Читать книгу Kriminalkommissarin Mareke - Günther Seiler - Страница 3
1. Geschichte: Die Flötistin
ОглавлениеDer Dirigent Sieghart von Drochtersen, ein durch und durch ruhiger und äußerst höflicher Mensch, überlegte nur kurz, ob er sein sonst immer tadellos spielendes Orchester einmal mit einigen lauten Missfallensbekundungen seiner Kritik an der in der heutigen Probe falschspielenden Musikern aufschrecken sollte oder nicht. Er ließ es. Seine anschwellenden Adern im Kopf spürte er schon klopfen und trotzdem schlug er auch diesmal nur leise vornehm, aber vernehmlich mit seinem Taktstock an sein Dirigentenpult. Er hatte in der Nacht in einem dieser unzähligen Hotelbetten schlecht geträumt. Als er wach geworden war, hatte er minutenlang an die Hotelzimmerdecke gestarrt, bis ihm langsam gedämmert hatte, wo er war.
Gestern am späten Abend hatten sie mit dem Orchester nach einer fürchterlichen, zehnstündigen Busfahrt im Dauerregen vom Frankfurter Flughafen Emden in Ostfriesland erreicht. Sie waren von einer vierwöchigen Tournee durch Asien gekommen, wo sie die letzten Auftritte mit einem phantastischen Applaus in Tokio beendet hatten. Eine wundervolle, aufregende Stadt! Und Sieghart hatte zum ersten Mal das Gefühl gehabt, hier seine Zelte in der Zeit nach dem Orchester aufschlagen zu können. Er hatte sich im Flugzeug zurückgelehnt und sich ausgemalt, wie es wohl sein würde, wenn er eine japanische Frau mit Kindern hätte. Die Sprache müsste er natürlich erlernen, das traute er sich zu und die Liebe seiner Frau würde die Initialzündung dafür sein.
Sieghart hatte sich im Bett aufgerichtet und von seinem Nachttisch das Wasserglas genommen und einige Beruhigungstropfen hineingeträufelt. Er war medikamentenabhängig. Alles, was er bekommen konnte, von Beruhigungstropfen, Pillen, andere Einschlafhilfen auf Rezept oder ohne Rezept und Aufwachtabletten, alles war vor ihm nicht sicher. Dazwischen nahm er Stabilisierungsmedikamente gegen Bluthochdruck und auch dann, wenn das Pfeifen in seinem Ohr zu schlimm wurde und er befürchtete, dass sein Blutdruck im unpassenden Augenblick vor dem Orchester absacken würde, wurde mithilfe der Pharmaindustrie erfolgreich nachgeholfen. Las er in der Zeitung von bisher nicht erforschten, unbekannten neu aufgetretenen Krankheiten, so fasste er sich an den Puls und war sich sicher, diese Krankheit schon längst zu haben. Sein Körper war sein Kapital, hatte er sich schon früh in der Dirigentenausbildung gesagt, und das muss ich mir erhalten. Sport trieb er genügend. Er bewegte sich immer am Dirigentenpult und zog seinen schweren Koffer durch die langen Gänge der Flughäfen, das musste nach seinem Gusto ausreichen.
Sieghart hatte hier im Emdener Hotel geträumt, er stünde vor seinem Orchester und die Musiker versuchten verzweifelt, auf ihren Instrumenten zu spielen. Der Bassist sah entsetzt auf seine zerrissenen Saiten und der Tubist verdrehte schon die Augen und bekam aus seinem Instrument keinen Ton heraus. Er hatte schon ganz aufgeblasene Wangen, als mit einem Ruck und viel Staub ein dicker Pfropf aus dem Instrument in die Höhe flog und genau auf den makellosen Frack der ersten Geige fiel. Andere Musiker sahen traurig ihre Instrumente an, die sich langsam in Holzkohle verwandelten und keinen Laut mehr von sich gaben. Da war Sieghart mit Angstschweiß hochgeschreckt und hatte sich noch weit weg in Japan gewähnt.
Isabell Maubach, die begnadete Flötistin mit der weißen, vornehmen Gesichtshaut, bemerkte nach einem kurzen Blick als Erste, dass dem Maestro, den sie heimlich verehrte, etwas nicht recht war. Sie sah verschämt hoch und erhaschte kurz seinen Blick, der ihr völlig gleichgültig erschien. Nun sagte er betont laut und akzentuiert, damit man ihn auch auf den hinteren Musikerplätzen hörte: „Herrschaften, so kommen wir nicht weiter. Ich weiß, der Flug von Japan nach Deutschland war lang, aber bitte, mehr Konzentration, wir haben heute Abend eine Aufführung und die soll sitzen. Das sind wir schließlich dem zahlenden Publikum schuldig. Also, nochmal von vorne!“ Die Instrumente wurden nachgestimmt, der Maestro wartete einen Augenblick ab, sah in sein Orchester und hob den Taktstock. Er riss die Arme nach unten und fulminant setzte das Orchester ein.
In seinem Augenwinkel sah er plötzlich, dass die Flötistin Isabell Maubach sich kurz nach vorne beugte, um sofort ihre Flöte wieder in der Waagerechten auszutarieren. Sieghart von Drochtersen wollte schon seinen Blick zu den Bratschen wenden, als seine erste Flöte mit einem Krachen nach vorne fiel. Ihre Noten segelten auf den Boden und der Aufprall ihres Instrumentes ging in der nach und nach abbrechenden Musik unter, denn der Dirigent stoppte sein Orchester. Sieghart eilte zu Frau Maubach, die inzwischen verkrümmt in der engen Stuhlreihe lag. Einige Kollegen bemühten sich schon um sie, als der Maestro mit seinem Körper sehr kurios seitwärts versetzt durch die Reihen angetänzelt kam. „Weg, machen Sie doch Platz. Meine Liebe, was ist geschehen? Ist Ihnen schlecht geworden? Der Flug von Japan war aber auch wirklich sehr anstrengend!“
Die zweite Geige sah hoch: „Mörderisch.“ Der Dirigent blieb kurz stehen: „Wie bitte?“ Die zweite Geige ergänzte: „Mörderisch, ich meine den Flug.“ Sieghart beachtete den Musiker nicht weiter und beugte sich zu seiner Flötistin, die blass auf dem Boden lag und die Augen geschlossen hielt. Sieghart stand auf und ruderte wild mit den Armen und schrie: „Sanitäter, ist denn hier kein Sanitäter?“ Den Hauptgang entlang lief nun eilig ein Theaterinspizient in seinem wehenden, grauen Kittel und einem Erste-Hilfe-Koffer mit einem großen roten Kreuz auf der Vorderseite.
Sieghart winkte ihm hektisch zu, wobei er bemerkte, dass er immer noch den Taktstock in der Hand hielt. Es sah schon von weitem wie bei einem Slapstick aus, wenn man die aufgeregten Musiker und den Dirigenten sah, wie dieser den Inspizienten zum Platz der Flötistin heranwinken sah. Sie machten Platz und überließen der Ersten Hilfe das Feld. Dieser beugte sich mühsam über Frau Maubach und kam nach kurzer Zeit kopfschüttelnd wieder hoch: „Tot, sie ist tot.“ Sieghart ließ vor Schreck seinen Taktstock fallen und zog ein Taschentuch aus der Hosentasche. „Wie kann es sein, sie hatte ja noch den Einsatz.“ Er sah seine Musiker ratlos an, die aber nur die Schultern zuckten und Sieghart fuhr fort: „So jung, sie war ja noch so jung.“
Der Notarzt hatte nach einem kurzen Augenblick sein Stethoskop eingerollt und den Dirigenten mit seinen vielen Fragen einfach wortlos zur Seite geschoben: „Mein Herr, Sie haben mich vom ersten Augenblick des Betretens des Konzertsaales gestört. Auch wenn Sie der Dirigent sind und Sie sich für Ihre Truppe einsetzen, so muss ich doch höflichst bitten.“ Sieghart wurde blass und sagte pikiert: „Truppe, wir sind doch keine Militärkapelle.“ Der Arzt aus dem Emdener Krankenhaus, Doktor Werner Korbmann, hatte von diesem aufgeblasenen Dirigenten nun genug, ging wortlos an ihm vorbei, zog sein Handy aus der Hosentasche und rief die Polizei. Danach drehte er sich zum nächsten Musiker um, als wäre der Dirigent nicht mehr im Saal: „Nichts anfassen oder verändern, die Kripo kommt gleich. Sagen Sie das Ihrem aufgeregten Chef oder muss ich ihm eine Beruhigungsspritze geben?“ Sieghart hörte schweigend und fassungslos zu. Und in seinem Innersten nickte seine Medikamentensucht still nach der Spritze mit dem Kopf.
Frau Mareke Menke, eine moderne junge Frau, stand auf dem Parkplatz des Polizeipräsidiums Emden und wollte gerade mit ihrem alten Rad nach Hause fahren, als das Fenster im ersten Stock geöffnet wurde. „Mareke, du möchtest zum Polizeirat Mertens kommen.“ Sie sah verblüfft zum Fenster hoch und schloss ihr Fahrrad wieder an. „Ist gut, ich komme.“ Sie nahm, sportlich wie sie war, die Treppe und klopfte an der Tür des Zimmers ihres Vorgesetzten an. „Herein,“ rief Herr Mertens und Mareke trat ein. Er stand auf und begrüßte sie: „Frau Menke, wir sind uns bewusst, dass Sie erst kurz in dem Kommissariat sind und es wird bestimmt eine Menge erstauntes Gerede hier in der Dienststelle geben. Das meine ich auch im Hinblick auf Ihr junges Alter. Hier werden sich einige ältere Kollegen auf den Schlips getreten fühlen. Aber was soll es, wir wollen unser Kommissariat verjüngen und nun fange ich damit an. Wir haben uns entschlossen, Ihnen die Ermittlung zur Sonderkommission ‚Orchester’ zu geben, um die Umstände des Ablebens der Flötistin aufzuklären. Hier ist die Akte, lesen Sie sich gleich ein und beginnen Sie mit Ihrer Arbeit, denn ich kann das Orchester nicht über Tage in Emden festhalten. Mir wurden von dem Dirigenten schon Schadenersatzansprüche angedroht.“ Mareke sah ihn verblüfft an: „Ja, danke, damit habe ich nicht gerechnet. Mit der Aufgabe meine ich.“ Der Polizeirat nickte fast väterlich, Mareke nahm die Akte und lief in ihr Büro.
Nach zwei Stunden intensivem Aktenstudiums klingelte ihr Telefon und die Zentrale stellte ihr ein Gespräch durch. Sie hatte gleich dort ihre Zuständigkeit für die SOKO ‚Orchester’ mitgeteilt, damit alles reibungslos lief. Sie nahm das Gespräch an. „Guten Tag, mein Name ist Menke, Kriminalkommissarin Mareke Menke“, sagte sie verlegen. Der Anrufer erwiderte: „Meinen Namen sage ich nicht! Es geht um die tote Musikerin, die Flötistin aus dem hier gastierenden Orchester. Fragen Sie einmal den aufgeblasenen Dirigenten, der zum einen medikamentensüchtig ist und zum anderen mit der Flötistin Isabell Maubach ein Verhältnis hatte. Die soll sogar ein Kind von ihm bekommen, obwohl das ganze Orchester weiß, dass der schwul ist.“ Der Anrufer lachte dreckig: „Ich habe die beiden in Tokio in einer schäbigen Kneipe gesehen, ein alter Karaoke-Schuppen. Sie hielten erst Händchen, dann stritten sie und Isabell verließ erbost die Kaschemme.“
Es knackte in der Leitung und Mareke rief die Zentrale an: „Menke, bitte können Sie verfolgen, woher das Gespräch eben auf meiner Leitung kam?“ Die Telefonistin sagte mit belegter Stimme, sie hatte offensichtlich eine starke Erkältung: „Nein, tut mir leid, das war ein Anruf mit unterdrückter Telefonnummer. Aber ich habe einen Bandmitschnitt, den lasse ich ausdrucken und schicke ihn in Ihr Büro.“ Mareke sah nachdenklich aus dem Fenster und bedankte sich.
Sie suchte aus dem Adressenspeicher die Telefonnummer der Pathologie und bat um einen Rückruf des Pathologen Doktor Holger Schreiber. Nach einer halben Stunde meldete sich atemlos der Pathologe und klang wie immer fröhlich: „Schreiber, hallo Frau Menke. Ich sollte Sie anrufen?“ Mareke lauschte dem schwer atmenden Pathologen. „Was ist, was haben Sie? Leiden Sie unter Asthma?“ Doktor Schreiber lachte: „Nein, ich steige nur schnell die Treppen hoch, den Fahrstuhl benutze ich seit Wochen nicht mehr, Fitness, abnehmen, wissen Sie. Mein Hausarzt hat mir strikt eine gesündere Lebensführung verordnet, wenn ich gesund bleiben möchte und wie er meinte, nicht vorher bei einem Kollegen still an die Decke schaue. Das würde leicht passieren, wenn ich so weitermache. Ein Witzbold, mein Hausarzt. Aber deswegen riefen Sie hier bestimmt nicht an. Womit kann ich Ihnen helfen?“
Mareke schaute schon gelangweilt zur Zimmeruhr. „Es geht um den Fall der Flötistin, Frau Maubach. Ich bekam einen anonymen Anruf mit dem Hinweis, dass die Dame schwanger gewesen sein soll. Haben Sie sie schon seziert?“ Der Pathologe meinte mit einer inzwischen ruhigeren Atmung: „Na ja, seziert hört sich nicht so schön an, klingt so endgültig. Wir sagen lieber obduziert. Nein, die Obduktion der Leiche steht als erste für Morgen früh an. Ich rufe Sie sofort an, wenn mir die Ergebnisse vorliegen.“ Mareke bedankte sich und legte auf.
Ihre Kollegin hatte sich schon in den Feierabend verabschiedet und so nahm sie sich vor, den Dirigenten alleine aufzusuchen. Sie sagte aber dem Kriminaldauerdienst Bescheid, wohin sie ging und, falls sie sich in der nächsten Stunde nicht melden sollte, sollten diese einen Streifenwagen in das Hotel ‚Moorblick’ schicken, wo das gesamte Ensemble logierte. Mareke steckte ihre Waffe in ihre Handtasche, obwohl sie wusste, dass das gegen die Vorschrift war. Aber der Holster drückte immer so unangenehm an ihrem Körper.
Nach kurzer Fahrt kam sie im Hotel an und meldete sich bei dem Pförtner. Der zeigte nur mürrisch in den Garten, als sie nach dem Herrn Dirigenten von Drochtersen fragte. Dieser lief alleine unter den Bäumen umher und schien in Gedanken eine Partitur durchzugehen, so, wie er wild mit den Armen hin und her ruderte. Mareke stand eine Weile hinter ihm und räusperte sich: „Entschuldigung, Herr von Drochtersen. Ich hätte Sie gerne einen Augenblick gesprochen.“ Der Maestro hielt inne und sah sich um, als hätte man ihn beim Naschen eines Honigglases im Keller erwischt. „Ja bitte, wer sind Sie?“, fragte der Dirigent überrascht. „Mein Name ist Mareke Menke, ich bin von der Kripo Emden und mit den Ermittlungen in der Sache Ihrer Musikerin Frau Maubach beauftragt worden. Hier ist mein Dienstausweis.“ „So? Solch junge Dinger dürfen nun schon bei der Polizei mitspielen? Gehören Sie nicht eigentlich in die Sandkiste? Sind Sie denn schon volljährig für die Räuber- und Gendarmenspiele?“ Der Maestro verzog verächtlich süffisant sein Gesicht.
Mareke hatte sich angewöhnt, auf derartige, unverschämte Attacken vornehmlich von Männern nicht mehr zu achten. Frauen konnten zwar auch in dieser Richtung richtig gemein werden, die machten es aber anders und dort kam immer Neid auf jüngere Frauen auf. Die Spitzen ihrer Geschlechtsgenossinnen waren auch sehr viel diffiziler und gingen tiefer unter die Haut. Die Männer waren diesbezüglich schlicht plump. Sie kannte das schon von der Insel Baltrum her, ihrer Heimat, als sie früh sagte, dass sie mit sechzehn Jahren zur Polizei gehen wollte und bei einer Familienfeier einmal sagte, dass sie eines Tages bei der Abteilung arbeiten möchte, die sich ausschließlich mit Tötungsdelikten und Morden beschäftigte. Dort wollte sie sich sogar als Leiterin dieser Abteilung hocharbeiten. Als ein Onkel ihr sagte, also bei der Mordkommission, da meinte Mareke, diese Abteilung gibt es nur im Krimi, im Fernsehen, denn es wird immer eine Mord- oder Sonderkommission gebildet, wenn der Verdacht eines unnatürlichen Todes anstand. Merkwürdigerweise blieb es in der Runde still und alle ahnten wohl, dass sich Mareke keine Flausen in den Kopf setzte und es ernst meinte. Sie hatte sich mit diesem Thema schon auseinandergesetzt. Ihre Eltern jedenfalls waren stolz auf sie.
„Herr von Drochtersen, ich komme auf Ihre Orchestertournee in Japan, respektive auf Tokio zurück. Direkte Frage und Sie müssen nicht antworten und Sie können jederzeit einen Rechtsbeistand hinzuziehen. Hatten Sie ein Verhältnis mit Frau Isabell Maubach, Ihrer Flötistin?“ Sieghart wurde blass als er stammelte: „Nein, äh, woher haben Sie das?“ Mareke sah ihn fest an: „Bitte beantworten Sie konkret meine Frage.“ Sieghart sah sich um, wohl mehr um zu erfahren, ob sich ungebetene Zuhörer in der Nähe befanden. Dann entdeckte er eine Bank und lief die wenigen Schritte darauf zu. Er setzte sich und Mareke folgte ihm, blieb aber stehen. Sieghart von Drochtersen holte umständlich sein Taschentuch aus der linken Hosentasche, wohl mehr um Zeit zu gewinnen, denn er wusste nicht sofort, ob er sich die Stirn abwischen wollte oder ob er schnäuzen musste. „Nun, ja, also wie Männer nun mal sind. Ich bin alleine, nein das stimmt nicht ganz, Sie wissen wahrscheinlich mehr, also sage ich es. Ich bin homosexuell, nein, also ich habe Beziehungen zu Männern und Frauen. Aber ich fühle mich mehr zu Männern hingezogen und ich habe in Stuttgart seit zwanzig Jahren einen Partner. Der weiß davon nichts, äh, ich meine, dass ich, also, auch bisexuell bin.“ Sieghart hatte sichtlich Schwierigkeiten, darüber zu reden und dann noch mit so einem jungen Ding.
Mareke sah ihn weiter an und an ihren Augen merkte er, dass sie das mit seiner Homosexualität bereits wusste. „Sie haben aber immer noch nicht meine Frage beantwortet.“ Mareke blieb unerbittlich. Sieghart wurde unsicher und in seinem Innersten spürte er, dass er diese junge Frau unterschätzte. Er nahm einen kleinen Ast und malte wie abwesend in den Sand. „Ja, hatte ich“, knurrte er gepresst. „Sind Sie nun zufrieden?“
Mareke blieb ruhig: „Herr von Drochtersen, ich bin hier, um in einer ungeklärten Todessache zu ermitteln, das ist mein Job, den mir der Staat verliehen hat. Ich bin hier nicht in den Ferien in diesem schönen Hotel. Weiter, was geschah genau in Tokio? Hatten Sie Streit mit Frau Maubach? Und worum ging es?“ In Siegharts Kopf leuchtete langsam eine kleine rote Alarmlampe auf. Es musste sie jemand in der Kaschemme in Tokio beobachtet haben. Er musste aufpassen, keine Fehler zu machen, und es war wohl besser von ihm, darüber ehrlich zu erzählen. „Ja, sie sagte mir, sie wäre schwanger und ich wäre der Vater. Für mich brach eine Welt zusammen, ich fürchtete um meine Reputation, als Dirigent und als Musiker. Ich sah insgeheim schon, wie mein Orchester hinter meinem Rücken sich vor Lachen und Häme ausschütten würde und wie mein Freund in Stuttgart starr vor Schreck vor mir stehen würde, wenn ich ihm reinen Wein einschenken müsste. Mir war, als würde meine Zukunft wie in einem Strudel in den Orkus abwärts gehen, fürchterlich. Meine schwulen Freunde würden, wenn sie mich sehen, die Arme schaukeln, als müssten sie ein Baby wiegen.“
Mareke hörte sich das mit Schaudern an und meinte, also daran dachten die Männer bei der Nachricht einer Schwangerschaft zuerst, wie das wohl von den Mitmenschen aufgenommen werden würde, die Reputation würde leiden. Mareke fing an, für diesen Schwächling Verachtung zu empfinden und musste sich selber zur Ordnung rufen. Sie war nicht hier, um für die Rechte der Frauen einzustehen, denn sie war als Kriminalbeamtin im Dienst. „Wann haben Sie Frau Maubach zuletzt gesehen? Ich meine, nicht als Ihre Musikerin im Orchester.“ Sieghart sah erschöpft und zehn Jahre älter aus: „Am Morgen ihres Todes. Ich frühstückte mit ihr auf meinem Zimmer. Normalerweise frühstücke ich immer alleine. Das mache ich immer so, denn ich kann Menschen nicht immer um mich herum ertragen, ich brauche meine Ruhe, um mich auf ein Konzert vorzubereiten. Ich meditiere gerne. Dazu habe ich leise klassische Musik laufen, nicht von meinem eigenen Orchester, denn ich überprüfe ständig meinen Stil. Ich werde von einem enormen Versagensdruck in meinem Leben begleitet. Ich habe ständig Angst, etwas falsch zu machen.“
Mareke spürte etwas wie Mitleid, aber sie blieb gelassen: „Ist das der Grund warum Sie tablettenabhängig sind?“ Mareke hätte nun gedacht, ihre Frage wäre bei ihm wie ein Donnerhall angekommen, doch der Dirigent schaute sie nur traurig an und zu ihrem Erstaunen nickte er bedächtig mit dem Kopf: „Ja, nach außen hin gebe ich mich immer souverän, tue so, als könnte ich auf meinen Schultern unbegrenzt die Probleme von anderen Menschen tragen, dabei sehne ich mich darum, von anderen einmal lieb in den Arm genommen zu werden. Ich spüre immer mehr, dass ich nicht mehr wie früher immer vorwegmarschieren kann. Ich hätte es auch gerne, wenn mich mal jemand an die Hand nehmen würde und zu mir sagt, das bekommen wir schon hin, fürchte dich nicht, was kommt, ich bin bei dir. Habe keine Zukunftsangst. Alles wird gut, du bist ein guter Dirigent. Die Erfolge beim Publikum geben mir ja sogar Recht. Ich habe aber immer Zweifel und kann mich sogar nach einem gelungenen Konzert nicht entspannt zurücklehnen. Da plane ich schon wieder das nächste Konzert und auch die Reisen bereiten mir immer mehr Plagen. Ich verreise nicht gerne, muss es aber. Dann nehme ich Tabletten und sage mir immer, bald damit aufzuhören. Wenn ich ehrlich zu mir bin, gehöre ich schon seit Jahren in eine Therapie. Ich bin dabei, mich zu zerstören.“
Sieghart konnte nicht mehr weiterreden, er weinte. Mareke konnte weinende Männer nur schwer ertragen. Nicht, dass sie sehr mitleidig wäre oder sie die Einstellung hatte, Männer weinen nicht. Sie hatte ihren Vater auf ihrer Heimatinsel Baltrum selber zu oft weinen sehen. Bei kleinen Schwierigkeiten brach ihr Vater immer gleich in Tränen aus und das empfand sie als Kind schon beängstigend, denn der starke Fels in ihrer Lebensbrandung fehlte ihr. Aber so war es nun einmal.
„Sie sagten eben, Sie hätten mit Frau Maubach gemeinsam auf Ihrem Zimmer gefrühstückt. Ist Ihnen an ihr etwas Ungewöhnliches aufgefallen, war sie depressiv oder aggressiv? Hatte Frau Maubach Ihnen Vorwürfe wegen der Vaterschaft gemacht?“ Sieghart wischte sich mit dem Taschentuch die Tränen ab: „Schlimmer noch. Nein, nichts dergleichen. Sie saß nur da, aß ein Toast und sagte nichts. Sie wirkte wie versteinert, ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Sie starrte einfach leer vor sich hin.“ Mareke holte Luft, denn nun kam eine Frage, die es in sich hatte: „Herr von Drochtersen, haben Sie Frau Maubach umgebracht?“ Er blickte sie an, als wäre er noch in Tokio und sie hätte die Frage auf Japanisch gestellt. „Nein, nein“, schrie er hysterisch, „Wie hätte ich das denn machen sollen? Sie ist doch während der Probe plötzlich zusammengesackt und ist gestorben, vor meinen Augen.“
Mareke ging einen Schritt zurück: „Sie hätten den Toast vergiften können. Mit einem Gift, das langsam wirkt und in der Probe, quasi vor den Augen des ganzen Orchesters als Zeugen wäre Ihr Werk vollendet worden.“ Mareke spürte, dass sie zu weit gegangen war. Sie wartete seine Reaktion ab, doch der Maestro wurde ruhiger und schüttelte heftig den Kopf, so, als wollte er sich die Frage aus dem Hirn entfernen. „Nein, ich habe ihr auch keine Medikamente gegeben, Sie können das ja ohnehin von der Gerichtsmedizin leicht überprüfen lassen. Ich bin sicher ein Mensch mit Unzulänglichkeiten, ich bin aber kein Mörder, das können Sie mir glauben.“
Das Handy klingelte und Mareke entfernte sich einige Meter von dem Dirigenten. „Ja bitte, Mareke Menke am Telefon.“ „Hier spricht Holger Schreiber von der Pathologie. Frau Menke, ihre Musikerin, die Flötistin starb an Leichengift.“ Mareke sah sich verblüfft um und fing den fragenden Blick des Dirigenten auf, als der Pathologe weitererzählte: „Ja, Leichengift. Die Gute war schwanger, doch der Fötus war abgestorben und vergiftete Frau Maubach. Sie muss schon in den letzten Wochen keine Bewegungen des Kindes mehr verspürt haben. Dann der Flug nach Japan, der Auftritt und die Rückreise. Sie war damit abgelenkt worden. Wenn sie immer kontinuierlich bei einem Gynäkologen in Behandlung gewesen wäre, hätte der Kollege das rechtzeitig bemerkt. Also, ein natürlicher Exitus der Musikerin.“
Mareke bedankte sich und war verwundert, dass ein Pathologe sich als einen Kollegen eines Gynäkologen bezeichnete. Na ja, sind letzten Endes alles Mediziner. Herr von Drochtersen sah sie an und Mareke wich einen Augenblick seinem Blick aus, dann aber sah sie ihm fest in die Augen. „Bitte entschuldigen Sie meinen Verdacht und meine Fragen, aber ich musste Klarheit haben. Eben rief die Gerichtsmedizin an, Frau Maubach verstarb an dem Leichengift ihres Babys. Der Fötus war schon vor längerer Zeit abgestorben. Mein Beileid.“ Mareke gab ihm die Hand, schaute ihn an und bemerkte, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten. Sie wandte sich zum Gehen und wischte sich auf der Treppe des Hotels verstohlen die Tränen mit dem Handrücken ab. Auf dem Parkplatz holte sie tief Luft und sah, dass neben ihrem Dienstfahrzeug und ihrem Fahrer zwei Streifenwagen standen. Die uniformierten Kollegen sahen sie an und der Streifenführer ließ die Scheibe herunter: „Alles klar? Der Dauerdienst hatte uns gebeten, hier auf Sie zu warten.“ Mareke winkte ihnen dankbar zu, es war ein gutes Gefühl zu wissen, dass man nicht alleine war.