Читать книгу Die Piraten von Manaus - Gordon L. Schmitz - Страница 10
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All der Reichtum, die Kultiviertheit, das Weltgewandte dieser Stadt trieb sich am Abend nicht am Wasser herum, auch wenn Manaus eine überdurchschnittlich hohe Kriminalitätsrate vorzuweisen hatte. Aber irgendwo mussten sich die Leute vergnügen, die für das Gummi arbeiteten, statt den Kautschuk für sich arbeiten zu lassen.
Als Hook, dicht gefolgt von Smee, von einem steifen, vertrocknet aussehenden Piraten mit gepuderter Perücke, der sich nur mit dem Spitznamen Gouverneur vorstellte, durch den Hafen geführt wurde, brauchte es nichts, damit die Leute dem Kapitän in seinem grauen Gehrock Platz machten. Von den Dieben erntete er bewundernde Blicke, von den Kaufleuten, die sich in dieser verruchten Gesellschaft ein klein wenig Nervenkitzel versprachen, wurde er voller Neugierde, aber auch Hochachtung betrachtet – Ehre unter Verbrechern eben.
»Ich finde es ja wirklich sehr großzügig vom Rover, uns einzuladen, aber warum kommt er nicht gleich zu uns? Für einen Piraten ist so viel Generosität«, – Smee versuchte sich an neuen Worten, um seinem Kapitän zu gefallen – , »auf einmal doch sehr ungewöhnlich.«
Er hätte sich gerne von der Musik und dem Trubel um sie herum treiben lassen, und sei es nur, um sich davon abzulenken, dass er das erstaunlich schwere Wappen Etons mitschleppte.
Sein Kapitän neigte bei Geschichten über »alte Zeiten« eher zur Melancholie, aber der Rover hatte es ebenso zum berüchtigten Piratenkapitän gebracht wie Hook; Es bestand eine Art freundschaftlicher Rivalität zwischen ihnen, die Reste einer wilden Verbrüderung auf hoher See. »Er weiß ganz genau, dass man ihn niemals auf die Jolly Roger lassen würde, also lädt er uns gönnerhaft zum Essen ein. Er wird alles versuchen, sich über mich zu erheben, pass nur auf, Smee!«
»Doch warum nennt man ihn den Red Rover? Hatte er früher rote Haare oder trug er einen karmesinroten Mantel?«
»Nichts dergleichen. Früher schmierte er sich das Blut seiner Opfer in den – damals noch blonden – Bart.«
Smee grinste breit. Er konnte es kaum erwarten, ihn kennenzulernen.
***
Die Switch war größer als die Jolly Roger: eine Fregatte mit drei Masten und einem bauchigen Rumpf, in dem ein regelrechtes Gewirr aus engen Kammern Platz fand. Am auffälligsten war jedoch die vergrößerte Achterkajüte, die schwerfällig zu beiden Seiten über das Schiff ragte, wie ein zu sehr aufgegangener Hefeteig, der über die Backform schwappt.
Ihre gelb-gestrichene Erscheinung wirkte harmlos, fast einladend, doch die stets geöffneten Kanonenluken sprachen eine andere Sprache. Die Switch wurde von den Hafenbesuchern auffällig ignoriert. Auch an Deck des Schiffs brannten keine Laternen, als würde alles an ihr schreien wollen: Hier gibt es nichts zu sehen, hier geschieht nichts von Interesse. Untypisch für den Rover, dachte Hook, aber er wusste auch, dass es ungewöhnlich für jeden Hafen war, gleich zwei so alte Segelschiffe zu Gast zu haben.
Tief in den verwirrenden Eingeweiden des Schiffs lag eine kleine Kammer, die nur benutzt wurde, um Ausbesserungen an Seil und Tuch vorzunehmen, den Teer für Planken zu erhitzen, Waffen und Ausrüstung auf Vordermann zu bringen, oder, wenn es mal ruhig war, einfach zu reparieren, was an Bord so anfiel – solange es schmutzig, gefährlich oder kompliziert zu meistern war. Denn Teddy, der für alles verantwortlich war, was in diesem Raum landete, hasste es, wenn man ihn mit Kinkerlitzchen belästigte. »Der Hahn deiner Waffe muss schon weggesprengt sein, damit ich mir die Pistole überhaupt ansehe«, sagte er nach einem Gefecht immer als Warnung an seine Kameraden, damit sie ihm bloß nicht seine Zeit mit Dingen stahlen, »die sie auch gefälligst selber erledigen konnten.«
Ein rothaariger, schlaksiger Typ kam herein und lehnte sich an den Türrahmen. »Ich dachte, ein kaputter Wecker sei unter deiner Würde.«
Teddy schaute nicht einmal auf. »Nibbet, hallo… Das wird Irgendetwas für unsere Gäste. Also der Kapitän will, dass ich das hier«, und er zeigte mit dem Schraubenschlüssel auf das Gerät vor ihm, »auf… Vordermann bringe. Das Ding ist uralt…«
»… und läuft wohl nicht mehr richtig?«
»Oh, laufen tut es, doch doch… aber nicht so, wie es soll. Siehst du das hier?« Teddy hob ein Ding hoch, nicht größer als eine Streichholzschachtel, und entnahm ihm zwei kleine Glas-Ampullen.
»Das muss in diese Kammer hier. Aber ich habe nur einen Versuch, das ganze anzubringen… Du weißt Bescheid, wie der Abend läuft?«
Nibbet blickte kurz über seine Schulter. »Natürlich.«
»Wenn ich das jetzt nicht hinbekomme, war es das mit heute Abend. Und morgen Früh. Und jedem Abend und jedem Morgen danach.«
Nibbet hob mit leichtem Lächeln die Hände. »Ich bin schon still.«
Teddy wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Gerät vor sich zu. »Wo wirst du gleich stehen?«
»Im Hafen. Ich hoffe, dass ich, bis es soweit ist, noch stehen kann.«
»Dem Rover wird dein entschuldigendes Rum-Gelalle sicher gefallen.«
Nibbet sah sich abermals um und trat zur Sicherheit noch einen Schritt näher an Teddy heran.
»Hey, der einzige Grund, bei diesem… du weißt schon zu bleiben, ist die ganze Beute. Wozu riskieren wir hier täglich unsere Gesundheit, wenn wir mit dem Lohn nichts anfangen können?«
»Wenn wir hiermit durch sind, wirst du dir so viel Rum leisten können, dass die Kinder deiner Kindeskinder noch davon haben werden«, entgegnete Teddy.
»Wenn ich oder irgendeiner von uns den Dienst auf diesem Schiff heil übersteht. Der Kapitän wirkt zurzeit noch angespannter als sonst.«
Teddy sah, dass auch Nibbet nervöser war als sonst. Er selbst sorgte dafür, so gut wie nie mit dem Rover zu tun zu haben, konnte sich immer rausreden mit seinen Tüfteleien so weit von der Kapitänskajüte entfernt, wie nur irgend möglich.
»Er ist einer der wenigen Piraten, der seiner Mannschaft noch Schätze und Priesen verschafft, nur deshalb sind wir hier«, fast hätte er »deshalb seid ihr hier« gesagt, »natürlich ist er angespannt. Sein Ruf und seine Position stehen auf dem Spiel.«
»Nein, das ist es nicht«, entgegnete Nibbet grüblerisch. Er wollte noch etwas hinzusetzen, aber ein Knarren im Dunkeln irgendwo hinter ihm ließ ihn verstummen. Ohne ein Wort zu sagen verschwand Nibbet im Dunkeln, und trotz der Schwärze um ihn herum duckte er sich bei jedem Schritt.
Nur zur Sicherheit.
***
Hook und Smee standen im Schatten des großen Schiffes, der Mond hell zwischen den Segeln, und Hook wartete nur darauf, dass der Rover ihn irgendwie provozierte. Und tatsächlich hörten sie aus dem Dunkeln, von der Reling über ihnen, die Stimme des Red Rovers. Es war das erste Mal, dass Smee diesem Mann überhaupt begegnete, und so erschrak er über die grollende Stimme, die scheinbar aus dem Nichts kam.
»Lässt du deinen Mann da etwa ein Geschenk für mich tragen? Nimm beim nächsten Mal Bill Jukes oder den Schwarzen, der da pfeift ja bei einem so kleinen Ding schon aus dem letzten Loch!«, höhnte er.
Hook warf Smee einen Blick zu, der ausdrückte: Hab ich‘s dir nicht gesagt? Doch ganz der Gentleman entgegnete er zur Switch laut: »Das ist mein Bootsmann, Mr. Smee. Du weißt doch wie es heißt: An Bord pfeift nur der Wind – oder der Bootsmann.« Diese alte Seemannsweisheit entlockte allen an Bord ein herzliches Lachen, und Hook konnte nun feststellen, dass neben dem Rover mindestens noch sechs andere Mann an Deck waren, plus zwei in der Takelage.
Ein kleines Licht schien oben auf und das mächtige Gesicht des Rovers war zum ersten Mal zu sehen. »Bringt direkt den Bootsmann mit, hmm? Alle anderen berüchtigten Piraten von der großen Jolly Roger sind wohl nicht mehr nüchtern genug!«, und als der Rover lachte, klang es angestrengt lustig.
Im Schein einer kleinen Laterne, die ihm jemand mit geübter Theatralik unters Kinn hielt, wurden seine Züge bei jedem Wort verzerrt, so dass es aussah, als sei er gar nicht von Fleisch und Blut, sondern nur aus weißem Rauch, der ständig hin und her waberte. Im ersten Moment konnte Smee nicht genau begreifen, was ihn da so irritierte, aber er begriff, dass das Gesicht des anderen Kapitäns umkrönt war von einem weißen Bart.
Hook schien die Geduld zu verlieren, aber es zeugte von gutem Stil, das Geplänkel des Gastgebers mitzumachen und darauf zu warten, auf die Switch gebeten zu werden. Und es gibt wohl kein größeres Kompliment für einen Kapitän, als wenn ein Pirat darauf wartet, ein Schiff betreten zu dürfen.
»Ash! Lass unsere beiden Gäste bitte an Bord. Und nimm jemand dem Bootsmann doch bitte seine Last ab.« Am Fuße der Gangway stand ein Pirat, der so breit wie hoch war (was nicht sehr hoch, aber sehr breit bedeutete) und trat beiseite, während sie hörten, wie ihnen schnellen Schrittes jemand entgegen lief. Smee wurde das Schild entrissen und sie mussten sich den Weg nach oben bahnen, immer noch in ziemlicher Dunkelheit. Und während die Besatzung der Switch natürlich kein Problem damit hatte, behände nach oben zu gelangen, stolperten Hook und Smee mehr an Bord, als dass sie gingen.
Kaum oben angelangt, sah Smee sofort seinen Kapitän an, in der Angst, das rote Glühen würde sich in dessen Augen zeigen, dass immer erschien, wenn Hook wütend wurde. Aber der lächelte nur charmant in das Halbdunkel vor ihnen; er war scheinbar darauf vorbereitet gewesen. Smee hingegen sah niemanden vor sich. Die kleine Laterne hing nun am Großmast, doch auch in dem kleinen Lichtkreis erschien nicht ein Gesicht. Hook jedoch fixierte weiter eine bestimmte Stelle in der Schwärze vor ihnen und nach kurzem Zögern trat der Rover genau an dieser Stelle auf sie zu.
»Ich kann dir immer noch nichts vormachen, nicht wahr, James?«
Hook tippte sich mit der eisernen Klaue an die Stirn. »Da muss schon mehr passieren.«
Wieder lachte der Rover laut, und es war aus der Nähe so durchdringend, dass Smees Brillengläser auf seiner Nase zitterten.
»Kommt in meine Kajüte, seid meine Gäste. Das Abendessen ist bereits serviert, und ich will sehen, was ihr da Schönes für meine Sammlung habt!«
Damit verschmolz der Rover wieder mit der Dunkelheit, doch Smee hatte sich schon frech die Laterne vom Mast geschnappt und eilte direkt hinterher.
Der Rover drehte sich um und brummte ein paar Worte in seinen Bart, doch Hook entgegnete nur leicht: »Meine Crew eben.«
Sich nicht die Blöße geben wollend, ging der Rover mit einem aufgesetzten Lächeln weiter, und vor ihm wurden die schweren, verzierten Kajütentüren geöffnet. Im ersten Moment hätte Smee sich am liebsten weggeduckt, da er dachte, tausend kleine, stumme Schüsse würden auf sie abgefeuert, aber es waren natürlich, wie er schnell erkannte, die Reflexionen vieler polierter Schätze, die sie drinnen erwarteten.
Doch es waren nicht einfach aufgetürmte Kisten voll Gold, im Gegenteil: Kostbare Statuen nahmen einen Großteil des Platzes ein, die Wand gegenüber den Fenstern war so dicht mit Gemälden behangen, dass sie genauso gut nur aus Leinwänden und Rahmen bestehen konnte; in Vitrinen, die teilweise übereinander gestapelt waren oder in zwei Reihen aneinander geschoben standen, lagen Diamanten-verzierte Reichsäpfel, Königszepter, von Samt umschlungene Admiralsstäbe, Pulverschnecken aus Platt, goldene Kompasse und Skalen; ab und an blickte irgendeine afrikanische Stammesmaske oder ein uraltes Portrait zwischen den Gegenständen hindurch und ließ erahnen, dass die Wände dahinter weitere Schätze zeigen konnten; in einem Regal stapelten sich große Knochenschiffe und drei oder vier Dutzend polierte Fernrohre hingen von der Decke. Jeder Teller auf der zu üppig gedeckten Tafel schien mit Gold verziert zu sein, und überhaupt machte jeder Flecken im Raum den Eindruck, als würde der Besitzer dieser Kostbarkeiten eher ein Museum eröffnen wollen, als sich an schönen Dingen zu erfreuen.
Aber außer den Eindrücken, die genau wie die Vitrinen drohten über einem zusammen zu stürzen, konnte ein Besucher nicht anders, als sich bedroht fühlen: Die Seitenwände waren eingedeckt mit über hundert Schwertern, die alle so gehängt waren, dass ihre Spitzen leicht in den Raum hineinragten.
»Bitte«, sagte der Rover, sich an den verwunderten Blicken seiner Gäste erfreuend, »setzt Euch.«
***
Genau wie ihre Kollegen von der Jolly Roger, tummelten sich auch die Piraten der Switch im Hafen, und so kam es überall schnell zu Szenen der Verbrüderung. Seemannslieder wurden angestimmt (die einzige Möglichkeit, Kritik an den Kapitänen zu äußern, ohne dafür Kiel geholt zu werden), ganze Kisten von Rum, Teufelstöter und Starkbier weggesoffen und die ein oder andere Wette abgeschlossen…
Cookson, angeblich der Bruder des Piraten Black Murphy (was aber nicht bewiesen war!) hatte gerade seine erste Flasche an diesem Abend hinter sich gebracht – von was, das hätte er unmöglich sagen können – und stromerte auf der Suche nach der nächsten Vergnügung durch den Hafen, als ihm eine größere Ansammlung von Menschen auffiel, die in einem weiten Kreis um etwas herumstanden und laute Rufe des Staunens in den Hafen hinaus grölten. Als er näher kam erkannte Cookson, dass nicht nur Seeleute zu der Gruppe gehörten, sondern auch Händler, Touristen, einheimische Arbeiter der Plantagen, und sogar einige der besser gekleideten Kaufleute aus der Stadt. Er hielt in der Menge nach jemandem Ausschau, den er kannte und fand Canary Robb, der grade vor Freude in die Hände klatschte, im Einklang mit den erneuten begeisterten Rufen der anderen. Robb stand mitten in der Menge und reckte immer wieder den Kopf, um besser sehen zu können, als Cookson ihn erreichte.
»Hat einer die Haare vom Kapitän geklaut oder was ist hier los, Robb?«
»Besser – aber auch hier geht’s um Leben und Tod! Alan Herb kegelt mit dem Maat der Switch.«
»Wir waren echt alle zu lange auf See, dass uns das so sehr freuen kann…«, meinte Cookson trocken.
»Ja, aber es ist der Einsatz…«
»Um wie viele Monatslöhne geht es?«
»Es geht um gar keine Löhne, Freund Cookson – der Wetteinsatz ist der eigene Kopf! Der Gewinner darf dem Verlierer den Kopf abschneiden!«
»Meine Fresse –»
»Rate mal, wessen Idee das war.«
»Nichtmal auf der Walrus wäre irgendwem sowas eingefallen! Komm, das will ich von Nahem sehen…«, und sie bahnten sich ihren Weg nach vorne.
Die gefährliche Wette hatte sich herumgesprochen, und immer mehr Leute kamen aus allen Winkeln des Kais und sogar von den Schiffen, um dem Treiben zuzuschauen. Cookson konnte nun sehen, dass Herb nur zwei Punkte vor dem Maat der Switch – Tender war sein Name – lag und laut einer Kreideschrift, die auf einem Fass zu lesen war, jeder nur noch eine Runde zu spielen hatte.
Jemand aus der Mannschaft der Switch raunte Robb zu: »Ihr solltet euch besser nach einem neuen Mann umschauen – es sei denn, ihr wollt im Notfall eingreifen und eure Köpfe auch noch loswerden.«
Doch Robb schüttelte mit einem breiten Grinsen den Kopf. »Lass das mal Herb hier regeln. Ihm würde ich sogar meinen eigenen Kopf anvertrauen.«
Cookson lehnte zu ihm herüber. »‘Nen neuen könntest du ruhig vertragen, so abgestumpft, wie deiner ist…«
Das eiserne Wappen Etons stand nun dem Rover gegenüber auf einer Kommode, Hook hatte darauf bestanden.
»Unser Schiff ist ja noch ganz unauffällig, aber wie schaffst du es, die Switch hier so unbeachtet ankern zu lassen?«, fragte Hook, als er sich ein weiteres Stück Filet auf seinen Teller zog.
Der Rover winkte ab. »Kein großer Trick. Es ist genug Geld in die Taschen der Stadtverwaltung geflossen, damit wir für Wochen unsere Ruhe haben…«
»Dann habt Ihr bestimmt einfach nur irgendwas aus Ihrer Sammlung hier verschenkt, oder?«, fragte Smee unbedarft, doch bevor der Rover antworten (oder zum Schlag ausholen) konnte, stieg Hook mit ein: »Ich sehe gar keine Preisschilder -«
Der Rover unterbrach ihn. »Die Dinge in diesem Raum sind alle samt von einem Wert, der weit über jede Schätzung hinaus geht.«
»Ihr habt zu all diesen Dingen eine emotionale Bindung?«, fragte Smee.
»Nein, er meint das wörtlich«, flüsterte Hook ihm zu.
Der Rover hatte es scheinbar nicht gehört. Er hatte sich nach hinten gelehnt, den Blick auf die Zimmerdecke gerichtet, obwohl es wohl aussehen sollte, als wären seine Gedanken schon weit weg. »Ich hatte niemals viel im Leben, im Gegensatz zu Jas hier, und versuchte meine Träume zu erfüllen, in dem ich zur See ging, Pirat wurde…«
Wieder flüsterte Hook: »Und er sich alles zusammen stahl…«
Unbeirrt fuhr der Rover fort: »… doch auch die Piraterie erfüllte mich nicht. Erst als ich sah, was bestimmte Schätze in mir auslösten, fühlte ich mich vollständig, war ich wirklich und wahrhaftig im Leben angekommen.« Diese theatralische Rede sollte seinen Gästen wohl zeigen, was für ein feingeistiger Mann vor ihnen saß, aber Smee hatte einen anderen Eindruck gewonnen. So unschuldig wie möglich fragte er: »Und Sie haben so viele Schätze hier, um sich daran zu erinnern, dass Sie wissen, wer Sie sind?«. Der Rover lief rot an, doch er schluckte seinen Zorn mit einem großen (natürlich reichverzierten) Kelch Rotwein hinunter.
»Es kommt mir oft so vor, als hätte ich alles, was für mich von Wert sein könnte, bereits gesammelt. Es mag tausend und mehr Schätze da draußen geben, die es zu besitzen lohnt, aber solange nicht etwa die San José gefunden wird, werden es nur immer wieder Truhen und Dolche und Fernrohre und Uhren und Mumpitz sein.« Er seufzte. »Um Schätze brauchst du dir in deinem Königreich ja keine Sorgen zu machen, Jas.«
»Nimmerland ist kein Königreich, und es ist auch nicht so, als würde die Insel von Schätzen überquellen, nur, weil ich das so will.«
Der Rover blickte ihn über seinen Kelch hinweg an. »Aber es gibt dort immerhin Schätze, oder?«
»Oh, es ist schon hie und da noch irgendwo eine Truhe vergraben oder eine Höhle voller Gold zu finden, aber des Buddelns um Dublonen, die dort sowieso keinen Wert haben, bin ich müde. Was ich will, ist diese unbändige Natur im Überfluss – und was mir fehlt, das ist kultivierte Gesellschaft, oder Gesellschaft irgendeiner Art, die sich nicht mit Eseln vergleichen lassen muss…«
Smee schien den Seitenhieb auf ihn gar nicht zu bemerken, so sehr war er schon mit seinem Dessert beschäftigt.
Hook fuhr fort: »Deshalb komme ich so gerne nach Manaus. Erlesene Reichtümer erwarten einen hier, in jeder nur erdenklichen Weise.«
Der Rover lehnte sich zurück.
»Dann bleib doch hier oder lass dich in Windsor nieder, bei deinem geliebten Eton.« Der Rover, der nie eine Schulbildung genossen hatte, versuchte nicht bitter auf das Wappen hinter Hook zu schielen.
Doch Hook schüttelte nur den Kopf. »Ich kann nicht. Bei meinem Lebenslauf nach Eton zurückzukehren…«
»Ein tadelloser Ruf für einen Piraten!«
»Und eine Schande für einen alten Etonier. Schlechter Stil«, wandte Hook ein.
»Vielleicht solltest du die Piraterie aufgeben, um Etons willen«, schlug der Rover mit einem verschmitzten Lächeln vor.
»Hmm?«
»Und weil ich dann konkurrenzlos bin.«
Hook lehnte sich zu ihm nach vorne. »Ich wusste nicht, dass wir in der selben Liga spielen.«
Mit gespielter Verletztheit griff sich sein Gegenüber an die Brust. »Du hättest auch einfach sagen können: Wir sind doch Kollegen und keine Konkurrenz, da nimmt man sich nichts weg…«
»Dann hätte ich ja lügen müssen, und das wäre…«
»Schlechter Stil«, beendete Smee den Satz, bevor der Rover es konnte.
»Ja, ja, ich weiß… Was hält dich denn in Nimmerland?« Der rote Freibeuter ließ nicht locker.
Hook wirkte kurz abwesend. »Ich habe noch ein, zwei Angelegenheiten zu regeln.«
»Offene Rechnungen?«
»Unerlebte Abenteuer.«
»Mann, Jas! Da sagst du es doch selber! Ich kann mir nicht vorstellen, was ein Ort wie Manaus jemandem geben kann, der an einem Ort lebt, an dem Träume fliegen gelernt haben!«
Hook entgegnete: »Ist es das, weshalb wir zur See gefahren sind? Nur wegen der Schätze?«
Der Rover ließ seine schweren Fäuste härter auf den Tisch fallen, als es angemessen schien. »Verdammt nochmal, ja!«
Smee und Hook schauten ihn verwundert an, er legte die Hände beschwichtigend auf die Tischplatte. »All das zu besitzen, dafür sind Piraten in der Welt!«
»Ich liebe eine gute Schatztruhe so sehr wie jeder andere auch. Ich liebe das Abenteuer und den Nervenkitzel und ja, natürlich das Morden«, dabei hob er stolz den Haken, »– aber soll ich deshalb nur in meiner Kajüte auf einem Haufen Gold sitzen und Rum saufen?«
»Sowas stelle ich mir jedenfalls unter einem schönen Leben vor, ja!«, lachte der Rover. Er hatte sich wieder einbekommen und versuchte eine kumpanenhafte Miene aufzusetzen.
Hook war sich seiner Sache sicher.
»Ich will eben beides haben.«
Doch der Rover schien ihn gar nicht zu hören.
»Nur einmal würde ich gerne einen Blick auf deine Insel werfen, um diese Schätze mit eigenen Augen zu sehen«, sagte er gedankenverloren.
»Du kannst die Insel sehen, wenn du ganz fest die Augen schließt, aber näher wirst du Nimmerland niemals kommen!«, lachte Hook. Er wunderte sich, dass ihm der dickflüssige Portwein so zu Kopf gestiegen war, da Hook sich fühlte, als würde sich der ganze Raum zu sehr in den Wellen wiegen. Als sich sein Blick der Decke zuwandte, auf die leicht schwankenden Fernrohre über seinem Kopf, schlug der Rover laut mit der flachen Hand auf den Tisch und riss ihn aus seinen Gedanken.
»Nun, Hook! Dann kommen wir von deinen zu meinen Schätzen. Ich will mich natürlich heute wieder von einem Schmuckstück trennen, deshalb sind wir ja hier… Teddy!« Der Rover stampfte hart auf.
Hook ging davon aus, dass sich nun die Türe hinter ihm öffnen würde, aber stattdessen hörte er unter ihren Füßen schnelle Schritte und nach ein paar Sekunden öffnete sich neben dem Tisch eine Falltür, die er bislang übersehen hatte.
Ein junger Mann kam über eine steile Treppe nach oben, eine kleine Schatulle in der Hand. Teddy trug einen ausladenden Dreispitz aus labbrigem Filz, der ihm halb ins Gesicht hing und sein struppiges Haar bis auf ein paar Strähnen an den Koteletten verdeckte. Er ging fast unter seinem Hut verloren, so klein wirkte er auf Smee, und seine drahtige Gestalt wirkte zwischen den bulligen Statuen merkwürdig deplatziert. Sein Gesicht war von irgendeiner alten Verletzung, wahrscheinlich einer Verbrennung, ganz rot und war deswegen bartlos.
»Komm her, Junge. Zeig uns doch mal, was du da hast«, wies ihn der Rover an. Doch noch bevor Hook seine Hand nach dem Kästchen ausstrecken konnte, hatte der Rover über den Tisch gegriffen und Teddy das Geschenk aus der Hand genommen. Er klappte den Deckel auf und schien einen langen Moment auf das Ding im Inneren zu starren, eine leichte Nervosität in den Augen. Er schaute Teddy an, der hinter Hook und Smee stand und nickte. Dann drehte der Rover das Kästchen um und stellte es auf den Tisch. Hook schaute den Kompass misstrauisch an.
»Na, in welche Richtung muss diese Nadel weisen, damit du in dein Nimmerland kommst?«, versuchte es der Rover erneut.
»Oh, der Weg ist ganz einfach… Der zweite links, und dann einfach… Ach was, das ist völlig frei erfunden!«, lachte Smee. Der Rover nahm den Kompass plötzlich wieder an sich und betrachtete ihn eingehend.
»Der Weg ist nicht mit Geräten zu finden, denn es ist die Insel, die nach einem Ausschau hält. Du kannst zweimal um die ganze Welt segeln und würdest dennoch nicht an diesen Zauberstränden landen«, erklärte Hook.
Der Rover schob einen kleinen Riegel an der Seite des Kompasses nach oben. »Und wenn die Insel nicht nach mir sucht, dann brauche ich jemanden der mich hinführt, oder?«
Da grinste Hook. »Viel Erfolg dabei…«
»Den werde ich haben«, sagte der Rover kalt und warf Hook den Kompass zu, dessen Zeiger nun wie wild rotierten.