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1 Einleitung 1.1 Das Studium des 18. Jahrhunderts als Zugang zur Moderne

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Das 18. Jahrhundert als „Sattelzeit“

Das 18. Jahrhundert gilt als Zeit eines tiefgreifenden Wandels, als eine „Sattelzeit“, wie eine oft zitierte Wendung des Historikers Reinhart Koselleck lautet. Denn hier kam vieles von dem an sein Ende, was seit dem Mittelalter das Leben in Europa bestimmte, und zugleich nahmen die Verhältnisse Kontur an, unter denen wir heute leben. Hier wurden entscheidende Schritte in Richtung Moderne getan, hat sich das meiste von dem herangebildet, was wir mit dem Prädikat modern versehen und damit als charakteristisch für die heutige Welt kennzeichnen: die moderne Gesellschaft, der moderne Staat, die moderne Ökonomie, das moderne Leben, das moderne Denken, die moderne Öffentlichkeit, die moderne Wissenschaft und, last not least, das moderne literarisch-ästhetische Leben mit den entsprechenden Formen von Kunst und Literatur, Ästhetik, Literaturtheorie und Literaturkritik. All dies zeigt sich im 18. Jahrhundert zum ersten Mal in den uns vertrauten Formen.

So können wir hier die Moderne unter ihren Entstehungsbedingungen studieren, können wir uns hier vieles von dem, was unser heutiges Leben prägt, daraufhin ansehen, wie es ursprünglich gemeint war und wie es auf den Weg gebracht worden ist, nicht zuletzt um uns klarzumachen, was seither daraus geworden ist. In diesem Sinne kann man kaum irgendwo mehr über die moderne Welt erfahren als im Studium des 18. Jahrhunderts. Jedenfalls kann man hier mehr darüber lernen, als wenn man sich ausschließlich mit der Gegenwart beschäftigt. Denn die Gegenwart ist uns viel zu nahe, wir sind viel zu sehr in sie verstrickt, als daß wir sie auch nur annähernd überblicken und durchschauen könnten. Es fehlt uns die Distanz, die uns die Verhältnisse kenntlich werden läßt. Wir müssen eine solche Distanz erst herstellen, und dies

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können wir nur, indem wir das Gegenwärtige mit dem Vergangenen konfrontieren. Insofern können diejenigen, die sich ausschließlich mit der Literatur der Gegenwart beschäftigen, vielfach am wenigsten über sie Auskunft geben. Wer um die Geschichte einen Bogen macht, bleibt immer ein Idiot der Aktualität. Das macht zumal in der Wissen­schaft wenig Sinn, denn für den Idiotismus der Aktualität hat die moderne Gesellschaft schon die Medien, den Journalismus und die Kritik; dafür braucht sie keine Wissenschaft.

Die Literatur des 18. Jahrhunderts im kulturellen Gedächtnis

Das 18. Jahrhundert als „Sattelzeit“, als die Zeit, in der sich die modernen Verhältnisse heranbilden, in der die moderne Welt Kontur annimmt. Was diese These besagt, kann man schon allein daran erkennen, daß einem heutigen Leser das Ende des 18. Jahrhunderts unendlich viel näher ist als sein Anfang. Im Prinzip gilt das natürlich für jede Epoche, aber es gilt beim 18. Jahrhundert doch in besonderem Maße. Die Literatur aus den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts hat sich sehr viel besser im kulturellen Gedächtnis erhalten als die aus seinen ersten Jahrzehnten. Die namhaften deutschen Autoren aus der ersten Jahrhunderthälfte, die zwischen 1680 und 1710 geborenen, sind fast alle vergessen, werden heute kaum mehr freiwillig, um des puren Lesevergnügens willen gelesen; die bedeutenden Autoren aus der zweiten Hälfte des Jahrhunderts hingegen, die um 1730 geborenen, und zumal die aus der Zeit um die Wende zum 19. Jahrhundert, die nach 1750 geborenen, sind allgemein bekannt, sind im kulturellen Gedächtnis präsent.

Welcher Zeitgenosse hat wohl schon einmal etwas von Barthold ­Hinrich Brockes (1680 –1747), Johann Jakob Bodmer (1698 –1783), Johann Christoph Gottsched (1700 –1766) und dessen Frau Luise ­Adelgunde Victorie Gottsched (1713 –1762), der „Gottschedin“, von Friedrich von Hagedorn (1708 –1754) und Albrecht von Haller (1708 –1777) gehört? Da befinden wir uns noch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Und mit den Erfolgsautoren der Jahrhundertmitte, mit Christian Fürchtegott Gellert (1715 –1769), Friedrich Gottlieb Klopstock (1724 –1803) und Salomon Geßner (1730 –1788) wird die Sache noch kaum besser. Gotthold Ephraim Lessing (1729 –1781) hingegen, Christoph Martin Wieland (1733 –1813) und Georg Christoph Lichtenberg (1742 –1799) kennen die meisten, kennen sie zumindest vom Hörensagen, und noch mehr haben schon einmal etwas von Goethe (1749 –1832) und

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Schiller (1759 –1805), Hölderlin (1770 –1843), Novalis (1772 –1801) und Kleist (1777 –1811) gehört. Und den letzteren nähert man sich im allgemeinen schon in der Erwartung, daß man von dem, was sie schreiben, unmittelbar erreicht werden könnte, daß es uns Heutigen schon recht nahe wäre.

Literatur- und Kulturgeschichte, Kontextwissen und Literaturverständnis

So muß es in dieser Einführung in die Literatur des 18. Jahrhunderts zunächst darum gehen zu sichten, was es hier überhaupt an Literatur gibt und wie sie beschaffen ist, wer da alles geschrieben hat, für wen und warum, aus welchen Antrieben heraus, mit welchen Absichten und Zielen. Das kann freilich kaum gelingen, ohne zugleich nach dem literarischen Leben der Zeit zu fragen, als dem Raum, in dem sich der Austausch von Autoren und Lesern vollzogen hat, ohne sich Rechenschaft davon zu geben, was die Basis des literarischen Lebens in der Gesellschaft war, welche Schichten und Gruppen es getragen haben, wie es in der Kultur der Zeit verankert war und in welchen Formen es sich unter diesen Voraussetzungen entfaltet hat. Daß hierbei die Autoren und Werke von besonderem Interesse sind, die die Menschen seinerzeit besonders intensiv beschäftigt haben und die von daher in den Kanon der literarischen Überlieferung, in das kulturelle Gedächtnis eingegangen sind, versteht sich von selbst.

Dem allem ist natürlich mit dem bloßen Sichten und Zusammentragen von Fakten noch nicht gedient. Worauf es bei einer Einführung wie dieser vor allem ankommt, das ist, dafür zu sorgen, daß die literarischen Texte des 18. Jahrhunderts dann auch wirklich zu einem heutigen Leser sprechen können; daß er die Texte verstehen kann, daß er sich erschließen kann, was sie uns Menschen von heute womöglich noch immer zu sagen haben. Denn alles Sammeln von Informationen über die Literatur des 18. Jahrhunderts macht ja nur insofern Sinn, als man mit ihr am Ende wirklich ins Gespräch kommt.

Das erfordert aber einiges an Vorarbeit. Denn natürlich ist uns diese Literatur nach den zwei-, dreihundert Jahren, die seither vergangen sind, in vielem fern gerückt, fern vielfach schon von der Sprache her, die sie spricht, und erst recht durch das, was sie an Vorstellungen kultiviert; durch das Wissen, mit dem sie arbeitet, durch die Sachen, die sie zur Sprache bringt, und durch die Begriffe und Wertvorstellungen, mit denen sie an diese Sachen herangeht. Es gilt also, sich auch in der Kultur dieser so fern gerückten Epoche umzusehen, zu fragen, wie die

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Menschen damals gelebt haben, was sie gewußt und gedacht haben, wie sie ihre Welt und sich selbst gesehen haben. Nur in dem Maße, in dem sich ein solches Wissen heranbildet, als kulturgeschichtliches Kontextwissen, das ihre Texte erschließt, nur in dem Maße, in dem es gelingt, die geschichtlichen Barrieren auszuräumen, die ihrem Verständnis im Wege stehen, wird ihre Literatur wirklich zu uns sprechen, und darauf muß es hier vor allem ankommen.

Das aber heißt, daß es im folgenden – anders als man es vielleicht von einer Einführung erwarten mag – nicht darum gehen wird, möglichst viele der Namen und Werke zu benennen, die in den Literaturgeschichten unter der Rubrik 18. Jahrhundert aufgeführt werden. Darüber kann man sich unschwer in den probaten Nachschlagewerken informieren, in Literaturgeschichten, Handbüchern, Fachlexika und Forschungsberichten. Vielmehr soll vor allem versucht werden, einen Zugang zu dem zu eröffnen, was die Literatur des 18. Jahrhunderts „im Innersten bewegt“, was in ihr an Fragen aufgegriffen und an Problemen ausgetragen wird.

Was hier auf den Leser zukommt, ist mithin so etwas wie eine kulturgeschichtlich fundierte Geschichte der Literatur des 18. Jahrhunderts. Es könnte aber genausogut eine literaturgeschichtlich fundierte Geschichte der Kultur des 18. Jahrhunderts heißen. Denn wie die Beschäftigung mit der Kultur des 18. Jahrhunderts die Literatur der Zeit aufschließen soll, so die Beschäftigung mit dieser Literatur die zeitgenössische Kultur. Beides, Textkenntnis und Kontextwissen, sind die zwei Seiten einer Medaille, beides kann nur zugleich in Angriff genommen werden. Indem wir uns in der Kultur des 18. Jahrhunderts umsehen, erschließt sich seine Literatur unserem Verständnis. Und indem wir uns mit dieser Literatur auseinandersetzen, wird sie für uns zu einem Fenster in die Welt des 18. Jahrhunderts.

Literatur als Zugang zu Identität und Alterität

Literatur ist für den lesenden Menschen ja immer beides zugleich: ein Spiegel und ein Fenster; ein Spiegel, in dem er sich selbst bespiegelt, und ein Fenster, durch das er andere und anderes zu sehen bekommt; ein Spiegel, in dem er seiner selbst, seines eigenen Lebens und seiner eigenen Welt ansichtig wird, und ein Fenster, durch das er nach anderen und anderem Ausschau hält, Einblick in das Leben anderer Menschen bekommt, Einblick in fremdes Leben, in fremde Welten. Mit wissenschaftlicher Ambition gesagt: lesend sind wir stets

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auf der Spur der eigenen Identität und auf dem Weg zur Alterität, beides in einem.

Das gilt übrigens für jede Form von historischen Studien, für jedes Interesse an früheren Zeiten. Warum beschäftigt sich der Historiker mit der Vergangenheit, warum der Literarhistoriker zum Beispiel mit der Welt des 18. Jahrhunderts? Vor allem aus zwei Gründen. Zum einen weil er wissen will, wie das geworden ist, was heute ist, wie sich die Verhältnisse herangebildet haben, unter denen wir heute leben – womit sich stets die Hoffnung verbindet, das, was heute ist, genauer sehen und besser verstehen zu können. Das ist das genetische Interesse an der Geschichte, das Interesse an der Genese der heutigen Verhältnisse. Und zum anderen will er, wenn er in die Geschichte zurückblickt, Verhältnisse kennenlernen, die anders sind als heute, will er die heutigen Verhältnisse, die uns so selbstverständlich, ja vielfach nur allzu selbstverständlich sind, mit anderen Verhältnissen kontrastieren und so auf Distanz stellen, will er sich ein Bewußtsein davon geben, daß alles auch ganz anders sein könnte als heute und schon einmal anders gewesen ist. Das ist das kontrastive Interesse an der Geschichte. Das genetische Interesse zielt auf Identität, das kontrastive Interesse auf Alterität. Und auch hier gilt, daß man beide Interessen nur in einem verfolgen kann.

Das 18. Jahrhundert ist nun sowohl für das genetische als auch für das kontrastive Interesse, sowohl für Identitäts- als auch für Alteritätsfragen besonders aufschlußreich, insofern es sich bei ihm um eine „Sattelzeit“ handelt, um die Zeit, in der sich die Genese der modernen Welt vollzogen hat. Die meisten der großen und kleinen Schritte, die damals in Richtung auf die modernen Verhältnisse zu unternommen worden sind, kristallisieren sich aber um einen einzigen Begriff: um den der Aufklärung. Das 18. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Aufklärung. Von dieser Aufklärung hat man sich also zunächst und vor allem Rechenschaft zu geben, wenn man in die Literatur der Zeit eindringen will. Und so sei als erstes versucht, sich hiervon einen Begriff zu machen, einen ersten Begriff, einen Vorbegriff, der sich dann bei der Auseinandersetzung mit den Zeugnissen des 18. Jahrhunderts zu bewähren und zu bestätigen hat.

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Geschichte der deutschen Literatur. Band 2

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