.

Im Treppenhaus begegnete er seinem Nachbar Silberstein. Dieser wohnte unter ihm mit seiner jungen Familie und auch erst kurz hier eingezogen. Er war der Sohn des Hausbesitzers, dem auch das Nachbarhaus, in dem ebenfalls mehrere Parteien wohnten, gehörte und der dort wohnte. Es waren reiche Juden, der Vater besaß ein großes Konfektionsgeschäft in der Stadt. Sein Sohn Jaakov war Rechtsanwalt oder Referendar, das wusste Michael nicht so genau. Man kannte sich noch nicht so gut.

Die beiden grüßten einander sehr artig und gingen ihrer Wege.

Michael sinnierte ein bisschen auf dem Weg zur Arbeit, das Hauptpostamt lag nur etwa fünf Minuten von seiner Wohnung in der Metzelstraße entfernt. Jaja, diese Juden, dachte er, haben Geld wie Heu, es klebt sozusagen an ihnen.

Michael hatte eigentlich nichts gegen sie. Er wohnte sogar im Judenviertel der Stadt. In seiner Straße wohnten viele und eine Querstraße weiter auf dem Zuckerberg lag die Synagoge. Trotzdem hegte er eine leichte Abneigung gegen sie. Das war aber nicht böse gemeint und ging auch nicht sehr tief. Als guter Katholik schaute er schon deshalb auf sie herab, hatten sie doch unserer Herrn Jesus ans Kreuz geschlagen. Das jedenfalls sagten die Kirche und die Priester. Michael war kein ledernder Theologe, das Thema interessierte ihn nicht sonderlich, er fühlte sich als guter und linientreuer Katholik. An theologischen Spitzfindigkeiten war er nicht interessiert. Als guter Katholik wählte er das Zentrum und war Mitglied in der Marianischen Bürgersolidarität. Dort hatten allerdings die Juden nichts zu suchen.

Diese Silbersteins waren trotz ihres Reichtums anscheinend recht nette Leute, und dass sie Juden waren, merkte man kaum. Anna hatte sogar mit Frau Silberstein schon einige Worte gewechselt und sie schienen ganz in Ordnung. Natürlich standen sie auf der bürgerlichen Stufe höher als sie, Michael war Postbote und Anna Schneiderin. Aber Michael war fest entschlossen, gesellschaftlich aufzusteigen und Anna nahm ob ihrer Intelligenz die Sympathien ihrer Nachbarin ein. Anna sprach ein fehlerfreies Hochdeutsch und konnte sich gut ausdrücken. Sie fühlte sich als Städterin, war hier geboren und die Tochter eines königlich preußischen Postillion.

Michael erreichte das Hauptpostamt und ging an seinen Arbeitsplatz. Er war hier gut gelitten, galt als angenehmer und ausgezeichneter Kollege, wurde von seinen Vorgesetzten ob seines Fleißes, seiner Zuverlässigkeit und Gewissenhaftigkeit hoch geschätzt. Es war ihnen auch schon aufgefallen, dass er sich schriftlich und mündlich sehr gut ausdrücken konnte. Sie gaben ihm zu verstehen, dass sie ihn für höhere Aufgaben durchaus geeignet hielten.

Diese Fähigkeiten, obschon er nur ein einfacher Bierbrauer war, fielen vor Jahren dem Spieß seines Regiments auf, in dem er gedient hatte. Dieser nahm ihn auf das Geschäftszimmer und machte ihn auf seine Fähigkeiten aufmerksam. Gerne hätten sein Hauptmann und der Spieß ihn beim Regiment behalten, Michael stellte ob seiner stattlichen Statur etwas dar, war der Flügelmann der Kompanie und bei allen gut gelitten. Er war gerne Soldat und ein ausgezeichneter dazu. Wenn sich Michael auch beim Militär wohlfühlte, als guter Deutscher musste er gedient haben, er wollte aufsteigen. Und so liebte er es doch nicht so sehr, um dort zu bleiben. Der Spieß gab ihm aber den Tipp, sich nach der Dienstzeit bei einer Behörde zu bewerben und schlug ihm den Postdienst vor. Dort wurden Briefträger gesucht und er hatte die Chance, beruflich aufzusteigen, wenn er ehrgeizig und fleißig war. Michael nahm diese Gelegenheit wahr und bewarb sich zum Ende seiner Militärzeit. Aufgrund der hervorragenden Dienstzeugnisse, das ihm sein Kompaniechef ausstellte, wurde er sofort angenommen. Jetzt versah er seit vier Jahren diesen Dienst und seine Vorgesetzten hielten ihm alle Aufstiegsoptionen offen. Da er aber ein ausgezeichneter Arbeiter war, wollte ihn sein Chef nicht so schnell verlieren und vertröstete ihn immer wieder, um ihn so lange wie möglich halten zu können.

Nachdem Michael seine Posttasche sortiert hatte, schwatzte er noch etwas mit einem Kollegen, mit dem er zusammen im Postmännerchor war und zog dann los. Unterwegs kam er ins Grübeln, der Hauptmann von Köpenick beschäftigte ihn immer noch und was er mit Anna geredet hatte. Dieser komische Hauptmann untergräbt die Säulen der Gesellschaft, ging es ihm durch den Kopf, ein vaterlandsloser Geselle, der seinen Platz nicht kennt. Ich kenne den meinen und werde ihn ausbauen. Der Staat und seine Grundsätze sind mir heilig. Ich habe in den letzten Jahren viel erreicht und das ist noch nicht das Ende. Ich komme doch aus ganz kleinen bäuerlichen Verhältnissen, meine Eltern waren gottesfürchtig und streng katholisch, mein Vater hart und unbarmherzig. Aber große Rosinen im Kopf hatten sie nicht. Bauer sollte ich werden, obwohl der Lehrer in der Schule meinen Eltern sagte, ich habe einen guten Kopf zum Studieren. Undenkbar für meinen Vater, ein Studierter in der Familie, das ging über seinen Horizont, außerdem waren wir viel zu arm, um es bezahlten zu können.

Nach vielen hin und her und einiger Tracht Prügel erreichte ich immerhin, nicht Bauer werden zu müssen, sondern eine Lehre bei der Unionbrauerei als Küfer machen zu dürfen. Eigentlich bin ich handwerklich eine Niete, aber mein Fleiß und die Gewissenhaftigkeit meiner Arbeit verdeckten dieses Defizit. Natürlich hätte ich viel lieber eine kaufmännische Lehre gemacht, aber Vater lehnte das entschieden ab. Sein Wort war Gesetz für uns.

Wie erging es meinem jüngeren Bruder Johann? Er war sehr musikalisch und was musste er werden? Bauer! Obwohl er noch mehr zwei linke Hände hat wie ich. Immerhin erbarmte sich der Organist unserer Kirche und brachte ihm das Notenlesen und Orgelspielen bei. Jetzt ist er Aushilfsorganist und macht das lieber als die Landwirtschaft.

Michael verteilte einige Briefe und redete mit den Leuten, die ihn gerne mochten. Sie schätzten seine Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft und Zuverlässigkeit. Zwar flößte er in der Uniform den Leuten Respekt ein und das gerade war es, was seine Ausstrahlung ausmachte, die imposante Gestalt und der freundliche Charakter.

Ich habe es richtig gemacht, auf den Spieß zu hören. Und mit Anna habe ich eine gute Frau gefunden, mit ihr kann man ein Leben aufbauen. Nur ihre Ideen zur Kindererziehung passen mir nicht. Das sind die Stadtleute mit ihren Idees. Aber hier ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Von den Kindern verlange ich das, was der Staat auch von mir verlangt, Gehorsam und Disziplin. Ich werde wie mein Vater sein, streng und unerbittlich, keinen Widerspruch duldend. Ein Kind hat keinen eigenen Willen zu haben, es muss das tun, was die Eltern von ihm verlangen. Das werde ich meinen Kindern einbläuen und wenn es sein muss auch einprügeln. Außerdem Respekt vor meiner Person. Das werde ich von ihnen und meinem Umfeld einfordern. Trotz meiner an sich großen Gutmütigkeit bin ich ein harter Mann. Es verhindert, im Leben für dumm verkauft zu werden. Gutheit wird immer als Schwäche ausgelegt. Was ich erreicht habe, lasse ich mir nicht mehr nehmen, von niemandem. Wir haben eine schöne Drei-Zimmer-Wohnung, die Anna tipp topp hält. Natürlich verdiene ich als Briefträger nicht die Welt, als Bierbrauer hätte ich mehr verdient. Aber ich denke an die Zukunft. Mit tausendfünfhundert Mark im Jahr muss man haushalten, und das kann meine Anna. Als Schneiderin verdient sie noch etwas dazu, so dass wir gut über die Runden kommen. Große Sprünge sind nicht drin, es reicht für ein bescheidenes Glück.

2.

Albert arbeitete den ganzen Nachmittag in Graf Galens Studierzimmer an den Bücherregalen. Dieses Zimmer war recht groß, die Regale gingen bis zur Decke und waren mit Büchern bestückt. Albert liebte Bücher und schaute ab und zu in eines hinein, wenn er eine kleine Pause machte. In der Mitte des Raumes stand ein großer Schreibtisch nebst Stühlen. An einer Wandseite sah man ein Sofa mit einem kleinen Tisch und zwei schönen Sesseln. Das gab dem Raum eine gewisse Gemütlichkeit und nahm ihm die Strenge. Neben dem Sofa korrespondierte ein großer Ofen, der den Raum im Winter schön heizte. Der Boden war mit Teppichen ausgelegt. Auf dem kleinen Tisch gruppierte sich ein großer Aschenbecher und eine Zigarrentasche, der Graf rauchte leidenschaftlich gerne. Auf einer kleiner Kredenze daneben fand sich eine Karaffe mit Cognac nebst einiger Flaschen Weins und Gläsern.

Nach dem Abendessen und der Abendandacht ging Albert wieder in das Studierzimmer, um seine Arbeit zu vollenden. Er war ein sehr gewissenhafter Arbeiter, der nichts unverrichtet hinterließ. Er hasste es, halbe Sachen zu machen und war ein Ästhet der Perfektion. Seine Arbeitgeber und Graf Galen schätzten seine hervorragende Schreinerarbeit und so hatte er immer genug zu tun. Mit den anderen Kolpingbrüdern hielt er nur losen Kontakt. Er hasste das Herumlungern in Kneipen und den Alkohol. Er ließ sich dort so gut wie nie sehen. Natürlich trank er auch gerne einmal ein Glas Wein oder Bier, aber immer sehr mäßig, ja fast schon spartanisch. Überhaupt lebte er sehr genügsam, war äußerst sparsam in allen Bereichen, bescheiden und bedürfnislos.

Graf Galen betrat plötzlich den Raum und sah verwundert, dass er noch arbeitete.

»Albert, immer noch an der Arbeit«, fragte er. »Das hat doch noch bis morgen Zeit.«

»Ich lasse ungern eine Arbeit unvollendet zurück«, entgegnete dieser. »Aber ich bin jetzt fast fertig. Ich habe die Stützen verstärkt, jetzt kann nur ein Erdbeben die Regale umwerfen.«

»Was bin ich dir schuldig, mein Freund«, meinte Galen.

»Nichts«, entgegnete Albert ruhig.

»Das geht so nicht Albert. Du hast den ganzen Nachmittag hier gearbeitet und verdienst einen Lohn.«

»Ich möchte aber nichts haben«, behaarte dieser.« Sie helfen mir immer bei meinen Studien und verlangen auch nichts dafür. Die Arbeit ist meine Gegenleistung.«

Galen lächelte, er konnte Albert wirklich sehr gut leiden. »Dann setz dich wenigsten hier auf das Sofa und wir unterhalten uns ein bisschen bei einem guten Tropfen. Ich unterhalte mich gerne mit dir. Du bist ein wirklich intelligenter Mensch, es ist ein Jammer, dass du nicht studieren konntest.«

Galen schenkte Albert und sich ein Glas guten Moselweins ein, für den er eine besondere Vorliebe hatte. Dann nahm er eine Zigarre und begann umständlich, sie anzuzünden und zu rauchen. Genüsslich blies er den Rauch in die Luft.

Albert lächelte und trank einen Schluck Wein, nachdem er sich bedankt und mit dem Grafen angestoßen hatte.

»Ich wäre gerne Lehrer geworden, aber das war in meiner Familie nicht möglich. Ich komme aus einem kleinen Nest in Schlesien. Mein Vater war ein harter Mann, wir wurden sehr streng erzogen. Widerspruch duldete er nicht und Prügel gab es reichlich, mehr als zu Essen. Wir waren sechs Geschwister, als 1893 mein Vater starb und zu dieser Zeit war die Mutter auch schon krank. Unsere kleine Landwirtschaft war hochverschuldet. Der Vater war nämlich Handelsjuden in die Hände gefallen, die Geld zu Wucherzinsen verliehen. So kam er aus den Schulden nicht heraus.«

Galen nickte und meinte: »Es war eine arme und schlimme Zeit. Diese Juden haben viele ins Unglück gebracht.«

Albert lächelte und meinte: »Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, Sie sind ein guter Mensch und schauen nicht herablassend auf uns arme Leute. Aber Sie tragen einen feinen Rock und kennen die Armut nicht wirklich. Und diese Handelsjuden sind Halsabschneider, außerdem haben die Juden unseren Herrn Jesus ans Kreuz geschlagen.«

Galen nickte zustimmend und Albert fuhr fort.

»Nach dem Tod des Vaters musste die Mutter verkaufen und nach Abzug der Schulden blieb nicht mehr viel übrig. Die Mutter musste sich mit Tagelöhnerarbeiten durchschlagen, um uns Kinder durchbringen zu können. Der Tageslohn betrug sechzig Pfennig im Sommer und vierzig Pfennig im Winter. Es war eine sehr schwere Zeit für sie. Schlesien ist ein armes Land, jedenfalls für uns kleine Leute, nicht für die Großgrundbesitzer und großbürgerlichen Agnaten[1]. Ich erlebte nur Krankheit, Not und Hunger. So mussten wir Kinder schon sehr früh mitarbeiten, um etwas zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. Die Mutter bemühte sich, uns schnell in Stellungen zu bringen.

Meine älteste Schwester Maria musste schon frühzeitig als Bauernmagd in Dienst gehen. In einem sehr strengen Winter zog sie sich eine Krankheit zu, an der sie im Alter von 21 Jahren verstarb.

Meine zweitälteste Schwester Emilie kam schon als Kind zur Großmutter nach Altenwalde und wurde dort erzogen. Es war ihr Glück, denn so entging sie der Not und lebt heute noch.

Meine jüngste Schwester Maria starb im Alter von zwei Jahren.

Mein Bruder Josef erlernte das Schusterhandwerk. Er war aber schon als Kind viel krank und starb früh.

Mein Bruder Johann wurde Knecht bei einem Bauern. Eines Tages bekam er Leibschmerzen, die nicht weggehen wollten. Der Arzt kuriere auf Rheuma. Als er die Schmerzen nicht mehr ertragen konnte, zog man einen anderen Arzt hinzu und der stellte eine Blinddarmentzündung fest. Er sollte sofort operiert werden, aber es war schon zu spät. Wenige Tage später starb er.

Ich besuchte bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr die Volksschule. Ich hatte einen guten Kopf zum Lernen und es machte mir auch Freude. Mein Wunsch war es, Lehrer zu werden, ich las gerne und viel. Alles was mir in die Hände kam, wurde gelesen.

Politik interessiert mich nicht sonderlich. Ich bin konservativ katholisch eingestellt wie meine Eltern und hasse die Sozis als gottlose und vaterlandslose Gesellen Von frühester Jugend an hänge ich an dem Glauben und unserer heiligen katholischen Kirche. Sie gaben mir Halt und Stütze in den vergangenen schweren Jahren.«

Galen nickte wieder zustimmend und meinte, von den Sozialisten und Kommunisten sei nichts Gutes zu erwarten.

»Es sind Blender und sie verblenden die Welt. Allerdings sind unsere herrschenden Verhältnisse auch nicht in Ordnung, sie treiben die Arbeiterschaft in die Hände der Sozialdemokratien.«

Albert nickte. »Christentum und Sozialismus stehen sich gegenüber wie Feuer und Wasser. Es gibt keinen christlichen Sozialismus und kein sozialistisches Christentum. Der Sozialismus ist eine gottlose christentumsfeindliche Ideologie, weitverbreitet. Ihr Schöpfer, Karl Marx war ein großer Irrlehrer. Er irrte sich wenn er glaubte, er könnte dadurch der Welt den Frieden bringen. Seine Lehre fällt deshalb auf fruchtbaren Boden, weil er die Volksregierung verkündet im Gegensatz zu den Fürsten. Die Fürsten betrachten sich als die Herren im Land und haben keine wirkliche Verbindung zum Volk mehr. Sie leben herrlich und in Freuden.

Die Fürsten leben in unvorstellbarem Luxus und das arme Volk hungert. Aber Marx irrt, wenn er glaubt, er könnte mit seiner Lehre der Welt den Frieden bringen. Er schüttet das Kind mit dem Bade aus, er lehrt den gottlosen Sozialismus.«

Galen stand auf und ging im Raum hin und her. Er wusste, dass Albert Recht hatte, die Kirche verlor die Arbeiterschaft dadurch, dass sie sich auf die Seite der Reichen stellte. Schon Bischof von Ketteler hatte davor gewarnt. Zwar veröffentlichte vor kurzem Papst Leo eine Sozialenzyklika[2], aber in den Augen Galens kam das zu spät. Ein großer Teil der Arbeiterschaft war an die SPD verloren gegangen. Obwohl er ein Angehöriger der herrschenden Adelsklasse war, sah er sehr deutlich, dass die derzeitigen politischen Verhältnisse auf Dauer nicht tragbar waren. Er dachte und fühlte traditionell konservativ, aber er sah auch die Schwachstellen dieses Konservatismus. Aber mit den erzkonservativen Kreisen in Deutschland war darüber nicht zu reden.

Galen war nicht der Mensch, der mit einer Meinung hinter den Berg hielt. Er war direkt bis schon manchmal zur Unhöflichkeit. Bei seinen adeligen Standesgenossen hatte er sich daher schon mehrmals den Mund verbrannt. Er versuchte mit dem Kolpingverein ein Gegengewicht zu den Sozis herzustellen, damit nicht die ganze Arbeiterschaft für die Kirche verloren ging. Er wusste, dass gerade die Handwerksburschen ganz arme Kerle waren, die ein armseliges Leben führten. Er versuchte zu helfen wo er konnte und unterstützte die armen Burschen aus seiner eigenen Privatschatulle. Für Galen war Bildung der erste Stein zum gesellschaftlichen Aufstieg. So lag es ihm besonders am Herzen, den einfachen Handwerksburschen die Bildung beizubringen, die ihnen Gesellschaft verweigerte. Er organisierte Vorträge und Bildungsabende, Lesezirkel und zusätzlichen Unterricht in Lesen und Schreiben. Nicht alle Burschen nahmen das breite Angebot in Anspruch, aber Albert gehörte zu denen, die sehr eifrig die Chance wahrnahmen. Albert schwieg respektvoll und wartete, bis der Graf sich wieder gesetzt hatte. Beide nahmen einen guten Schluck Wein. Daraufhin ermunterte der Graf unseren Freund, weiterzusprechen.

»Lehrer konnte ich nicht werden, dazu fehlte das Geld. In dieser Zeit konnten sich nur die Reichen eine bessere Bildung leisten. So wurde ich 1902 in eine Schreinerlehre gesteckt. Es war eine armselige Zeit. Zu verdienen gab es nichts, denn meine Mutter musste Lehrgeld an den Lehrherrn zahlen, das war so üblich. Ich wurde gnadenlos ausgebeutet, Hunger und Schläge waren an der Tagesordnung. Meine Lehrzeit dauerte vier Jahre, im letzten Jahr ließ ich mir die Behandlung nicht mehr gefallen und drohte dem Meister Schläge an, sollte er noch einmal versuchen, sich an mir zu vergreifen. Als er das nicht begriff, schlug ich ihm auf die Ohren und drohte, zur Polizei zu gehen. Jetzt bekam er es mit der Angst zu tun und von da an ließ er mich bis zum Ende der Lehrzeit in Ruhe.

Die Armut und das karge Leben prägten mich. Ich wurde sehr genügsam, bin mit allem zufrieden, will keinen Aufwand und Luxus.«

Hier nickte Galen zustimmend und bat Albert, fortzufahren.

»Im letzten Lehrjahr, so um 1905 herum, trat ich dem Kolpinggesellenverein bei. Mein Ziel war es, am Ende der Lehrzeit auf Wanderschaft zu gehen. Ich wollte auf keinen Fall in Schlesien bleiben, hier gab es nichts zu verdienen. Ich wollte im Deutschen Reich herumwandern, viel sehen und viel lernen. Wenn auch der Meister ein Lump gewesen war, als Schreiner war er erstklassig und ich lernte viel bei ihm.

Durch meine Mitgliedschaft im Kolping würde ich in jeder größeren Stadt eine Unterkunft finden. Zudem förderte der Kolping die Bildung der Handwerksgesellen. Er sollte mir die Familie ersetzen, nicht umsonst nannte man ihn Kolpingfamilie.

Vom Militärdienst wurde ich befreit, da schon fast alle meine Geschwister gestorben waren. Ich hatte nichts dagegen, denn der Komiß ist nicht meine Sache. Als meine Lehrzeit 1906 um war, packte ich meine Habseligkeiten, verabschiedete ich mich von meiner Mutter und ging auf Wanderschaft.

So wanderte ich durch unser schönes Vaterland, sah viele Städte des Deutschen Reiches. Ich wohnte stets im Kolpingheim und verrichtete alle Schreiner- und Zimmermannarbeiten, die mir angeboten wurden. Ich lernte dabei sehr viel.«

Hier nickte Galen wieder zustimmend, er hatte gerade eine Kostprobe von Alberts guter Schreinerarbeit erhalten.

»Nun Albert und was hat dir das alles bisher gebracht?«

Dieser schmunzelte und meinte. »Zu meiner Familie habe ich so gut wie keinen Kontakt mehr. Mutter schrieb ich einige Male und in ganz großen Abständen meiner Schwester Emilie. Ich stehe alleine auf der Welt und nur auf mich selbst gestellt. In den Jahren der Wanderschaft lernte ich, auf mich selbst gestellt durchzukommen und sich durchzuschlagen. Ich wurde hart und unbeugsam, man sagt den Schlesiern nicht umsonst dicke Schädel nach. Meiner wurde besonders dick. Ich lasse mir nichts mehr gefallen und wenn ich angegriffen werde, kann ich auch wirkungsvoll zurückschlagen. Ich bin ein armer Schreiner, aber keiner sollte versuchen, mit mir den Dummen zu machen. Da ist er bei mir an der falschen Adresse. Wenn ich eine Meinung fasse, bleibe ich dabei. Mein Schädel ist so hart, dass man neben mir eine Bombe entzünden könnte, ohne dass ich weiche.«

Galen nickte verständnisvoll. Er entstammte dem Münsterland und dort sind die Schädel bekanntlich auch recht hart und unbeugsam. Er wusste, dass dieser Albert mit der Einstellung gut durchs Leben kommen würde. Viel sagen würde er sich nicht lassen und eigentlich war Galen für Obrigkeit und Gehorsam. Bei Albert entschuldigte er dessen Einstellung, denn er gehorchte der Kirche und war ihr treuer Diener. Zum preußischen Staat hatte Galen wie alle Katholiken ein zwiespältiges Verhältnis, er mochte diesen protestantischen Staat und seine Vertreter nicht, nannte dieses ein Staatsgottestum, andererseits hielt er an den standesrechtlichen Obrigkeitsverhältnissen fest.

Albert fuhr fort. »Heute las ich in der Zeitung die Begnadigung dieses Hauptmanns von Köpenick und musste herzhaft lachen, obwohl das nicht zum Lachen ist. 1906 stellte dieser das Militär bloß und ist jetzt vom Kaiser begnadigt worden. Ja, ja, unser Kaiser und sein Militär. Dieser Schuster legte den ganzen Wahnsinn dieses Systems blank, eine Warnung, die sehr bald Realität werden kann. Was da geschah sind die Vorboten des Unheils, das auf uns zukommt. Manch einer, der jetzt noch darüber lacht wird sich später wundern, dass er noch lebt. Ich bin nur ein einfacher Handwerksgeselle, stehe gesellschaftlich ziemlich weit unten, direkt neben der Arbeiterschaft. Ich verabscheute deren sozialdemokratische Ambitionen, teilte aber ihre Meinung hinsichtlich der bürgerlichen Gesellschaft. Diese fetten Bürgerlichen gehen mir gewaltig auf die Nerven, ihr Reichtum ist Betrug am einfachen Volk. Jesus sagte nicht umsonst, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als ein Reicher ins Himmelreich gelangte.«

»Du bist ja ein Anarchist Albert, ich sagte es bereits«, schmunzelte Galen. »Was ist, wenn es einen Krieg gibt und das Vaterland in Gefahr ist. Was wirst du dann tun?«

»Als Kanonenfutter zu den Waffen eilen wie alle anderen auch. Ich bin anders als die Sozis kein vaterlandsloser Geselle. Und ich liebe meine Heimat auch und werde sie verteidigen, auch wenn ich den Sinn des Krieges nicht einsehe. Vielleicht bin ich ein Pazifist.«

Galen teilte in diesem Punkt nicht dessen Meinung. Als Sohn eines preußischen Offiziers konnte er das auch nicht. Er liebte wie sein Kaiser das Militär und war stolz darauf. Er würde die Kanonen segnen, die den Soldaten den Tod brachten. Als Kirchenmann hatte er wie fast alle Geistlichen, ob katholisch oder evangelisch, keinerlei Skrupel dazu.

Aber er wollte in das Gespräch keine Schärfe hineinbringen und meinte daher begütigend.

»Da fällt mir noch ein Albert. Morgen Abend haben wir hier einen sehr interessanten Vortrag über Kernenergie. Den solltest du dir unbedingt anhören.«

3.

Nach der Begegnung mit Michael kehrte Jaakov Silberstein in seine Wohnung zurück. Er setzte sich in seinem Speisezimmer an den Tisch und schlug die Zeitung auf. Rachel, seine Frau kam zu ihm und gab ihm einen Begrüßungskuss. Sie waren nun ein Jahr verheiratet und immer noch sehr ineinander verliebt.

»Das Essen dauert noch einen Moment, mein Schatz«, sagte sie und verschwand in die Küche. Jaakov sah seiner schönen Frau nach. Seit der Geburt des ersten Kindes war sie noch schöner geworden, er liebte sie sehr. Sie hatte pechschwarzes langes Haar, ein schmales Gesicht mit eindringlichen Augen und eine aufreizende Figur. Sie war nach der neusten Berliner Mode gekleidet, schick und elegant, aber nicht aufdringlich.

Jaakov war ein gutaussehender mittelgroßer Mann, sehr schlank, allerdings duldete er keinen Bart in seinem sympathischen intelligenten Gesicht und das war eine Ausnahme in dieser Zeit. Er trug einen einfachen bürgerlichen Anzug und jeder erkannte sofort den Advokaten in ihm. Er war achtundzwanzig, seine Rachel vierundzwanzig.

Er schlug die Zeitung auf und sein Blick fiel auf den Artikel über den Hauptmann von Köpenick. Eine merkwürdige Geschichte, dachte er, typisch für unser Land. Papa verehrt den Kaiser und ist stolz auf dieses Deutschland. Er nahm am Krieg 70/71 als Feldwebel teil und erhielt das Eiserne Kreuz Zweiter Klasse (EKII) für besondere Tapferkeit. Er ist stolz darauf und trägt es immer am Sedanstag[3].

Jaakov zündete sich eine Zigarette an und ging im Zimmer auf und ab. Haben wir Juden überhaupt ein Vaterland, sinnierte er, natürlich, das hier ist unseres. Ich bin Oberleutnant der Reserve und wenn dereinst ein Krieg ausbricht, werde ich für dieses Vaterland kämpfen. Eigentlich sind wir Silbersteins keine Juden mehr, wir halten nur notdürftig die Gebote und nur unser unsympathischer Name erinnert an unsere Zugehörigkeit. Ich habe mein Abitur an dem renommierten Friedrich-Wilhelm-Gymnasium gemacht. Er drückte die Zigarette aus, Rachel und das Hausmädchen kamen mit dem Essen. Im Gegensatz zu Michael nannten Silbersteins eine fünf-Zimmer Wohnung ihr Eigen, mit Hauspersonal und allem großbürgerlichen Drumherum. Eigentlich sah er etwas herabblickend auf ihre neuen Nachbarn, kleinbürgerliche Leute, aber sie hatten so etwas. Michael flößte ihm Respekt ein und Anna gefiel ihm ebenfalls, sie strahlten Autorität aus.

»Ich begegnete im Treppenhaus Herrn Trotz auf dem Weg zum Dienst«, sagte er zu Rachel

»Nette Leute«, entgegnete Rachel, »die Frau ist nicht dumm. Für ihren Stand recht gebildet. Respektable Leute, Vater hatte einen guten Griff, sie hier einziehen zu lassen.«

»Außerdem haben sie keine Vorurteile gegen uns Juden«, meinte Jaakov, »sonst wäre sie nicht ins Judenviertel gezogen.«

»Aber wir sind doch keine reinrassigen Juden mehr«, lachte Rachel, «schau dich nur an. Die Religion spielt in deiner und meiner Familie keine Rolle mehr. Dein Vater ist ein reicher Mann, dein älterer Bruder wird einmal das Geschäft erben und du bist ein aufstrebender Rechtsanwalt mit einem Doktortitel. Wir gehen nicht in die Synagoge und viele unserer Bekannten und Freunde sind Nichtjuden.«

»Familie Trotz hingegen ist sehr religiös«, murmelte Jaakov, »sie gehen jeden Sonntag in die Kirche. Aber er ist auch konservativ eingestellt, liebt den Kaiser und das preußische System, das sieht man ihm an.«

»Und du«, fragte Rachel. »Was bist du?«

»Ein wenig anders wie er, und das ich auf der bürgerlichen Stufe höher stehe. Ich denke auch konservativ mit einem Einschlag von Liberalität und bin stolz auf unser Land. Mit dem Kaiser habe ich es nicht so, er ist mir etwas zu aufgeblasen. Ich bin in erster Linie Deutscher und dann erst Jude. Allerdings wünschte ich mir als Bürgerlicher mehr Einflussmöglichkeiten in Staat und Gesellschaft. Dass bei uns der Adel und das Militär den Ton angeben, gefällt mir nicht. Vielleicht sympathisiere ich etwas mit den Ideen von Karl Marx. Die Arbeiterfrage scheint mir wichtig und ich sehe darin Sprengstoff für die Zukunft.«

Sie aßen einen Augenblick schweigend weiter.

»Diese Köpenick Geschichte gefällt mir nicht«, begann er wieder, »ich bin auch für Gehorsam, aber nicht um jeden Preis. Wohin soll das führen. Das Militär hat bei uns sowieso zu viel zu sagen. Dabei ist die politische Lage nicht so rosig, wie das auf den ersten Augenblick aussieht. Wir sind von Bündnissen umzingelt und ein Krieg scheint auf längere Sicht nicht ausgeschlossen. In England und Frankreich bestimmt die Politik die Richtung, bei uns ist das umgekehrt, die Politik überlässt das Primat dem Militär. Das beste Beispiel ist das Flottenprogramm. Weil dieser verrückte Tirpitz den Kaiser beeinflusst, haben wir England als Bündnispartner verloren. Das wird einmal fatale Folgen haben.

Militärs sind immer für den Krieg und sie kennen nur Befehl und Gehorsam. Darauf ist ihr System aufgebaut, aber blinder Gehorsam führt in die Katastrophe. Und dieser Hauptmann hat uns doch gezeigt, wie schwach und brüchig das System letztendlich ist. Alles auf blinden Gehorsam aufbauen, wie die Lemminge einem Führer nachlaufen und in den Untergang.«

»Übertreibst du nicht ein bisschen Jaakov«, schmunzelte Rachel, »es war ein Schelmenstreich sonst nichts.«

»Bei uns haben der Adel und das Militär das Sagen. Aber rings um uns herum verändern sich die Gesellschaften. Wir leben nicht mehr wie zu Bismarcks Zeiten. Er konnte Kriege beginnen und beenden, ohne das viel Schaden angerichtet wurde. Er hatte klare Ziele und wusste was er wollte. Unsere heutigen Regierenden haben das nicht. Sie wollen erhalten und nichts verändern. Aber die Gesellschaft verändert sich, auch bei uns. Hoffentlich werden wir nicht einmal in einen Strudel hineingezogen, der uns böse zu schaffen machen kann.«

»Jaakov, Jaakov, du und die Politik«, lächelte Rachel, »sage das nicht Vater, er wird dich streng rügen.«

»Er würde mir am liebsten eine Tracht Prügel versetzten, wenn er das noch könnte«, lachte Jaakov, »Kinder haben nicht gegen die geheiligte Ordnung zu stehen. Wir wurden im Obrigkeitssinne erzogen, er duldete keinen Widerspruch. Wer nicht gehorchte, wurde ordentlich durchgeprügelt, mein Bruder und ich bekamen einige Kostproben davon.«

»Und du?«, fragte Rachel, »wirst du deine Kinder auch so durchprügeln, sollten sie anderer Meinung sein als du?«

»Nein«, entgegnete er mit Bestimmtheit«, das werde ich nicht tun. Ich denke nicht wie Vater und seine Generation. Wie ich schon sagte, ich bin auch für Autorität und Gehorsam, aber alles mit Maß und Ziel. Im Studium kam ich mit den Ideen von Karl Marx und Engels in Berührung und war in einem Kreis liberaler Studenten. Ich glaube nicht, dass Prügel einen Menschen besser macht und ein Kind schon gar nicht. Spricht nicht dieser Sigmund Freud von frühkindlichen Traumen. Was für eine Gesellschaft ist das, in der die Kinder schon früh durchgeprügelt werden, was wird aus ihnen?«

»Liebe und Geborgenheit gepaart mit Verständnis sind wichtiger als Prügel und blinder Gehorsam«, pflichtete Rachel ihm bei, »und außerdem bin ich dafür, dass wir Frauen das Wahlrecht bekommen. Darin bin ich mit Frau Trotz von unter uns einig, sie sieht das auch so.«

»Jaja, ihr Frauen«, schmunzelte Jaakov, »da seid ihr euch einig. Aber Unrecht habt ihr nicht. Warum sollten Frauen nicht das Wahlrecht bekommen, wenn sie schon studieren dürfen oder als Lehrerinnen und Erzieherinnen tätig sind. Aber in unserer derzeitigen Gesellschaft werdet ihr lange darauf warten müssen. Oder glaubst du wirklich, dass diese aristokratischen preußischen Eisenfresser euch das gewähren würden?«

»Sicher nicht«, lachte Rachel, »willst du Kaffee und einen Cognac?«

»Gerne lieber Schatz und eine Zigarette dazu«

Er umfasste sie und gab ihr einen Kuss.

Schuld ohne Reue

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