Читать книгу Kriminalkommissarin Mareke - Günther Seiler - Страница 5
3. Geschichte: Die Floristin
ОглавлениеNein, man konnte wirklich nicht sagen, dass ihr nach all den langen Jahren das frühe Aufstehen leichtfiel. An sich hätte sie darin Routine haben müssen, denn hier auf dem Blumenmarkt in Emden war es wie überall auf den Blumenmärkten, frühes Erscheinen wurde mit guter Ware belohnt. Aber es war nicht leicht, jetzt bei diesem nasskalten und nebeligen Wetter Anfang November an der Küste der Nordsee aus den Federn zu kommen. Zumal, wenn man starke Schmerzen im Rücken verspürte und das nächtliche Liegen die Knochen versteifte. So, als weigerten sich die Gelenke, aus der gemütlichen Ruhephase ihren von der Natur vorgesehenen Dienst zu verrichten, sich nämlich zu krümmen und elastisch zu werden. Ricarda Harms-Otte war schon am Ende der Sechzig angekommen, wie man so landläufig sagte. Sie war ja nun kein junges Mädchen mehr und schleppte nun fast vierzig Jahre die schweren Blumen in großen Bündeln herum. Aber ihr Beruf machte ihr immer noch großen Spaß, wenn sie die duftenden, frischen Blumen aus aller Welt in ihren Armen hielt und daran roch. Sie stellte sich immer noch vor, dass am Vortag diese noch auf einem großen Blumenfeld irgendwo in Afrika oder Asien in der Sonne gestanden hatten und sie diese jetzt in ihrem Arm hielt. Ricarda behielt sich ihren kindlichen Glauben an die Feldblumen, wie sie immer zu sagen pflegte, obwohl sie wusste, dass diese meist aus den Niederlanden, Polen oder aus Afrika aus einem Gewächshaus kamen.
Ricarda Harms-Otte war trotz ihres Doppelnamens nie verheiratet gewesen. Ihre Eltern gaben ihr den Namen mit auf den Lebensweg, mit dem sie in der Schule oft gehänselt worden war, indem ihr Name einfach in ‚Ricarda die Motte’ umgetauft worden war. Zuerst hatte es sie gestört und sie hatte sich mit überlegten Gegenhandlungen mit Namensverballhornungen der Mitschüler gewehrt. Aber irgendwann war es ihr zu dumm geworden und sie hatte nichts mehr gesagt.
Um drei Uhr klingelte heute in der Früh ihr Wecker. Der Regen tropfte leise mit monotoner Regelmäßigkeit auf das Vordach und alle paar Minuten, wenn sich in der Dachrinne durch Blätteransammlungen genügend Regen den Weg frei bahnte, kamen im kurzen Stakkato dicke Tropfen hinterher. Es war so, als würden nervöse Finger auf ein Blech trommeln, um für ein zeitiges Aufstehen zu sorgen.
Der Kaffeeautomat war von ihr schon grundsätzlich seit Jahren immer am Vorabend auf zwei Uhr in der Nacht programmiert worden, damit sich das Aufstehen durch den guten Kaffeeduft lohnen sollte. Ricarda hatte einmal in einer Zeitschrift im Wartezimmer ihres Hausarztes gelesen, dass sich mehr einsame Menschen als man dachte, am Morgen den Kaffeeautomaten programmierten, um vorzutäuschen, der Partner wäre schon aufgestanden, um das Frühstück zu richten. Ricarda konnte leicht nachvollziehen, dass Einsamkeit weh tun konnte.
„Jetzt aber aus dem Bett, die Kunden wollen neue Ware! Los Ricarda, hopp, hopp!“ In dieser abgewandelten Form und in Anlehnung an ihre Mutter motivierte sie sich. Ihre Mutter hatte dabei immer sehr laut in die Hände geklatscht, damit Ricarda pünktlich zur Schule kam.
Eine dreiviertel Stunde später stand Ricarda wie ungezählte Male vor dem Blumengroßmarkt in Emden. Es wurde immer schlimmer einen Parkplatz zu finden. Sie wollte immer am liebsten direkt am Ausgang parken, damit sie den Karren voller Ware schnell einladen konnte. Der Marktleiter kam zufällig vorbei und hatte für die Kunden immer ein freundliches Wort übrig. Ricarda hatte sich schon am Abend vor den Zwanzig-Uhr-Nachrichten angewöhnt, einen Zettel für den Großmarkt zu schreiben. Sie achtete immer darauf, was die Kundschaft in der laufenden Woche nachgefragt hatte.
Ihren Karren mit der weißen Nummer dreiunddreißig schob sie in Richtung der Friedhofsgestecke, denn diese waren jetzt im November gefragt. Es war noch nicht richtig viel los im Großmarkt, aber so langsam füllte er sich mit den Händlern. Die Ware mit neuen, frischen Blumen in Kübeln und großen Verpackungen wurde durch die Gänge geschoben. Gabelstapler mit aufgetürmten Kisten und kleinen Anhängern dahinter suchten sich den Weg zu den Ständen. Ricarda war wie immer von dem Anblick im Großmarkt fasziniert und versuchte sich gerade an der Kreuzung zu den Stauden und Kleingewächsen für den Garten zu orientieren, als ein kurzes Geräusch ertönte, das hier nicht hingehörte.
Das gedämpfte Plopp, Plopp hörte niemand. Ricarda fiel nach hinten, ein Schuss traf sie direkt am Jochbein und einer unterhalb der Nase an der Oberlippe. Die Wucht der Projektile rissen ihr förmlich die Füße weg. Ihr Bestellzettel segelte langsam zu Boden, wo sich Ricardas Leiche schon befand, der Kopf voller Blut. Ihre Beine und Arme waren bizarr verrenkt, ein Bein lag völlig unter ihrem Körper verdreht. Der nette Marktleiter von eben war der erste, der den Vorfall bemerkte und sein Funkgerät aus der Tasche zog, während er sich zu Ricarda hinunter bückte.
Die Kommissarin Mareke Menke stand übermüdet von einem Urlaubsrückflug vor der Leiche. Sie hatte dummerweise ihren Urlaub bis zum letzten Tag ausgedehnt und gedacht, dass sie aufgrund ihrer Jugend das nächtliche Fliegen gut wegstecken konnte. Weit gefehlt, der Urlaub in Mexiko war aufregend, doch sehr anstrengend gewesen. Sie hatte sich mit der Lösung des letzten Falles weder im privaten noch im dienstlichen Bereich nur Freunde geschaffen. Im Präsidium wurde sie geschnitten und der des Mordes an der Schulleiterin überführte Polizeirat Horst Mertens hatte mehr Freunde bei der Polizei, die es immer noch nicht wahrhaben wollten, dass nun der Herr Polizeirat Mertens rechtskräftig verurteilt worden war und seine Jahre im Gefängnis absitzen musste.
Ihre Mutter hatte sich von ihrem Vater scheiden lassen, das Hotel auf Baltrum war verkauft worden und aus dem Tonfall am Telefon mit ihrer Mutter schloss sie, dass man Mareke wohl die Schuld am Scheitern der Ehe gab. Mareke ärgerte sich, hätte sie bloß ihrer Mutter nichts davon erzählt, dass ihr Mann in dem dubiosen Chatraum unterwegs war. Ja, es hatte einen Moment gegeben, wo Mareke ihren Vater für den Mörder an Helene Zimmersohn gehalten hatte. Es waren aber nur Gedankenspiele gewesen und dafür sollte man sich selber nicht abstrafen. Das Leben konnte schon sehr merkwürdige Kapriolen mit einem veranstalten.
Der Arzt hatte die Leiche von Ricarda Harms-Otte untersucht. In ihrer Schürzentasche hatte man einen Brief gefunden, der offensichtlich von einem Stalker der hartnäckigen Sorte verfasst worden war. Darin hatte er seine Liebe zu Ricarda erklärt, die anscheinend schon Jahrzehnte dauerte. Also sagte Mareke mit einem Kopfbrummen des Jetlags zu ihrer Assistentin, sie solle in der neugegründeten Sonderkommission ‚Blumenmarkt’ die bereits bewährten Kollegen zusammen holen und in der Richtung eines älteren Stalkers ermitteln. Es könnte gut und gerne ein alter Bekannter der Polizei sein.
Mareke hatte sich schon beim Betreten der Blumenhalle für diesen SOKO-Namen entschieden und wollte sich dafür die Genehmigung der neuen Polizeirätin Frau Jelte Oltmanns holen. Die Polizeipräsidentin Frau Helma Kaufmann wollte sie damit nicht behelligen. Alles lief eingespielt, wortlos und ohne Arbeitsfreude ab. Mareke nahm sich vor, sich bei einem langen Spaziergang alleine über ihren weiteren Berufsweg klar zu werden. Die feindliche Stimmung hier im Polizeipräsidium Emden würde sie auf Dauer nicht durchhalten. Sie war der Meinung, ihre Arbeit bisher gut zu gemacht zu haben, die Straftäter suchte sie sich schließlich nicht selber aus. Wenn ein Polizeirat ein Verbrechen beging, war dieser für sie nichts anderes als ein Straftäter. Denn vor dem Gesetz waren schließlich alle gleich. Sie würde genau so gegen den Präsidenten des Landgerichtes Aurich vorgehen, wenn dieser strafrechtlich in Erscheinung treten würde.
Mit diesem Rechtsverständnis war sie zur Polizei gegangen und zum Glück unterstützte sie die Staatsanwaltschaft Emden in ihrer Auffassung. Das hatte ihr in einem Gespräch der Oberstaatsanwalt Dominic Großerjahn gesagt, worüber Mareke sehr froh war. Er hatte ihr auch zugesagt einzugreifen, falls das Mobbing unter den Kollegen bei ihr zu einer Belastung wurde. Und das war es geworden, weswegen sie außerplanmäßig Urlaub genommen und sich eine teure Reise nach Mexiko gegönnt hatte, ein heimlicher Traum. Man braucht im Leben immer eine Liane, an der man in Gedanken dahin schwingen konnte, dahin, wo es einem Freude machte. So hatte man Kraft, schwere Dinge im Leben zu überstehen. Das konnte ein Hobby sein, ferne Länder oder ein neues Auto, das man in Gedanken schon einmal fahren möchte. Hoffnung und Vorfreude sind die größten Verhinderer, dass man in Depressionen versinkt, sich aufgibt und mit schlechter Laune durchs Leben geht. Das zerrt nur am eigenen Lebensgerüst, macht alt, krank und lässt einen schließlich verzweifeln. Weitere Vorstellungen in dieser Richtung verweigerte Mareke sich gegenüber.
Die Spurensicherung arbeitete schnell und wortkarg, das hatte aber nichts mit Mareke zu tun. Die Kollegen der Spusi redeten nie viel. Der Bestatter Ingo Harms, mit der Toten nicht verwandt oder verschwägert, zog sich in seiner Nervosität mehrfach die Handschuhe an und wieder aus. Er räusperte sich schließlich und trat von einem Fuß auf den anderen, er wusste nicht, wie er sich bemerkbar machen sollte, denn er hatte noch einen dringenden Abholtermin in einem Altenstift. Er sagte zu seinem Assistenten: „Tagelang ist nichts und dann drubbelt sich alles. Es ist zum Mäusemelken und am späten Abend muss ich mir das Gemecker meiner Frau anhören, dass ich heute und wieder ausgerechnet an ihrem Geburtstag mit Leichen zu tun habe. Als würde ich das extra machen, um sie zu ärgern. Dabei müsste sie doch als Tochter eines Bestatters aus Oldenburg wissen, wie es in unserem Beruf zugeht.“
Der Mitarbeiter sagte wohl mehr, um die Zeit zu überbrücken: „Kannten Sie die Blumenfrau Harms-Otte?“ Ingo Harms sah ihn von der Seite misstrauisch an, denn er kannte den schwarzen Humor seines Assistenten und fragte sich, welche Breitseite aus dem schwarzen Kabinett nun wohl wieder von ihm abgefeuert werden würde. „Nee, wieso? Es gibt in Ostfriesland viele die Harms heißen,“ sagte Ingo Harms und blickte verunsichert den Mitarbeiter an. „Aber nicht Harms-Motte,“ erwiderte der Mitarbeiter. „Nicht Motte, du Holzkopf, Otte mit O, wie Otto. Geht das in deinen mit Alkohol vernebelten Schädel nicht rein? Du hast wieder eine Fahne. Ich werde mir demnächst einen anderen Mitarbeiter suchen und dich rauswerfen.“ Der Mitarbeiter sah ihn an, griff in die Tasche und schraubte einen großen Flachmann mit Schnaps auf, nahm den Kopf in den Nacken und ließ ohne zu schlucken durch jahrelange gekonnte Übung den farblosen Schnaps gleich bis in den Magen durch den Schlund laufen. Er drehte die Flasche zu und meinte: „Macht nichts, dann werde ich eben wieder arbeitslos, mir doch egal. Dann bekomme ich wieder Stütze vom Vater Staat.“
Der uniformierte Polizist fing den besorgten Blick des Arztes auf, der lange den Mitarbeiter des Bestatters ansah. Der Polizist ging zu ihm: „Hör mal, du Saufbruder, wenn du jetzt mit deiner Leichenkutsche fährst, sitzt du heute Nacht bei mir auf der Wache hinter Gittern, verstehst du mich? Ich habe Nachtdienst und bei meinen Streifenfahrten werde ich dich im Auge behalten.“ Ingo Harms zog nun zum wievielten Male die Handschuhe wieder aus: „Keine Angst, den Führerschein haben eure Kollegen aus Aurich diesem trostlosen Heini schon vor drei Monaten abgenommen. Mir ist nicht erklärlich, wie diese verkrachte Existenz überhaupt einen Führerschein bekommen hat.“ Der Mitarbeiter schraubte wieder die Flasche auf und bevor er diese an den Mund setzte, sagte er mit belegter Stimme: „Den habe ich auf dem Jahrmarkt in Rechts-up-Weg geschossen.“ Ingo Harms meinte: „Da gibt es keinen Jahrmarkt, du Torfkopp! Du hast mir einmal erzählt, es war in Upgantschott, aber dein Gedächtnis lässt vom Trinken schon nach und du Hohlkopf merkst das nicht einmal.“
Der Bestatter wandte sich an den Polizisten: „Sag mal, wie lange dauert das denn noch, wann kann ich die Dame in mein Kühlhaus bringen?“ Der Polizist zuckte mit den Schultern: „Da musst du die Dame dort fragen. Aber die Leiche musst du bestimmt zur Gerichtsmedizin fahren.“ Der Leiter der Spusi nickte Mareke zu, die das kurze Gespräch vom Bestatter mitbekommen hatte. „Sie können die Leiche nun mitnehmen und bitte zum Pathologen Doktor Schreiber bringen.“ Ingo Harms war erleichtert und stieß heftig seinen Mitarbeiter an, der schon wieder in die Tasche zu seinem Schnaps greifen wollte.
Mareke hatte während ihrer Ausbildung bei der Polizei gut aufgepasst und war in ihrer Abschlussklasse die beste Polizeischülerin gewesen. Sie hatte die Informationen der erfahrenen Polizeilehrer wie ein Schwamm aufgesogen und hatte ein fast fotografisches Gedächtnis. Sie konnte sich Passagen aus den Lehrbüchern zu den verschiedensten Thesen und Themen einfach aus dem Gedächtnis abrufen. Ihre Vorgesetzten mussten dies auch erkannt haben, da sie Mareke in ihrem jungen Alter schon eine solche Stufe in der Polizeiführung hatten hochkrabbeln lassen. Sie hatte, seitdem sie die Verantwortung für die letzten Fälle bekommen hatte, schnell dazugelernt und nahm gerne Vor- und Ratschläge von älteren Kollegen an und war nicht böse darum, wenn auch andere Mitglieder ihres Teams andere Meinungen als sie hatten.
Nun, in diesem Fall „Blumenmarkt“ hatte sie auf ihre Erfahrungen der anderen Fälle zurückgegriffen und ihr Team für die verschiedenen Aufgaben eingeteilt. Sie hatte auch aus der Ausbildung behalten, dass die ersten vierundzwanzig Stunden nach einem Verbrechen die wichtigsten waren und danach die Spuren kälter und die Ermittlungsanstrengungen mit jeder Stunde schwieriger wurden.
Sie hatte sich dem Team, das für die Wohnung der toten Blumenfrau zuständig war, angeschlossen und stand nun am Fenster in dem schmucken Wohnhaus der Frau Harms-Otte in dem Emdener Vorort Grünenhain, Am Deichkamp 14. Dieses war schon das Wohn- und Geschäftshaus der Eltern von Frau Harms-Otte gewesen, was sie schnell herausbekommen hatte, war doch im vorderen Teil der Blumenladen untergebracht.
Eine Angestellte saß nun eingeschüchtert von so vielen Polizeibeamten, die mit Gummihandschuhen alle Schubladen, Schränke, Ordner und Computer durchsuchten und wichtiges Material einpackten. Darunter waren auch zwei Laptops und Ordner voller Geschäftspapiere. Mareke nahm sich einen Becher mit heißem Tee, den die Angestellte ihr freundlicherweise aufgebrüht hatte und bat die Angestellte, Frau Marion Hagendorn, mit ihrem Kaffeebecher in den Garten zu kommen.
Diese war offensichtlich froh, etwas zu tun zu bekommen, denn sie fühlte sich hier im Wohnzimmer ihrer Chefin sehr unwohl. Sie gingen durch die Terrassentür in den Bauerngarten mit kleinen Zierapfel- und Birnenbäumchen. Frau Hagendorn holte sich eine Zigarette aus der Schachtel und sah Mareke fragend an, die dankend ablehnte. Mareke blieb in dem kleinen Rund des Gartens stehen und stellte ihren Teebecher auf einen witterungsbeständigen Holztisch. „Ich kann Sie gut verstehen. Wenn plötzlich ein Desaster über einen zusammenbricht und das bisherige Gefüge des alltäglichen Ablaufes des Lebens durcheinanderbringt, weiß man nicht, was man tun soll. Es ist aber unser Job, Hintergründe aufzudecken, die zu einem Verbrechen führen. Dazu zeigen unsere polizeilichen Lehrbücher, dass es meistens Kleinigkeiten sind, die einen Täter überführen. Eine vor langer Zeit einfach so hingeworfene Äußerung, ein Brief, ein Zerwürfnis mit Schimpfen auf einen bisher liebgewordenen Menschen bringen uns oft weiter. Nun kommt die Frage, worauf Sie wohl schon warten. Nein, nicht die übliche Frage aus dem Fernsehkrimi, wo der Kommissar mit schon wissender, böser Miene fragt ‚wo waren Sie zur Tatzeit’. Nein, Frau Hagendorn. Sie waren nach Ihren, wie Sie eingangs sagten, eigenen Worten schon lange Jahre als Aushilfe in der Woche bei Frau Harms-Otte angestellt. Was war sie für ein Mensch und was ist an dem Stalker dran? Wir fanden einen Brief von ihm in der Schürze der toten Blumenfrau.“
Frau Hagendorn drehte ihren Kaffeebecher in den Händen, ohne dass der Inhalt überschwappte. „Sie war eine lebenslustige Frau, immer freundlich zu jedermann und wenn einmal hier arme Menschen ankamen, die Hartz vier bekamen, so gab sie denen oftmals den Strauß Blumen umsonst. Ja, der ihr nachstellte, neudeutsch heißt das wohl jetzt Stalker. Sie sagte immer ‚das ist ein armer Mensch, der schwer Anschluss bei dem anderen Geschlecht findet’. Es handelt sich um den fast siebzigjährigen Heinz-Uwe Mölders, den sie schon aus der Schulzeit kannte. Man nannte ihn immer den stotternden Heinzi. An sich tragisch, er hatte sich schon als Schuljunge in Ricarda verliebt, war die ersten Jahre in ihrer Klasse. Sie ging dann auf das Gymnasium, machte Abitur und studierte in Hamburg Geschichte. Sie fand aber keine Anstellung und als ihre Eltern starben, wurde ihr Blumenhobby zum Beruf. Das Haus wurde umgebaut, der Laden eingefügt und los ging es. Sie verdiente ganz gut, sie sagte mir jedenfalls, dass sie für ihr Alter eine Menge gespart hätte, auch hatte sie Aktien und sogar Gold- und Silberbarren, die sie umtauschen wollte, wenn es finanziell kneifen sollte.
Für die Rente zahlte sie auch die Beiträge ein. Hier nannte sie den altmodischen Begriff, dass sie im Alter wohl genug geklebt hätte. Damit konnte ich nichts anfangen. Sie meinte immer, ich komme auch ohne Mann im Leben klar. Ja, nun ist sie tot und alles nutzt nichts.“
Marion stellte ihren Kaffeebecher neben den Becher von Mareke ab und setzte sich auf den Holzstuhl, legte die Hände vor das Gesicht und weinte leise in ihre Handflächen. Mareke stand still vor Marion und ließ diese ihrem Kummer freien Lauf. Sie unterbrach sie nicht, sondern als Marion Hagendorn mit verweinten Augen hochblickte und ihre Augen fragten „Warum ist das nur geschehen?“ gab Mareke ihr ein Taschentuch und Marion nickte dankend. „Ich weiß, es ist jetzt unpassend, aber für mich bricht eine Welt zusammen. Ich bin auch nicht mehr die Jüngste und wo soll ich nun Arbeit bekommen? Mein Geld reicht nicht hinten und nicht vorne. Ich bin geschieden und habe zwei Kinder, die noch in der Ausbildung sind. Ich habe die beiden Kinder spät bekommen und, dass mein Mann mich für eine jüngere Frau einfach sitzen ließ, stand auch nicht in meinem Stammbuch.“
Mareke musste bei diesem Hinweis auf das Stammbuch schmunzeln, diesen Ausspruch musste sie sich merken. „Was ist genau mit dem Heinz Uwe Mölders gewesen?“ Marion wischte sich die Tränen ab: „Der war lange Jahre auf einem Bauernhof außerhalb von Emden als Helfer tätig, wurde entlassen, warum weiß ich nicht. Dann war er arbeitslos, saß immer in Kneipen, ließ sich volllaufen und schrieb mit seiner ungelenken Handschrift Ricarda unzählige Briefe. Er würde sie seit der Schulzeit lieben, er verbrenne vor Sehnsucht, könne keine Nacht einschlafen, käme von ihr einfach nicht los und so weiter. Der war abends immer so duhn, dass der schon im Taxi oder im Nachtbus einnickte.“
Mareke sah sie an: „Das ist ja gediegen! Den Brief, den wir bei Frau Harms fanden, war auf einem Computer geschrieben worden!“ Marion sah erstaunt hoch: „Oh, Frau Harms hörte sie nie gerne, sie bestand immer auf Harms-Otte, das hob sie wohl von den anderen Harms’ ab.“ Mareke lachte: „Wo kann ich den trinkenden, ehemaligen Betriebshelfer Mölders heute noch treffen?“ Marion stand auf und trank einen Schluck Kaffee. „Im ‚Zum blauen Flaschenhals’ am Busbahnhof von Emden. Ein merkwürdiger Name für eine Kneipe! Aber das ist ein ganz ordentlicher Laden, keine Spelunke oder Kaschemme. Ich habe auch keinen blassen Schimmer, warum die Kneipe ‚Blauer Flaschenhals’ heißt, wahrscheinlich, weil die dort alle schnell betrunken sind.“
Marion konnte jetzt schon wieder lachen. Mareke nahm auch ihren Becher und holte einen kleinen Block aus der Tasche. „Ich weiß es aber. Ich bin zwar von der Insel Baltrum, meine Eltern haben dort, besser gesagt ‚hatten’, ein Hotel. Die Kneipe hat den Namen von der Karibikinsel Curacao. Zumindest das blaue im Namen. Meine Eltern waren immer nach einem Treffen der Hotelbesitzer auf dem Festland dort. Nach der Konferenz, versteht sich.“
Marion grinste verständnisvoll und sah Mareke fragend an. „Danke, für die Auskünfte. Für den Fall, dass ich Sie noch sprechen möchte, schreiben Sie doch bitte Ihre Adresse in meinen Block.“ Marion trug ihre Adresse ein und drückte Mareke herzlich die Hand: „Finden Sie den, der das Ricarda angetan hat.“ Mareke nickte noch, als Marion schon den schönen Bauerngarten verließ.
Mareke saß noch eine ganze Zeit an ihrem Computer in ihrer Wohnung und las Nachrichten aus aller Welt. Sie hatte fast die Zeit vergessen, als sie auf die Bildschirmuhr blickte und den Computer herunterfuhr, sich schnell anzog und ein Taxi rief. Mareke hatte keinen Führerschein. Als Insulanerin hatte sie auch keinen gebraucht und später auf dem Festland kein Interesse gehabt. Das Taxi kam in wenigen Minuten und der Fahrer hupte kurz. Mareke nannte das Ziel und nach einer kurzen Fahrtzeit kam sie an der Kneipe mit dem exotischen Namen ‚Zum blauen Flaschenhals’ an.
Die Kneipe war zu dieser Stunde noch gut besucht und Mareke hatte als neue Beamtin den Vorteil, hier in Emden noch nicht so bekannt zu sein. Der Wirt hatte offensichtlich schlechte Laune, er fragte sie mürrisch, was sie trinken möchte. Sie bestellte ein Bier und einen Korn. Mareke sagte laut: „Einen Lütt und Lütt hätte ich gerne, mein Tag war heute so stressig. Einen doppelten Korn bitte.“ Sie war sich sicher, dass die Männer am Tresen ihren Getränkewunsch bemerken würden. Bei einem Bier würden sie nicht einmal hochblicken. Aber wenn sich eine fremde, junge Frau am Tresen einen Korn und noch dazu einen doppelten bestellte, fiel sie garantiert auf. Und so war es auch.
Ein älterer Herr mit glasigen Augen und fehlenden Zähnen im Mund grinste sie an und stotterte: „Na, Mädel, endlich Feierabend, wie? Was machst du denn den ganzen Tag?“ Mareke bekam ihre Getränke, hob das große Kornglas und ließ den Inhalt gekonnt durch die Kehle rinnen. Sie hatte das in der Hotelbar ihrer Eltern oft genug bei den Gästen am Tresen gesehen. Der Geschmack des Schnapses war ihr zuwider, sie hätte sich schütteln können, trank einen Schluck Bier, wischte sich den Mund ab und bemerkte in den Augenwinkeln, wie der ältere Herr sie interessiert anstarrte.
„Warum willst du wissen, was ich mache? Wir kennen uns doch nicht. Willst du mich anmachen oder was läuft hier bei dir ab? Ich frage dich alten Saufkumpan ja auch nicht, was du machst. Beruflich meine ich oder mal gemacht hast. Du bist wohl schon lange in Rente, so verknittert wie du aussiehst. Bestimmt schon zwanzig Jahre. Du scheinst auf die Mitte Neunzig zu zugehen, so wie du aussiehst. Reich bist du anscheinend auch nicht, sonst würdest du mehr Wert auf eine anständige Garderobe legen.“ Mareke bemerkte mit Genuss, wie er bei ihren Worten zusammenzuckte, damit hatte er nicht gerechnet.
Die anderen Männer am Tresen verstummten, unterbrachen ihr Knobeln und sahen sie mit offenem Mund an. Das hatten sie auch nicht alle Tage hier erlebt. Der Wirt vergaß seine schlechte Laune, verharrte im Gläserputzen und sah Mareke stumm an. Er schien sich zu fragen, was nun wohl käme. Würde ein Mann hier so auftrumpfen, hätte der Wirt bestimmt schoneine Schlägerei am Tresen. Mareke ermahnte sich, nicht zu weit zu gehen. Doch die Reaktion des Mannes war verblüffend, denn er blieb höflich und fuhr stotternd fort: „Mein Name ist Heinz Uwe Mölders, meine Freunde nennen mich den stotternden Heinzi, das darfst du auch ruhig zu mir sagen. Mitte Neunzig werde ich in zwanzig Jahren, wenn ich das hier am Tresen mit dem Saufen durchhalte Hallo Katrin Hallo mein Schatz.“
Einer der Knobelbrüder lachte laut: „Freunde? Heinzi, du Träumer, wo sollen die denn sein? Auf dem Friedhof? Du hattest doch nie Freunde. Wer wollte schon mit dir befreundet sein. Du hattest ja außer dem Saufen hier am Tresen und in anderen Kneipen in Emden nur noch ein Hobby. Du bist doch immer der Blumen-Ricarda nachgestiegen, wenn du vom Melken kamst.“
Mareke merkte, wie ihre Ohren vor lauter Aufregung warm und rot wurden. Sie musste ruhig bleiben, war aber angespannt wie ein Flitzebogen. Der Mölders sagte nun zum Wirt: „Mach mir mal eine Runde, auch für die nette Dame hier am Tresen. Nette Frauen haben wir hier ja nicht so oft.“ Zu Mareke gewandt meinte er: „Auch noch einen kleinen Lütten?“ Dabei lächelte er und zeigte mit Zeigefinger und Daumen ein kleines Glas. Mareke nickte. Der Wirt hatte seine Arbeit wieder aufgenommen. Er kannte wohl hier in seiner Kneipe die ab und zu auftretenden atmosphärischen Störungen. Und wenn der Wind dann wieder aus den Segeln war, machte er einfach seine Arbeit weiter.
Mareke durfte jetzt zu Heinzi nicht zu freundlich sein und sagte deshalb etwas patzig: „Du wolltest eben wissen, was ich den ganzen Tag mache. Ich bin im Katasteramt in Aurich tätig. Zufrieden?“ Mölders nickte, der Wirt brachte die Getränke und der stotternde Heinzi stieß mit ihr an.
Als Heinzi gerade sein Bier ausgetrunken hatte, öffnete sich die Kneipentür und Mareke drehte sich um. Sie war erstaunt, als sie den Bestatter Ingolf Harms sah, der sich gleich an einen der hinteren Tische mit dem Rücken zu den Gästen setzte. Heinzi Mölders rutschte von seinem Hocker, murmelte etwas von Toilette und war im Waschraum verschwunden.
Nach einiger Zeit sah sich Mareke um und bemerkte, dass Heinz Uwe Mölders am Tisch des Bestatters saß, der eindringlich auf ihn einredete. Mareke stand am Tresen wie bestellt und nicht abgeholt, die Knobelbrüder und der Wirt kümmerten sich nicht mehr um sie. Nach einer halben Stunde kam der stotternde Heinzi an den Tresen, zahlte beim Wirt seine Zeche, tippte sich kurz an die Schirmmütze und meinte zu Mareke: „N‘Abend, bis demnächst.“ Dann war er weg und als sie sich zu dem Bestatter Harms umsah, war dieser ebenfalls vom Tisch verschwunden. Nun war Mareke verunsichert, ihr Kalkül ging nicht auf. Sie hatte plötzlich Angst und überlegte krampfhaft, was sie jetzt wohl machen konnte, das Ganze schien für sie nicht gut gelaufen zu sein. Sie rutschte vom Barhocker und überlegte.
Der Bestatter Harms sah von seinem Fahrersitz in seiner teuren Limousine den stotternden Heinzi mürrisch und misstrauisch an: „Kann ich mich darauf verlassen, dass mich die neugierige und nervige, junge Polizistin Menke von der Insel Baltrum auch wirklich eben in der Kneipe nicht gesehen hat? Oder bist du Schnapsnase wieder einmal so blitzeblau, dass du nichts mitbekommst? Wundern würde mich das nicht.“ Ingolf sah ihn verächtlich von der Seite an, griff über Heinzi weg in das Handschuhfach und holte sich aus einer Tüte eine Dose Bier. Heinz Uwe sah ihn an und meinte nur: „Nee, da bin ich mir sicher. Mir hat sie gesagt, sie wäre vom Katasteramt aus Aurich. Ich kannte sie ja nicht, die muss neu bei der Polizei sein. Dabei habe ich schon einige hier auf der Wache kennengelernt, wenn die mich mitgenommen haben.“
Heinz Uwe hatte im Laufe seines Lebens viele Beleidigungen ertragen müssen, andere Menschen hätten gesagt, einfach zu viele. Die meisten waren auch unberechtigt und gemein. Heinzi hatte als Mensch mit dem Stottern keine großen Chancen gehabt und das prägt einen Menschen in seinem Selbstwertgefühl. Es lag auch wohl mit daran, dass er sich einfach damit abgefunden hatte, der Blitzableiter für andere Menschen zu sein. Er hatte auch nicht die Argumente auf der Hand, um sich richtig ausdrücken zu können. So legte er sich ein dickes Fell zu, absorbierte die Gemeinheiten der Menschen und dachte sich seinen Teil.
„Die hat dich nicht gesehen, Bestatter. Du hast ja auch in der dunklen Ecke im hinteren Teil in der Kneipe gesessen.“ Ingolf knurrte: „Wer weiß, ich traue keinem, vor allen Dingen dir nicht. Du redest immer zu viel. Wenn dir jemand einen Schnaps ausgibt, fasst du Holzkopf zu schnell Vertrauen und merkst nicht einmal, dass die dich nur aushorchen. Katasteramt, von wegen! Dir kann man auch erzählen, im Himmel wäre Jahrmarkt. Du hast in deinem Leben zu viel Zeit bei den Schweinen verbracht.“
Heinz Uwe sah ihn an: „Stimmt, da hast du recht. Zu viel Zeit bei den zweibeinigen Borstenviechern, ich bin aber Melker.“ Heinzi freute sich, einmal einen Punkt gewonnen zu haben, zumal bei dem Bestatter Harms, den er im Grunde schätzte, auch wenn er ruppig zu ihm war. Er hatte schließlich immer Aufträge für ihn und besserte seine Kneipenkasse mächtig auf. Die Knobelbrüder fragten sich manchmal, wenn er einen Bündel Geld durch die Finger sausen ließ, ob er das große Los im Fernsehen gezogen hätte.
Ingolf sah aus dem Autofenster und hatte die Kneipentür im Blick. „Na komm schon, alter Kerl, nimm dir eine Dose aus dem Fach.“ Heinzi nickte erfreut, denn er hatte sich vorgenommen, trotz seines großen Durstes auf Bier ihn nicht um eine Dose zu bitten. Ein wenig Stolz musste man sich bewahren, hatte ihm einmal ein Streethelfer gesagt, als Heinzi völlig betrunken an einer Haltestelle gesessen hatte und fast in einen Bus in die Gegenrichtung einstiegen war. Vorher wäre er noch fast gegen ein Taxi gelaufen. Heinz Uwe klopfte auf die Bierdose, öffnete die Lasche und trank mit großen Zügen die Dose in einem Schluck aus.
Marlies Heist hatte sich als Junggesellin die Spagetti mit Tomatensoße und hineingeschnittener Wurst zubereitet. Sie freute sich auf das Gericht. Es war auch so ziemlich das Einzige, was sie nach ihrer Meinung schmackhaft hinbekam. Das Kochen war nicht ihre Leidenschaft so wie das Motorradfahren. Sie hatte sich erst vor einem Jahr ein richtig schweres und schnelles Motorrad zugelegt, das ihre gesamten Ersparnisse aufgebraucht hatte. Bei den Männern genoss sie immer die Blicke, wenn sie als relativ sportliche und schmächtige Figur von ihrer dicken Maschine stieg, den Helm abnahm und ihre langen Haare ausschüttelte.
Sie wollte sich gerade mit dem vollen Teller setzen, denn es war schon spät, als das Telefon klingelte. Sie war aus einer Musikkneipe nach Hause gekommen und hatte bei Wasser und Saft, denn sie trank keinen Alkohol, einen netten Abend mit ihren Freundinnen verbracht. Einige von ihnen fuhren auch ein Moped, wie sie immer scherzhaft sagten und so hatten sie gemeinsam das Motorradfahren als Gesprächsthema.
Marlies sah auf das Display. „Heist, guten Abend, Frau Menke. Was verschafft mir so spät die Ehre?“ Mareke stutzte kurz und sprach gedämpft: „Frau Heist, bitte entschuldigen Sie die späte Störung. Ich hätte Sie nicht angerufen, wenn nicht...“ Mareke sprach nicht weiter, denn in dem Toilettenraum, in den sie sich zum Telefonieren zurückgezogen hatte, öffnete sich die Tür und eine ziemlich angeschäkerte und warum dann Dame wollte sich die Hände waschen. „Meine Hände kleben von dem Eierlikör. Mir geben die netten Knobelbrüder immer Likör aus. Erst war es roter Likör und sie meinten, auf einem roten Bein könne man nicht stehen, ich müsste unbedingt den selbstgemachten Eierlikör vom Wirt probieren. Einen habe ich verschüttet und nun kleben mir die Finger. Ich habe die Flasche im Kühlschrank gesehen und mir kam es so vor, als ob der Likör nicht versteuert wäre. Wenn die wüssten, dass ich die Leiterin vom Zollamt in Emden bin! Na, die werden sich morgen, ach ja, ist ja schon heute, wundern, wenn ich nüchtern wiederkomme. Mit meinen Zolljungs in Uniform.“ Sie lachte und gluckste fröhlich, föhnte die Hände zu Ende und schon war sie wieder in der Kneipe verschwunden.
Marlies lauschte und raunte leise in das Telefon: „Ist es das, warum Sie mich anrufen Frau Menke? Müssen wir nun den Zoll unterstützen und den Wirt festnehmen, weil der Eierlikör selber herstellt, ohne ihn zu verzollen und das mitten in der Nacht?“
Mareke hätte fast laut losgelacht. Sie stellte sich gerade bildlich vor, wie gleich Kollegen der Polizei und die Zöllner eine Razzia nach unverzollten Eierlikörflaschen im ‚Zum blauen Flaschenhals’ durchziehen würden.
Die Schlagzeile in der örtlichen Presse sah sie auch schon vor Augen: Hat die Polizei und der Zoll nichts anderes zu tun, als nach unversteuerten Eierlikörflaschen zu suchen? Sie sah vor ihrem geistigen Auge den Minister für Verbraucherschutz, um mit wichtigem Gesicht dem Steuerpublikum im Fernsehen die Millionen an Steuerausfällen bei diesem Vergehen zu erklären und dass das sicher keine Einzelfälle sein würden. Man müsse gegen diese auch der Gesundheit schadenden Praxis der Panscherei von Eierlikör ein Ende bereiten. Es gab danach bestimmt auch Talkrunden im Fernsehen und ein wichtiger Professor stellte die Frage, wer denn als Trinkklientel für Eierlikör infrage käme? Das wären doch wohl überwiegend betagte Damen und man solle denen doch nicht die Freude nehmen! Denn wenn der Staat hart gegen Wirte durchgreifen würde, würde das klebrige Gesöff merklich teurer werden.
„Frau Menke, sind Sie noch da?“ Mareke nahm sich zusammen: „Ja, bitte entschuldigen Sie, Frau Heist, ich bin ziemlich durcheinander und wohl auch betrunken. Ich bin hier in der Kneipe ‚Zum blauen Flaschenhals’. Nicht um mich zu amüsieren, sondern wegen Ermittlungen. Ich wollte den stotternden Heinzi treffen, was war mir auch gelungen ist. Allerdings schlechter als ich dachte. Meine Strategie ist leider daneben gegangen. Er ließ mich einfach am Tresen stehen! Aber nun kommt es: Der Bestatter Harms kam auch in diese Kneipe und saß alleine an einem der hinteren Tische. Ich kann es nicht konkret begründen Ich, aber ich habe schlicht Angst, die Kneipe zu verlassen. Da scheint sich für mich vor der Kneipentür ein Ungemach zusammenzubrauen. Ich will mir auch nicht die Blöße im Präsidium geben, die uniformierten Kollegen um Hilfe zu bitten. Könnten Sie, ich dachte... Könnten Sie, auch wenn es spät ist, zu mir kommen? Bitte!“
Mareke fing an zu weinen, es lag auch wohl am Alkohol. Marlies Heist sah auf ihre Uhr: „Alles klar, bleiben Sie, wo Sie sind. Ich meine, schließen Sie sich auf der Toilette ein. Ich komme.“
Marlies zog sich schnell ihre Jacke über, griff nach ihrer Waffe und verstaute diese in der Innentasche. Den Pistolenholster wollte sie aus Zeitgründen nicht umschnallen. Sie lief schnell die Treppen hinunter und sprang in ihren Wagen.
Als die Kneipe in Sicht kam, parkte sie ihr Auto in eine Lücke vor einer Reinigung ein. Das flackernde, defekte Neonlicht blinkte wie zur Warnung auf den Fußweg. Marlies stieg aus und ging wie jemand, der viel Zeit hatte, in Richtung Kneipe. Sie sah den Busbahnhof, um den gerade ein Fernbus kurvte.
Vor der Kneipe sah sie im Schatten eine Limousine, deren Kennzeichen ihr bekannt war. Es war das private Fahrzeug des Bestatters Harms. In dem Fahrzeug entdeckte sie die Silhouetten von zwei Personen, es schienen Männer zu sein. Auf dem Fahrersitz meinte sie den Bestatter Harms selber zu erkennen.
Die Kneipentür öffnete sich und eine blonde Frau trat hinaus. Dem Gang nach zu urteilen, war sie leicht angetrunken. Sie wollte die Kneipe nach links verlassen. Plötzlich öffneten sich mit einem Schlag beide Fahrzeugtüren und beide Männer aus dem Auto liefen der Frau hinterher. Sie hatten Marlies nicht gesehen und fühlten sich sicher.
Der erste, etwas korpulente Mann schlug mit einem Gegenstand der Frau seitlich von hinten auf den Kopf, woraufhin diese ohne einen Laut zusammensackte und nach rechts auf den Fußweg fiel.
Der zweite, schmächtigere Mann beugte sich zu der am Boden liegenden Person, drehte sie auf den Rücken und wollte sie mit einem Griff am Brustbereich wie bei einem Rettungsschwimmer hochziehen. Plötzlich rief er: „Das ist nicht die vom Tresen! Du hast die falsche Frau erwischt.“ Der Bestatter erstarrte zur Salzsäure.
Nun wurde Marlies aktiv, sie zog ihre Waffe aus der Jacke und rief laut: „Halt, Polizei. Legen Sie die Person wieder seitwärts auf den Boden, stehen Sie auf und heben Sie die Hände!“ Ingolf Harms sah sie an, als käme Marlies von einem anderen Stern. „Wo kommen Sie denn her, Frau Kommissarin Heist?“, stammelte er.
Marlies erwiderte: „Danke für die Blumen! Ich bin aber bloß Polizeianwärterin! Was soll die Aussage Ihres Komplizen?“
Heinz Uwe Mölders sah ratlos von dem Bestatter zu Marlies Heist und es schien ihm zu dämmern, dass er einen Fehler gemacht hatte, als er stammelte: „Damit habe ich nichts zu tun, das war alles seine Idee. Ich meine, der netten Frau Polizistin am Tresen eins über den Dassel zu geben, sie in sein Beerdigungsinstitut zu bringen und bei der nächsten Beerdigung in einem Doppelsarg verschwinden zu lassen.
Er hat auch meine große Liebe Ricarda auf dem Gewissen. Er schrieb ihr Briefe, nicht so wie ich, mit der Hand geschrieben, sondern alles fein auf der Schreibmaschine oder Computer, dieser feine Pinkel. Ich kenne mich damit nicht so aus. Er wollte an das Erbe Ricardas, die ich doch schon seit der Schule kenne. Dazu wollte er seinen Namen Harms benutzen, um ein Testament zu fälschen. Er wollte sich ihr Haus und Grundstück unter den Nagel reißen, es sei eine gute Lage, wie er immer betonte. Dort wollte er ein neues Bestattungsgeschäft aufbauen.“
Nun schrie Ingolf Harms: „Du falsche Natter, DU hast sie im Blumengroßmarkt erschossen, nicht ich.“ Heinz Uwe Mölders sagte ganz leise: „Stimmt, nachdem ich immer wieder abgewiesen wurde und du mir eingeredet hast, ich würde sie nie zur Frau bekommen. Und du hast mir viel Geld versprochen!“ Heinz Uwe fiel auf die Knie und weinte.
In diesem Augenblick kam Mareke zu Marlies und sagte leise: „Danke! Ich habe alles mit angehört. Die Kollegen habe ich schon informiert.“ Marlies sah sie erleichtert an: „Na, betrunken wirken Sie aber nicht.“ Von Weitem hörten sie gellende Martinshörner.