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2. Geschichte: Die Tote am Ewigen Meer

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Das Arbeitspferd Bruno schnaubte und stampfte ungehalten mit der rechten hinteren Hufe auf und sah sich um. Dabei hob und senkte Bruno unwillig den Kopf. Es sollte nun endlich losgehen. Er war schon vor über einer halben Stunde von dem Bauern Jakob Zilligen eingeschirrt worden und wie jeden Morgen kam der Bauer nicht so richtig in Schwung. Schließlich war er, wie so oft, gestern noch spät in seinem Stammkrug hier in Everinghausen gewesen, eine tausend Seelengemeinde am Ewigen Meer, einem Moorsee in Ostfriesland und nun plagte ihn trotz einer großen Kanne Kaffee sein Schädel. Bruno zog den rechten Hinterhuf an und stand so erwartungsvoll auf drei Beinen.

Jakob ging noch einmal in seine reetgedeckte, einfache, alte Kate. Er wohnte hier wie vor hundert Jahren. Nicht einmal den elektrischen Strom gönnte er sich. Jakob war geizig bis aufs Mark und diesen Geiz, er nannte es Sparsamkeit, zelebrierte er bis zur Perfektion. Inzwischen schaffte er es, nur noch einmal im Monat in den Krug ‚4. Querstraße’ in Everinghausen zu gehen. Ganz früher war er jeden Abend hier gewesen. Jakob hatte ein verkürztes linkes Bein und wurde im Dorf immer nur der hinkende Jakob genannt. Diese Hänseleien störten ihn aber nicht, er kümmerte sich ohnehin nicht um andere Leute.

Nun legte er den Beutel mit dem Mittagessen auf den Pferdewagen, stemmte sich mühsam und mit viel Stöhnen auf den Kutscherbock und löste die Handbremse: „Los, du alte Mähre, auf zu unserem Acker.“ Bruno setzte seinen Huf auf den Boden und ruckte den Wagen an. Er kannte den Weg zur Genüge. Dort auf dem Acker, ein ganz passables großes Stück Land, hatte Jakob jede Menge Tannenbäume angepflanzt und die Erde an den Bäumen mussten in Abständen aufgelockert werden. Dazu schirrte er Bruno einen Pflug an und wie nach alter Sitte seiner Großeltern pflügte Jakob mit dem Pferd den Boden.

Direkt an Jakobs Acker grenzte das Ewige Meer. Es war ihm in der Kneipe schon oft geraten worden, dort doch einen Steg zu bauen und Segelboote an die Städter zu vermieten. Jakob hatte immer nur den Kopf geschüttelt und gebrummt: „Das fehlt mir noch zu meinem Glück, die vielen Leute hier und alles Fremde aus der Stadt. Von Emden bis Wilhelmshaven kommen die dann im Sommer in Rudeln hierher, feiern, grillen und singen den ganzen Tag und bis in die tiefe Nacht. Ich mag keine Menschen, das müsst ihr Hohlköpfe doch inzwischen begriffen haben.“ Die Thekengäste hatten gelacht und weiter geknobelt.

Jakob war fast auf dem Kutschbock eingenickt, als plötzlich Bruno stehen blieb. Jakob sah hoch und begriff nichts. Er nahm seine schäbige alte Mütze ab und rieb sich den armen, alkoholgeplagten, haarlosen Schädel. Nun kratzte er sich die Glatze, was er immer machte, wenn er angestrengt nachdachte. „Was ist, Bruno, warum bleibst du stehen? Los weiter! Was sollen wir hier direkt am Ufer?“ Er sah zum Himmel hoch. „Ich glaube, wir bekommen heute noch Regen, ich merke nicht nur meinen Schädel, sondern habe auch in den Knochen ich ein starkes Reißen. Ich sollte in der warmen Stube auf dem Sofa bleiben!“ Bruno zuckte mit der linken Flanke, wohl mehr, um lästige Fliegen loszuwerden und machte keinerlei Anstalten sich zu bewegen. Jakob sah sich nach der langen Peitsche um, die irgendwo auf dem Wagen liegen musste. Er schlug grundsätzlich nie ein Pferd, er wollte Bruno nur am Hinterteil kitzeln, damit es endlich weiter ginge. Bruno drehte sich um und sah ihn mit seinen schönen, großen, braunen Augen an. Er hatte lange Wimpern.

Doch nun endlich begriff Jakob, dass hier etwas Ungewöhnliches passiert sein musste. Im Ufergras sah er etwas, das wie eine Person aussah. Die Füße lagen im Wasser und dümpelten in den kleinen Wellen auf und ab. Jakob zog die Handbremse an und stieg ächzend rückwärts vom Kutschbock. Er lief die wenigen Meter zum Ufer und nun sah er es.

Hier lag eine Frauensperson, wie er immer zu sagen pflegte. Der Kopf lag etwas erhöht auf einem Stein und es war so, als wollte die Frau in Ruhe die Aussicht auf das Ewige Meer mit all seinen Schönheiten genießen. Im ersten Augenblick dachte Jacob, hier wäre eine Wanderin von der mühsamen Last eingenickt, so, als wollte jemand nur für fünf Minuten die Augen schließen und sagte zu sich selber: „Nur einen kurzen Augenblick, nicht einschlafen, ich muss ja noch weiter.“

Jakob hatte schon immer vor Frauen eine große Scheu gehabt, er wusste nie, wie man sich ihnen näherte, was man sagen sollte. In seinem Gedächtnis kramte er nach, was die Thekenbrüder m Krug in diesem Fall wohl gesagt hätten. Ihm fiel aber nicht so schnell eine Gelegenheit ein, wo eine fremde Frau dort erschienen wäre und was wohl der Wirt gesagt hätte. Er schalt sich selber einen alten Narren! Der Wirt hätte bestimmt gefragt, was die Dame zu trinken wünschte.

Nun trat Jakob dichter heran, bückte sich und dann erkannte er die Frau. Das war doch die Schulleiterin der Schule am Pfingstbusch hier in Everinghausen am Ewigen Meer. Er suchte nach dem Namen und dann sagte er laut: „Ja, Helene Zimmersohn. Hallo, Frau Helene, nee, Frau Zimmersohn, was machen Sie denn hier im kalten Wasser?“ Jakob schüttelte sie, wobei ihr Kopf in seine Richtung fiel. Die Augen waren geschlossen und etwas geronnenes Blut war in den Mundwinkeln zu sehen. Die Schulleiterin würde nie mehr ihren Dienst antreten können. Sie war tot. Jakob blieb noch eine Weile sitzen und starrte auf das Ewige Meer, das so ruhig und unschuldig da lag. „Ewiges Meer, was ist hier nur geschehen? War es ein Unfall? Ist die Dame am Ufer gestürzt, als sie, so wie ich jetzt, dich in deiner ganzen Schönheit bewundern wollte?“ Jakob erhob sich mühsam und kletterte auf seinen Kutscherbock: „Los Bruno, zum Krug, dort kann der Wirt den Arzt anrufen.“

Jakob saß nun schon eine ganze Weile am Tresen, trank seinen Grog mit viel Zucker und musste seine Geschichte mehrfach für die Neuankömmlinge im Krug erzählen. Die waren erstaunt, den Jakob hier in der Woche, außerplanmäßig sozusagen, zu sehen. Ein Gast meinte, während er sich an den Tresen setzte: „Na, altes Hinkebein, nimmst du wieder die alten Zeiten im Krug auf?“ Der schüttelte nur den Kopf, zahlte seine Zeche und verließ wortlos den Krug. Die Telefonkosten übernahm in alter Freundschaft zu ihm großzügig der Wirt Söken. Bruno sah sich um, er war wohl erstaunt, dass sein Kutscher Jakob so rasch aus dem Krug wiederkam. Da kannte er ganz andere Zeiten und der arme Bruno stand sich die vier Pferdebeine manche Nacht vor dem Krug in den Bauch.

Der Notarzt Doktor Werner Korbmann aus dem etwas fernen Emden, der heute für den gesamten Landkreis Notdienst hatte, stand auf und sah mit besorgter Miene auf die Tote. Die beiden Polizeibeamten hatten die Leiche fotografiert und auf sein Geheiß hin auf die Seite gedreht. Dabei sahen sie alle drei zeitgleich, dass in dem Rücken der Dame ein Messer steckte. Es handelte sich um ein simples Küchenmesser mit blauem Griff. Nun stand fest, dass es sich hier um keinen Unglücksfall handelte und der Arzt nickte nur, als der Streifenführer meinte, die Zentrale informieren zu müssen, damit sich jemand vom Kriminaldauerdienst auf die Socken aus dem warmen Büro an den zugigen See machte.

Mareke Menke sah sich nach ihrer Alarmierung durch den Polizeirat Mertens am Ufer des Ewigen Meeres um. Ihre Assistentin war die Polizeianwärterin Marlies Heist aus Aurich, die sich hier handwerkliche Sporen bei der Kripo Emden verdienen sollte. Die älteren Kollegen in dem Präsidium Emden waren inzwischen auf Frau Menke leicht verschnupft. Erst waren ihr als Neuling die Ermittlungen in dem Fall der Musikerin Frau Maubach aus dem Orchester des zwielichtigen Dirigenten von Drochtersen vom Polizeirat höchstpersönlich übertragen worden und nun war sie schon wieder an der Reihe. Mareke hörte schon die spitzen, neidischen Bemerkungen. Doch wie sollte sie als neue Kollegin darauf reagieren? Sie kannte ja hier im Polizeipräsidium fast keinen mit Namen und nur langsam ordnete sie den Gesichtern die Namen zu.

Frau Heist war mit einem Metallsuchgerät von ihr losgeschickt worden, um nach möglichen metallenen Gegenständen zu suchen. Mareke fror in dem Wind, der vom Ewigen Meer herüber wehte, zog ihre wärmende Mütze fest an den Kopf und löste den wollenen Schal und schlang diesen modisch schick um ihren Hals. Sie hatte schlechte Laune, denn am Vorabend hatte sie ihre Mutter angerufen, sie wollte sich für das am nächsten Tag beginnende Wochenende bei ihr auf der Insel Baltrum anmelden. Dabei hatte ihre Mutter wieder einmal ihr Leid über ihren Vater ausgeschüttet. Ihr Weltbild von ihrem Vater hatte bei Mareke schon vor Jahren starke Risse bekommen. Ihr Vater ging fremd, wo sich immer eine Gelegenheit bot, und Mareke hatte ihrer Mutter oft empfohlen, sich von ihm scheiden zu lassen. Aber da sie beide ein Hotel auf Baltrum hatten, war das alles nicht so einfach, wie man es sich so dachte. Einmal hatte Mareke zu ihrer Mutter gesagt, dann müsse sie auch damit leben.

Mareke sah zu ihrer Assistentin auf, die mit dem Suchgerät und einer roten Nase zu ihr kam und den Kopf schüttelte. Die Spurensicherung hatte einen Ausweis mit Wohnungsschlüsseln in der Tasche der Toten gefunden und nun wussten sie anhand des Ausweisbildes, wer die Tote war. Der Kutscher hatte Recht, es handelte sich um die Schulleiterin Helene Zimmersohn. Mareke sah sich den Ausweis in der Plastiktüte an und schrieb die Adresse ab. „Na, dann kommen Sie man mit, Frau Heist, wir fahren zu der Adresse.“

Als sie dort ankamen, sprach Mareke kurz mit dem Hausmeister, bevor sie die Hausdurchsuchung in der Wohnung der Frau Zimmersohn vornahmen. Da Gefahr im Verzuge war, verzichtete sie nach Rücksprache mit dem diensthabenden Staatsanwalt auf einen Hausdurchsuchungsbeschluss. Mareke bückte sich, um unter das Bett zu sehen, und entdeckte einen kleinen Karton, den sie hervorzog. Dort fand sie eine rote Perücke, eine teure Sonnenbrille und Handschuhe mit Rüschenbordüren an den Rändern. Sie holte alles kopfschüttelnd aus dem Karton und legte die Gegenstände auf das Bett.

In der Zwischenzeit war Frau Heist damit beschäftigt gewesen, den Laptop der Frau Zimmersohn zu sichten. Sie konnte das Gerät ohne ein besonderes Passwort einschalten und, da Frau Heist eine ausgezeichnete Computerkennerin war, pfiff sie nach einigen Eingaben durch die Zähne. Sie drehte das Gerät auf dem Tisch herum: „Sehen Sie, Frau Menke, was ich hier gefunden habe. Das passt genau zu der roten Perücke.“ Marlies Heist hatte einen Chatraum angeklickt, den die verstorbene Schulleiterin fest in dem Laptop gespeichert hatte. Mareke las vor: „Tabuloser, ferkeliger Schweinestall, nicht nur für Landwirte, sondern auch für Städter. Hier sind alle herzlich Willkommen, denen das normale Eheleben inzwischen zuwider geworden ist und die das besondere Ambiente suchen. Habt keine Hemmungen, die legen wir alle an der Garderobe im Chatraum ab.“ Mareke sah Marlies Heist an: „Was ist denn das? Da ist ja ein Foto mit dieser Perücke, soll das etwas unsere tote Schulleiterin sein?“ Marlies nickte bejahend. Mareke sagte: „Ich fotografiere mit der Kamera das Foto aus dem Laptop ab. Sichern Sie das Gerät und die KTU soll mal alles aufdröseln, was sich im Schweinestall so tummelt. Mal sehen, welche Ferkel wir da ermitteln.“ Marlies lachte und packte den Laptop ein.

Das Fährschiff nach Baltrum hatte eine Stunde Verspätung. Dabei hatte Mareke noch Glück gehabt, denn die Reederei ließ durch einen Aushang die wartenden und frierenden Gäste wissen, dass womöglich wegen aufkommender starker Winde bis auf weiteres die Fahrten zur und von der Insel ausfallen könnten. Am Anlieger sah sie sich um und entdeckte ihre Mutter, die verschüchtert winkte. Mareke bekam einen Schreck, wie klein und in sich gekehrt ihre Mutter durch den ganzen häuslichen Kummer mit ihrem Vater war. Es war auch zum Verzweifeln! Da hatten die beiden es finanziell geschafft, mit ihrem kleinen Hotel auf der Insel Fuß zu fassen und nun höhlte der dauernde Ärger mit ihrem Mann wegen seiner vielen Frauengeschichten die Früchte des Lebens aus. Wie lange ertrug ein Mensch eine solche Schmach? Mareke dachte bei sich, dass es wahrlich kein Wunder war, wenn Menschen eine unbedachte Tat begingen und der Fall bei ihr auf dem Schreibtisch landete. Mareke nahm ihr Gepäck auf und lächelte gequält, als ihre Mutter sie unsicher umarmte. Mareke hätte am liebsten hier am Anlieger laut losgeheult.

Die spätere Begrüßung mit ihrem Vater fiel von seiner Seite herzlicher aus, als sie sich das auf der Fähre vorgestellt hatte. Er war wie immer, ging scherzend über alles hinweg, wischte ihre Kritik an seinem Verhalten seiner Frau gegenüber mit dem Hinweis hinweg, dass sie das gar nichts anginge und plauderte, als wäre alles in bester Ordnung. Ihre Mutter musste wieder in das Hotel zurück und er forderte seine Tochter schließlich auf, Fotos auf ihrer Digitalkamera von ihrer Wohnung in Emden zu zeigen. Mareke hatte dazu aber wenig Lust. Aber da sie ihren quengelnden Vater kannte, gab sie nach und zog ihre Kamera aus dem Rollkoffer. Sie klickte die Fotos an, zeigte das erste Bild ihrem Vater, der die Brille auf die Stirn schob und sie spürte, wie er erstarrte.

„Wo hast du das Bild her?“ Mareke verstand erst nicht, blickte dann auf die Kamera und sah das Foto mit der roten Perücke. Ihr Vater war kreidebleich und Mareke konnte als Tochter und Polizeibeamtin schnell eins und eins zusammenzählen. „Kennst du etwa diese Person?“ Ihr Vater druckste herum, doch der Blick seiner Tochter verhieß nichts Gutes. „Papa, das Bild dürfte ich dir gar nicht zeigen, ich wollte meine Wohnungsbilder anklicken. Das Foto mit der roten Perücke zeigt eine Person, die wir vom Namen zwar kennen, aber die ein zweites Leben gehabt zu haben scheint.“ Ihr Vater blickte sie entsetzt an: „Gehabt? Wieso gehabt? Und was für ein zweites Leben?“ Mareke beobachtete ihren Vater und ertappte sich dabei, ihn nicht als solchen, sondern als einen Verdächtigen zu behandeln. „Ja, diese Frau fanden wir tot mit einem Messer im Rücken und mit den Füßen im Ewigen Meer.“

Ihr Vater sprang hoch und suchte die Toilette auf. Ihm war speiübel. Mareke versuchte, ruhig zu bleiben, und überlegte, wie sie vorgehen sollte. Als ihr Vater noch blasser als eben die Toilette verließ, wollte er in das Hotel gehen. Doch Mareke versperrte ihm den Weg: „Was weißt du über diese Dame? Ist sie eine von deinen, sagen wir einmal, Bekanntschaften, mit denen du Mutter den Lebensmut nimmst?“ „Lebensmut? Was für ein Unsinn. Ja, ich kenne sie aus dem Internet, wenn du es genau wissen willst, aus einem Chatraum für Landwirte, aus dem Raum Emden und Aurich. Dort tauchte sie häufig als rote, tabulose Isabell vom Ewigen Meer auf. Ich hatte Kontakt mit ihr, aber nur im Chatraum.“ Mareke konnte kaum glauben, was ihr Vater ihr offenbarte und war froh, dass ihre Mutter nicht anwesend war. „So, so, tabuloser Ferkelraum zum Chatten, nicht nur für Landwirte, sondern auch für Städter, die des Ehelebens überdrüssig sind, wie? Als was hast du dich denn dort angemeldet? Als skrupelloser Hotelier, der einsam ist und gerade dabei ist, seine Ehe und das gemeinsam erbaute Hotel wegen seines zügellosen Lotterlebens aufs Spiel zu setzen?“

Mareke spürte, dass sie nun zu weit gegangen war. Ihr Vater blickte sie traurig an, drehte sich um und verließ den Raum. „Du brauchst gar nicht wegzugehen, wir ermitteln alle, die sich in dem Ferkelbetrieb tummeln.“ Mareke ärgerte sich über sich selber und über diese unbedachte Äußerung und fragte sich, warum sie sich über ihren Vater so echauffierte, obwohl ihre Mutter das Verhalten ihres Mannes einfach tolerieren konnte. Sie blieb noch eine Weile in dem Raum, trat an das Fenster und sah traurig auf die Nordsee. In die sich leicht kräuselnden weißen Schaumkronen sagte sie leise zu sich: „Rote, tabulose Isabell vom Ewigen Meer. Wie kommt eine Schulleiterin bloß zu diesem Schritt im Leben? Wir bekommen Sturm, wenn man die Wellen ansieht.“

Drei Tage nach dem Besuch bei den Eltern saß Mareke wieder am Schreibtisch. Die restliche Zeit dort auf Baltrum waren nichtssagend gewesen, das Problem der Beziehung ihrer Eltern war schließlich ausgeblendet worden, nachdem ihre Mutter sie angiftet hatte, sie solle sich gefälligst um ihre eigenen Probleme kümmern, sie hätte ja keinen Freund und könne da nicht mitreden. Ihre Mutter hatte sie spöttisch angeblickt und gesagt: „Oder habe ich da in dieser Richtung etwas nicht mitbekommen oder fühlst du dich zu Frauen hingezogen?“ Ab diesem Punkt beschloss Mareke, dass das Fass nun voll sei und den Kontakt zu ihren Eltern vorerst auf kleiner Flamme zu kochen. Mareke war wütend, wohl mehr auf sich, denn sie hätte einfach den Mund halten sollen und dieses Gefühl der Ohnmacht beschlich sie auch in den folgenden Tagen.

Gleich am frühen Montagmorgen musste sie zum Rapport zum schlecht gelaunten Polizeirat Mertens, der sich ihren Bericht zum neuen Fall am Ewigen Meer anhörte und knurrte, die Presse würde ihm ständig auf der Matte stehen und die Bevölkerung hätte nun Angst, aus dem Haus zu gehen. Eine Zeitung in Ostfriesland titelte „Massenmörder murkst unbeteiligte Spaziergänger an dem wunderbaren Ewigen Meer ab.“ Eine andere Zeitung verstieg sich auf der Titelseite „Gruseliger Mörder schickt Menschen am Ewigen Meer in die Ewigen Jagdgründe. Wie viele liegen schon auf dem moorigen Grund?“

Herr Mertens hielt die Zeitungen hoch und meinte: „Frau Menke, wenn Sie hier als junge Kollegin im Präsidium Fuß fassen wollen, müssen Sie liefern.“ Das ging Mareke aber doch zu weit und sie meinte: „Herr Polizeirat, wenn Sie der Meinung sind, einen älteren Kollegen oder Kollegin mit dem Fall beauftragen zu wollen, tun Sie das bitte. Lassen Sie mir ansonsten im Fall freie Hand. Und wenn sich Ihr Ton mir gegenüber in Zukunft nicht ändert, werde ich diejenige sein, die sich versetzten lässt. Das wird aber nicht ohne eine ausführliche Begründung meinerseits bei dem Innenministerium geschehen. Schon mein Opa sagte immer, bleibe redlich und fürchte dich nicht vor großen Tieren.“

Sie stand auf und der Herr Polizeirat sah sie verdutzt an: „Schon gut, bitte entschuldigen Sie, ich habe zuhause eine krebskranke Frau, der es sehr schlecht geht. Sie behalten den Fall und ich gebe Ihnen noch einige Beamte in Ihr Team.“ Mareke sah ihn immer noch verärgert an und dachte: „So machen es die Kerle, erst versuchen sie, ihre Macht auszuspielen, um uns Frauen klein zu kriegen und wenn man sich davon nicht einschüchtern lässt, werden sie weinerlich und schieben persönliche Dinge vor. Dieses Verhalten ist in der heutigen Zeit einfach niederträchtig.“

Mareke stand auf und verließ wortlos sein Büro. Einen kurzen Augenblick juckte es ihr in den Fingern, die Tür hinter sich zu zuknallen, sie ließ es aber. Auf der Treppe schlug sie sich anerkennend leicht auf die Schulter. Das Ganze hellte aber ihre Laune nicht auf.

Nun war die Polizeiarbeit des Durchsehens und Ermittelns angesagt. Der Laptop der Frau Zimmersohn gab eine Menge an Namen und Adressen frei. Marekes Vater war auch darunter und sie informierte per Mailnachricht ihren Vorgesetzten Polizeirat Mertens darüber. Mareke dachte, es würde eine Retourkutsche von ihm kommen, aber da hatte sie sich getäuscht. Herr Mertens schrieb nur zurück, sie solle alle Ermittlungen transparent in ihrem Team bekanntgeben, das war alles. Sie sah erstaunt in ihren Computer und gab den Wortlaut per Rundlauf an das Team weiter.

Dann kam eine Ermittlungsnachricht von der Assistentin Frau Heist, die sofort Mareke ansprach: „Sehen Sie, was ich im Laptop unter dem Pseudonym Ernst Rest Hom fand. Ich bin über diesen merkwürdigen Namen gestolpert und kann damit nichts anfangen.“ Mareke schrieb sich das Pseudonym auf und wollte sich darüber in Ruhe zuhause Gedanken machen. Das Team arbeitete weiter und Mareke hatte für heute das Bedürfnis nach einem ruhigen Feierabend mit einer heißen Tasse Tee auf ihrer gemütlichen Couch.

Nach den 20 Uhr Nachrichten im Fernsehen nahm sie ein Stück Papier, schnitt sich kleine Zettel und schrieb die Buchstaben des Pseudonyms Ernst Rest Hom auf und drehte die Zettel hin und her und versuchte, so einen Sinn zu bekommen, als sie plötzlich einen Namen vor sich hatte und zur Salzsäule erstarrte.

Sie informierte per Telefon ihre Assistentin Frau Heist und rief im Präsidium an und bat um die private Telefonnummer der Polizeipräsidentin Helma Kaufmann. Dort rief Mareke an und entschuldigte sich für die Störung und erklärte ihren Anruf. Nach einer Weile des Zuhörens entschied Frau Kaufmann: „Denn man los.“ Mareke rief ihr Team wieder an: „Frau Heist, wir haben freie Bahn und bitte finden Sie sich mit zwei uniformierten Beamten an der bekannten Adresse ein. Ich komme direkt dorthin." Die Assistentin hatte das Telefon auf Mithören gestellt, weil Mareke darum gebeten hatte. Im Büro herrschte eine Totenstille. Frau Heist meldete sich wieder: „Es ist schon nicht alltäglich, wenn in einer Mordkommission nach einer Nachricht Totenstille herrscht.“ Mareke antwortete: „Da haben Sie recht. Wir sehen uns gleich, ich komme mit einem Taxi.“

An der hübschen Villa mit Blick auf das Ewige Meer stand zirka hundert Meter vor dem Eingang ein Streifenwagen, aus dem Frau Heist ausstieg, als sie Mareke in einem Taxi entdeckte. Mareke ließ das Beifahrerfenster herunter: „Steigen Sie ein! Und Sie, meine Herren, folgen uns bitte in zehn Minuten und warten bitte auf der Auffahrt.“ Der Streifenführer tippte an seine Mütze und nach kurzer Fahrt bog das Taxi auf das Grundstück ein. Sie stiegen aus und klingelten.

Eine Frau in mittleren Jahren öffnete. Sie hatte ein Kartoffelschälmesser in der Hand und wischte sich gerade die Hände in der Schürze ab, als sie freundlich nickte: „Bitte?“ Mareke zeigte ihre Dienstmarke: „Guten Tag, mein Name ist Menke von der Kriminalpolizei aus Emden und das ist meine Kollegin Frau Heist. Wir hätten gerne Ihren Mann gesprochen.“ Frau Mertens lächelte und gab den Weg frei, als sie in Richtung des Inneren des Hauses rief: „Schatz, hier sind zwei Beamtinnen, die dich sprechen wollen. Bitte gehen Sie gerade durch, ich komme gleich zu Ihnen. Wollen Sie etwas trinken?“ Mareke schüttelte den Kopf und auch Frau Heist hatte offensichtlich wegen des bevor stehenden, sehr unangenehmen Gesprächs keinen Durst.

In der Tür erschien Polizeirat Horst Mertens und sah Mareke erst verärgert und dann sichtlich verunsichert an. Frau Mertens hatte ihre Schürze abgelegt und kam mit einem Wasserglas in das Wohnzimmer und blickte die Damen an. „Ich vermute, Sie haben etwas Dienstliches mit meinem Mann zu besprechen, ich gehe dann am besten wieder in die Küche.“ Mareke sagte, ohne sie anzusehen: „Bleiben Sie bitte hier. Sie sollen hören, um was es geht.“

Frau Mertens blickte unsicher auf ihren Mann, der nichts sagte und sich auf das Sofa setzte. „Bitte nehmen Sie Platz“, sagte seine Frau und alle setzten sich. Mareke klappte ihren Laptop auf, schaltete ihn ein und sagte: „Herr Mertens, sagt Ihnen das Internetforum ‚Bekanntschaften nicht nur für Landwirte’ etwas?“ Er nickte zögerlich und sah blass aus, als Mareke weiterfuhr: „Sind Sie dort unter dem Pseudonym als Ernst Rest Hom angemeldet. Kannten Sie die tabulose Isabell vom Ewigen Meer?“

Seine Frau wollte etwas sagen, schwieg aber vor Schreck, als Mareke fortfuhr: „Herr Mertens, wir haben Ihr Pseudonym Ernst Rest Hom als Ihren vollen Namen Horst Mertens ermittelt. Und ich frage Sie nun, haben Sie die tabulose Isabell vom Ewigen Meer, alias Frau Helene Zimmersohn, die hiesige Schulleiterin, mit einem Messer umgebracht?“

Der Polizeirat Horst Mertens wollte erst aufstehen, sackte dann aber nach hinten auf der Couch zusammen, kam wieder nach vorne und ließ dann seinen Kopf auf die Tischplatte fallen, schluchzte laut auf und weinte hemmungslos. Seine Frau bekam, nachdem sie die ersten Brocken des unfassbaren Geschehens begriffen hatte, einen hysterischen Schreianfall.

In diesem Augenblick kamen die zwei uniformierten Beamten der Schutzpolizei in den Raum und Mareke sah zu ihnen hoch: „Rufen Sie bitte einen Arzt! Und die Spurensicherung soll kommen! Den Herrn Polizeirat verhaften Sie bitte wegen des Verdachts des Mordes an Frau Helene Zimmersohn!“ Der Streifenführer hatte offensichtlich nie ein gutes Verhältnis zu seinem Vorgesetzten Polizeirat Mertens gehabt und es war ihm sichtlich ein Vergnügen, seinen Vorgesetzten zu verhaften. „Herr Mertens, wir verhaften Sie wegen des Verdachtes des Mordes an der Lehrerin Zimmersohn. Alles was Sie jetzt sagen, kann gegen Sie vor Gericht verwendet werden. Sie haben das Recht zu schweigen und einen Rechtsanwalt Ihrer Wahl auf dem Präsidium hinzuzuziehen.“ Sein Kollege legte Horst Mertens die Handschellen an, obwohl ihm dabei gar nicht wohl war.

Als sie ihren Vorgesetzten aus dem Zimmer führten, rief Mareke noch hinterher: „Die Spusi soll auch sein Büro im Präsidium untersuchen.“ Der Streifenführer grinste: „Das wird dem Leiter der Spusi ein Vergnügen sein, der konnte diesen Herrn noch weniger leiden als ich.“ Mareke wollte erst etwas sagen und den Beamten zur Ordnung rufen. Sie konnte seine Reaktion aber gut verstehen und ließ es dabei bewenden.

Später im Präsidium, als Herr Mertens zwei Rechtsanwälte seiner Wahl dabei hatte und er sein Geständnis ablegte, kam heraus, dass sich das Ganze am Ewigen Meer um eine menschliche Tragödie handelte. Herr Mertens hatte sich im Chatraum in die Schulleiterin wie ein Pennäler über beide Ohren verliebt und er wusste nicht aus noch ein, was er machen wollte. Er hatte dies seiner Frau am Vorabend gebeichtet und ihr mitgeteilt, dass er sich von ihr scheiden lassen wollte.

Es war seine Idee gewesen, mit der Schulleiterin am Ewigen Meer spazieren zu gehen, und hatte sich schon den ganzen Tag auf das abendliche Treffen gefreut. Als er ihr offenbart hatte, die Scheidung von seiner Ehefrau einzureichen, um sie zu heiraten, hatte sie ihn kalt angesehen und gemeint: „Dich Schlappschwanz würde ich nie heiraten. Ich habe im Schweineraum einen wirklich reichen und gutaussehenden Landwirt kennengelernt. Der will mich heiraten. Ich wollte dir heute sagen, dass wir uns nie mehr wiedersehen werden.“

Herr Mertens war vor Wut außer sich und hatte durch einen puren Zufall auf dem Boden neben einem halbgeschälten Apfel das blaue Messer gefunden.

Später erkannten die Richterin und die Schöffen auf eine Tat im Affekt und verhängten eine Gefängnisstrafe von sieben Jahren. Seine Frau umschlang ihn im Gerichtssaal und versprach ihm, auf ihn zu warten. Sie würde gerne mit ihm einen Neuanfang probieren. Mareke war als Zeugin im Prozess geladen und als sie den Ausspruch dieser Frau hörte, sah sie vor ihrem geistigen Auge ihre Mutter mit verweinten Augen vor sich und fragte sich, was ihre Mutter in diesem Fall wohl sagen würde. Die Presse titelte nach dem Prozess: „Gefängnisbonus für den Polizeirat Mertens vom Emdener Polizeipräsidium. Nur 7 Jahre für einen kaltblütigen Mord. Aber eine 90-jährige Oma aus Bremen wird für Schwarzfahren in 43 Fällen für 2 Jahre eingelocht. Ist dies Gerechtigkeit?“

Kriminalkommissarin Mareke

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