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EINLEITUNG „Nihil dictum, quin prius dictum…“1

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Dieses Zitat des altrömischen Komödiendichters Terenz2, das Alberti besonders geschätzt haben muss, da er es gleich mehrfach in seinen Büchern verwendet, kommt einem unwillkürlich in den Sinn, wenn man die unüberschaubare Fülle wissenschaftlicher Abhandlungen zu und über Alberti Revue passieren lässt, die sich in jahrhundertelanger Forschungstätigkeit angesammelt hat: mehrere große Biographien, die erste von Mancini 1882, die letzte von Grafton 2001; über 500 Monographien zu jedem Aspekt seines literarischen, kunsttheoretischen und architektonischen Schaffens; Tausende von Aufsätzen zu Einzelthemen bis hin zu weit abgelegenen Detailproblemen; ein großer Alberti-Kongress 1994 in Mantua. Es scheint, dass alles, was über Albertis Person, sein Leben, seine Schriften und seine Bauten herauszufinden war, bereits herausgefunden ist, dass jedem Hinweis nachgegangen, jede Quelle abgeklopft, jeder Papierfetzen hundertfach gewendet – gerade weil die Anzahl der Originalquellen so erschreckend dürftig ist – und jede Spur seiner Bauten bis ins letzte Detail ergründet und dokumentiert worden ist.

Umso merkwürdiger ist, dass die Vielzahl der Untersuchungen bis heute kein auch nur in Ansätzen konsistentes Bild von Leben und Werk Albertis hervorgebracht hat. Je mehr man liest, desto mehr verschwimmen die Konturen, desto unvereinbarer und widersprüchlicher werden die verschiedenen über Person und Werk aufgestellten Hypothesen. Anscheinend bietet diese in höchstem Maße faszinierende, zwischen Literatur und Architektur, Rhetorik und Malerei, Humanismus und Ingenieurwesen, Klerus und Fürstendienst, aber auch zwischen Euphorie und Depression, staatstragender Würdeprosa und blankem Zynismus, höchster intellektueller Schärfe und plattestem Klischee, erstaunlicher Originalität und bedenkenlosem Ideenraub oszillierende Persönlichkeit eine perfekte Projektionsfläche für die eigenen Vorstellungen und Intentionen des jeweiligen Betrachters. Den Anfang machte schon Jacob Burckhardt, der sein eigenes Idealbild eines „uomo universale“ auf Alberti übertrug und damit den Ton für eine beispiellose Alberti-Apotheose vorgab, in deren Verlauf diesem bis ins 20. Jahrhundert hinein ohne Rücksicht auf Realität und Faktenlage ein gewaltiges architektonisches Oeuvre, eine überragende Stellung am päpstlichen Hof, der entscheidende Einfluss auf Bramante, Leonardo da Vinci und Michelangelo und nebenbei auch noch die Erfindung der Perspektive angedichtet wurde. Tendenziell setzte sich diese Entwicklung nach dem 2. Weltkrieg mit Rudolf Wittkower fort, der seine ganz eigene Vorstellung über das Wesen der Renaissancebaukunst in Albertis Schriften und seine Bauten hineinprojizierte. Vereinnahmt wurde Alberti in jüngerer Zeit aber auch von der Literatur- und Kunstwissenschaft, die das rhetorische Fundament seiner Ausbildung und seiner Schriften freilegte und in der Folge die gesamten architektonischen Vorstellungen Albertis im Wesentlichen auf dessen ästhetische Überlegungen und diese dann auf eine Auseinandersetzung mit Cicero und Quintilian reduzierte. Eine andere Forschungsrichtung konzentrierte sich vor allem auf die städtebaulichen Aussagen in Albertis De re aedificatoria und verstieg sich zu solch einseitigen Aussagen wie: „Albertis Traktat ist vor allem ein Traktat des Urbanismus“3. So prallen die einzelnen Projektionsflächen hart aufeinander, nichts passt zusammen und das Bild vom Leben und Werk Albertis wird mit jedem neu hinzukommenden Teilaspekt nicht klarer sondern unschärfer.

Noch merkwürdiger ist, dass in all der Literatur keine einzige eigenständige Abhandlung über die Architekturtheorie Albertis im engeren Sinne existiert, obwohl es doch seit Krufts Geschichte der Architekturtheorie Konsens zu sein scheint, dass sein Traktat De re aedificatoria „als theoretische Auseinandersetzung mit Architektur … vielleicht der bedeutendste Beitrag ist, der je geleistet wurde“.4 Wo findet sich dann aber die ausführliche Darstellung, Besprechung und Würdigung dieser Architekturtheorie? Wieso ist sie nicht in aller Munde, zumindest mit ihren Grundaussagen, ähnlich wie es die Kategorien firmitas, utilitas und venustas Vitruvs immer noch sind? Wieso wird bei jeder Besprechung dieser „Pioniertat“5, die „das theoretische Fundament für eine moderne Architektur“6 gelegt hat, zwar pflichtgemäß auf einige Unklarheiten und Widersprüche in Albertis Argumentation hingewiesen – sei es das Verhältnis zwischen Säule und Wand, sei es die Beziehung zwischen Schönheit und Schmuck –, aber nirgendwo so viel Interesse für seine Architekturtheorie aufgebracht, dass der Versuch unternommen worden wäre, diese Widersprüche wirklich zu verstehen und aufzuklären? Wieso bleibt Albertis Architekturtheorie daher trotz aller Übersichtsdarstellungen in Anthologien so merkwürdig verschwommen und wirkungslos, obwohl es sich immerhin um die erste Architekturtheorie der Neuzeit nach Vitruv handelt? Oder ist es gar keine neue, eigenständige Theorie? Ist Albertis De re aedificatoria nur eine Adaption oder Fortsetzung von Vitruvs De architectura, eine Art Aktualisierung für die Zwecke der Renaissance ohne grundsätzlich neuen Ansatz, dafür aber wesentlich besser und klarer geschrieben und übersichtlicher geordnet, sodass Alberti allein dadurch in der Wertschätzung der Nachwelt weit vor Vitruv rangiert? Wie sieht es überhaupt mit dem Verhältnis zwischen Alberti und Vitruv aus? Hat Alberti ihn nur benutzt, „ohne ihm irgendeine Ehre anzutun“7, wie Burckhardt meinte, oder war er in weiten Teilen auf Vitruv angewiesen und hätte sein Werk ohne den antiken Vorgängertext nie schreiben können? Wie also sieht Albertis eigene Architekturtheorie tatsächlich aus? Wieweit ist sie von Vitruv abhängig? Was bringt sie neu ein? Was ist heute noch relevant?

Mit diesen Fragestellungen ist das Programm der vorliegenden Arbeit umrissen. Ihre Beantwortung ist Gegenstand der Teile II und III: Alberti und Vitruv sowie Albertis Architekturtheorie. Vorab beschäftigt sich ein erster Teil aber noch mit Leben und Werk Albertis insgesamt und enthält den Versuch, die Diskrepanz zwischen den verschiedenen Alberti-Legenden und der realen Person zumindest in Ansätzen zu verringern. Neben kurzen Überblicken über sein historisches, bauliches und kulturelles Umfeld wird dabei unter anderem solchen Fragen nachgegangen wie: Was ist eigentlich ein Abbreviator (Berufsbezeichnung der Stellung in der Kurie, die Alberti 32 Jahre innehatte)? Wie sah seine berufliche Tätigkeit in Rom – und sein Verhältnis zu den Päpsten – wirklich aus? Was verband Alberti mit dem Florentiner Künstlerkreis um Brunelleschi, Donatello, Ghiberti? Wie umfangreich war sein sonstiges schriftstellerisches Oeuvre und um welche Themen ging es dabei? Wie, wann und warum wurde der Humanist, Schriftsteller, Kleriker eigentlich zum Mathematiker, Ingenieur und Architekt? Waren seine verschiedenen Rollen Ausdruck eines auf ein einziges Ziel gerichteten Handelns oder waren es nebeneinander existierende Facetten seiner Persönlichkeit?

Die Beantwortung dieser Fragen hat allerdings mit zunehmender Beschäftigung eine gewisse Eigendynamik entwickelt, die zugegebenermaßen den Rahmen einer architekturtheoretischen Abhandlung sprengt. Ausgangspunkt war der Wunsch, jenseits der weiter oben beschriebenen Projektionen zu einem fassbareren Bild dieser faszinierenden Persönlichkeit zu gelangen. Die damit verbundene, manchmal auch kritische Sichtweise ist zum Teil sicherlich eine Reaktion auf die maßlose Legendenbildung, drückt aber andererseits nur aus, dass Alberti als Person und in seinen Aussagen tatsächlich ernst genommen wurde. Darüber hinaus war das bessere Verständnis der Person unabdingbare Voraussetzung für das bessere Verständnis des Textes. Im Ergebnis kann Teil I daher auch als zusätzliche Dienstleistung verstanden werden, die das bekannte Wissen über Alberti und den Stand der Forschung so knapp wie möglich zusammenfasst und so dem Leser die Lektüre von einigen dreißig Fachbüchern zu diesem Thema erspart. Ähnliches gilt für die Kurzdarstellung der Inhalte der zehn Bücher und für die neue Inhaltsübersicht am Ende von Teil II.

Leon Battista Alberti

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