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4 Ist Mystik betrügerisch?

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In fast allen religiösen Systemen hat sich gegen den religiösen Herrschaftsanspruch im Namen Gottes Widerstand formiert. Es sind die mystischen Bewegungen, die daher immer der Häresie verdächtigt wurden. Im Islam war es der Sufismus, im Judentum die Kabbala, im Christentum unterschiedliche Strömungen wie die Alumbrados oder die devotio moderna. Es ist auffällig, dass nur im christlichen Raum Frauen (z.B. Beginen) stets eine wichtige Rolle in der Mystik spielen. Die monotheistischen Religionen verhindern nach Ansicht der Mystiker die wahre Gotteserfahrung, da sie eine Dualität von Gott und Mensch voraussetzen. Der Zugang zu Gott wird nämlich durch religiöse Institutionen und theologische Systeme vermittelt. Die Mystik will gerade diese Dualität aufheben, da Gott für sie als ein vom Menschen getrennter Seiender, eine Projektion ist. Unser Denken, das alles begründen will, führt uns in die Irre. Es will in einem Jenseits den Grund von allem finden. Zur Überwindung dieser Spaltung der Wirklichkeit wird oft K. Rahner mit dem Satz zitiert: „Der Christ der Zukunft muss ein Mystiker sein oder er wird nicht mehr sein.“ Die mystische Spiritualität meint, dass dies nicht nur für Christen, sondern für die ganze Menschheit gilt, die diesen „Quantensprung des Bewusstseins“ (W. Jäger) vollziehen muss. Alle zwischenmenschlichen Beziehungen, alle Religionen und Institutionen, alle Hinwendung zur Welt sind nur ein Zwischenstadium zur göttlichen Einheit. Gott, Welt und Mensch gehören zusammen. Sie sind nur verschiedene Perspektiven einer einzigen Wirklichkeit. Die unio mystica, die Kontemplation (Satori, Samadhi), geht daher tiefer als alle Religionen. Die Erfahrung der Einheit aller Wirklichkeit ist Gotteserfahrung. Kontemplation ist daher keine Religion, sie überschreitet sie und ist der spirituelle Weg. Der Egozentrismus wird auf diesem Weg aufgehoben und mystische Erfahrung ist möglich. Individuelle Formen vergehen, ewig ist nur das Leben. Aus allen Formen ertönt die Symphonie: Gott. In allem sprudelt die Quelle des Lebens. Daher gilt: „Wir sind unserem Wesen nach ungeboren und unsterblich“ (W. Jäger). So ist die Einheit von Gott und Mensch wie die Einheit von Meer und Welle. Das Wasser des Flusses und das Wasser des Regens, der vom Himmel fällt, sind nicht zu trennen. Zwei Kerzen, die man zusammenführt, geben ein Licht. Das Ich wird in der Überwindung der Dualität aufgehoben. Gott ist die allumfassende Urwirklichkeit, in der die Subjekt-Objekt-Spaltung ein Ende findet. In Jesus Christus wird die tiefste mystische Einheitserfahrung gesehen, die sich im bereits zitierten johanneischen Wort ausdrückt: „Ich und der Vater sind eins, wer mich sieht, sieht den Vater.“

Auf diese Weise kann jeder Mystiker sprechen, denn er ist „Gottes Sohn“. Allen Menschen ist dieser Titel zu eigen. In dieser Vorstellungswelt scheint die Gottverlassenheit nur eine metaphorische Redeweise zu sein, so wie ein Vater sich zurückzieht, damit das Kind selbständig gehen lernt. Die Selbsterfahrung, vom Anderen (Gott, Mensch) getrennt zu sein, ist „eine Art optische Täuschung des Bewusstseins“ (W. Jäger). Der Mystiker versteht sich als eine Offenbarung des göttlichen Urquells und flüchtet weder ins Diesseits noch ins Jenseits. So wie Gott sprechen kann, dass er Mensch ist, so kann der Mensch sagen, dass er Gott ist. Das „Wesenseins“ des Konzils von Nikaia 325, durch das die Menschwerdung Gottes festgehalten werden sollte, gilt in der Mystik grundsätzlich für jeden Menschen. Der Mystiker verneint nicht unsere Welt, sondern sieht sie als eine Manifestation der Urwirklichkeit. Der Wandel der Welt geschieht daher nur durch den Einzelnen und nicht durch neue oder vielleicht bessere Gesellschaftsordnungen. Der konkrete Mensch ist eine intelligente Energie, ein materialisiertes Bewusstsein der Urwirklichkeit. Das „Ich“ ist nur ein Durchgangsstadium, eine Schaumkrone auf hoher See. Der Mensch wird so zu einem göttlichen Leben, das menschliche Erfahrungen macht. Vollendung geschieht also bereits hier und jetzt, in der Vergänglichkeit selbst und ist keine Zukunftsmusik. Wir alle sind nur Teil des Ganzen, das zu lieben ist. Aus diesem Ganzen (Holismus) entspringt die Nächstenliebe.

Es ist zu fragen, ob es in dieser mystischen Konzeption noch eine echte Gottferne geben kann, wie sie Jesus am Kreuz ausgesprochen hat: „Warum hast DU mich verlassen?“ Auch scheinen Bemühungen um gesellschaftliche Strukturveränderungen wie zwischenmenschliche Beziehungen nur sekundär zu sein. „Der Rückzug in die Innerlichkeit eines masken- und rollenfreien Ichs lässt zugleich alle die Menschen vereinenden Beziehungen zusammenbrechen, jenes ‚Zwischen‘, das nach H. Arendt die Welt ausmache“ (E. Pulcini).14 In dieser Innerlichkeit, in der alles eine Einheit bildet, werden die Verschiedenheiten zu einer Art „Maya“, Schein, einer vergänglichen Oberfläche. Gegenüber dem Urprinzip sind alle Beziehungen wie die Äste an einem Baumstamm – nur vorläufiger Vorübergang. Versinkt dadurch nicht das Andere als Anderes in einer Harmonie, die Täter und Opfer gleichermaßen verschlingt wie ein Schwarzes Loch? Sieht man nur dann Gott, wenn man nichts mehr sieht? „In deinem Nichts hoff’ ich das All zu finden“, sagt Faust.15 Und Mephisto: „Ich liebte nur dafür das Ewig-Leere.“16 Ist das Nichts Schleier des Seins, wie M. Heidegger meint? Ist Gott nur Gott, wenn alle Bilder, alle intellektuelle Erkenntnis, alle zwischenmenschliche Liebe schweigen und er als Nichts, als Leere usw. erfahren wird, die in Wirklichkeit die ganze Fülle aller Wirklichkeit ist, in die ich durch das „Erwachen“ integriert werde? In diesem mystischen Verständnis werden ohne Zweifel die religiösen Mauern durchbrochen, die Menschen an ein Herrschaftssystem ketten. Mystik ist insofern Befreiungsarbeit. Aber ist ihre Befreiung nicht doch ein Zuviel, indem sie die Freiheit im All-Einen aufgehen lässt und das Widerständige, Konkrete, das sich nicht ins Schema einfügt, einfach wegkürzt? Der konkrete, nicht durch ein System einzufangende Mensch schmilzt wie ein Schneemann in der Sonne. So wie die Religionen allen Sinn und Wert a priori in Gottes Offenbarung sehen, so die Mystik in der Allwirklichkeit, die Gott ist. Indem der Mensch sich in sie auflöst, gelangt er zu seiner Bestimmung. Der Wein oder das Süßwasser verschwinden im salzigen Meer, das alles enthält und verschlingt. In jedem System, in jeder Weltanschauung, in jedem Humanismus, in dem Sinn und Wert vorgegeben sind, wird der konkrete Mensch in seiner einmaligen Existenz negiert. Sinn und Wert sind fremdbestimmt. Diese Fremdbestimmung stellt ein Beruhigungsmittel dar, da man glaubt, dass es zu einem geglückten Leben führt. Aber es ist eine Verführung, die Freiheit und Liebe pervertiert. Sinn und Wert sind nicht vorherbestimmt, sondern sie sind uns in unseren Lebensvollzügen aufgegeben, um sie zu realisieren. Im Heute unserer Existenz können wir Erfüllung finden, indem wir jedem Augenblick unseres Lebens einen Sinn und Wert geben. Nur im Lebensvollzug selbst erschließen sich Wert und Sinn. Außerhalb suchen wir sie vergebens. Keine Religion, kein sich offenbarender Gott, keine Mystik, keine tiefe Innerlichkeit, kann sie uns schenken. Außen und Innen sind verfehlte Kategorien. In jedem System ist das Konkrete als Konkretes, d.h. der konkrete Mensch, ausgeschlossen. Systeme können höchstens Wegweiser sein, die aber meist in der falschen Richtung aufgestellt sind und daher nicht ans Ziel führen. Befreiungsarbeit von Religion, Mystik und humanistischen Systemen ist lebensnotwendig, damit menschliches Leben nicht erstickt. Jesus von Nazareth, auf den sich fälschlicherweise die christlichen Religionsgemeinschaften berufen, hat versucht, systembefreiend zu wirken.

Glaube ohne Denkverbote

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