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1. KAPITEL August 1968 Es geht immer um die Musik.

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Mir ging eine Melodie durch den Kopf, als ich mit ein paar Minuten Verspätung in Los Angeles landete. Mein ganzes Leben lang hatte ich Musik im Kopf gehabt; an diesem Abend half mir die Melodie (der Titelsong der TV-Serie 77 Sunset Strip), mein Gedankenwirrwarr niederzukämpfen. In den vergangenen Monaten war meine wohlgeordnete Welt aus den Fugen geraten, und während des Flugs von London ballte sich alles in mir zusammen. In der vollbesetzten Kabine gab es kein Entkommen und kaum eine Ablenkung. Es war Zeit für eine Bestandsaufnahme, für Entscheidungen, die in meinem chaotischen Leben anstanden. Ich dachte darüber nach, aus meiner Heimat wegzuziehen, meine Ehe zu be-enden, mein Konto zu kündigen und meine Band zu verlassen – und zwar alles auf einmal. Allein schon eine dieser Entscheidungen konnte einen Mann ins Schwitzen bringen, und ich wollte jetzt alles aufgeben.

Mit meiner Band, den Hollies, befand ich mich in einer Sackgasse. Wir waren miteinander aufgewachsen, hatten viele Jahre zusammen Musik gemacht, Songs geschrieben, uns betrunken und herumgeblödelt; wir hatten eine fantastische Serie von Hits, unglaublichen Erfolg – aber aus meiner Sicht hatten wir uns auseinandergelebt. Ich hatte mich weiterentwickelt und eine neue, aufregende Richtung eingeschlagen, und mein Herz und meine Seele gehörten nicht mehr den Hollies. Mit meiner Ehe war es dasselbe. Meine Frau Rosie und ich hatten uns beide ein wenig treiben lassen. Wir wussten, dass es zwischen uns zu Ende ging. Seit einem halben Jahr schon gingen wir mit anderen aus. Jetzt war sie in Spanien, um einem Mann hinterherzujagen, und ich war auf dem Weg nach Los Angeles, um eine Frau zu besuchen, die mein Herz erobert hatte.

Ich hatte mich auch in L.A. und die Staaten verliebt. Von dem Augenblick an, als ich zum ersten Mal einen Fuß auf amerikanischen Boden gesetzt hatte, wusste ich: Es war das Gelobte Land. Ich saugte die Atmosphäre in Hollywood auf – die Musik, die Sonne, die Palmen, die Lebenseinstellung der Leute, ihre Lockerheit, die Art, wie sie einen fragten: „Was denkst du dazu?“ In England fragt dich nie jemand nach deiner Meinung. Du lernst, deine Angelegenheiten für dich zu behalten, dich stets von der besten Seite zu zeigen. In Amerika schien es keine Regeln zu geben. Alles war möglich, und ich liebte diese Freiheit. Ich wünschte mir das alles.

Kein Zweifel, mein Leben war kompliziert geworden. Ich stand am Scheideweg. Es gab eine Menge unbeantworteter Fragen. Meine Lage wurde mir nur noch klarer, als ich aus dem Flugzeug stieg und zum Taxistand ging. Ich musste nicht auf mein Gepäck warten. Ich hatte meine Gitarre dabei. Das war’s; mehr hatte ich nicht mitgenommen. Alles andere war egal. Ich war in Amerika. Ich war auf dem Weg zu meiner neuen Freundin, zu Joni.

Die Sonne stand bereits tief am Himmel und tauchte die Hollywood Hills in das goldene Licht des Sommers, als das Taxi den Laurel Canyon hochfuhr. Ich hatte immer ein gutes Gefühl, wenn ich hierherkam. Das Viertel lag nur ein paar Minuten entfernt vom Sunset Strip mit all seinem Wahnsinn und war doch eine ganz andere Welt. Es strahlte einen etwas heruntergekommenen Hippie-Charme aus, verrückte kleine Pfahlhäuser reihten sich an beiden Seiten der gewundenen Straße aneinander. Es war ein Ort, an dem Freigeister wie ich kreativ waren und Musik machten. Ich spürte den Sog von Laurel Canyon, das Gemeinschaftsgefühl. Hier fühlte ich mich zu Hause.

Wir hielten vor einem kleinen Holzhaus auf der Lookout Mountain Avenue. Es war nichts Nobles; ein Bungalow mit einem einzigen Schlafzimmer, trotzdem ein kleines Juwel mit schrägem Schindeldach und einem schönen Garten hinter dem Haus. Vor der Veranda stand ein Bäumchen, und ein grüner VW-Bus parkte neben dem Briefkasten am Bordstein. Drinnen brannte Licht, und ich hörte den warmen Klang von Stimmen. Ich wusste, dass sie in Gesellschaft war, ich hatte sie vom Flughafen aus angerufen. Und ich wusste auch, wer bei ihr war. Dennoch zögerte ich. Ich wollte nicht stören. Ich stützte mich auf meinen Gitarrenkoffer und dachte noch einmal darüber nach, wo ich war und was ich gerade tat. Tief in meinem Inneren war ich immer noch der kleine Junge aus Nordengland; eine Gegend, die in mir Spuren hinterlassen hatte. Klar, das wusste ich auch: In England war ich ein Rockstar, ich hatte es geschafft. Und doch gab mir meine Vergangenheit das Gefühl, dass ich nicht cool war, dass ich vielleicht sogar jetzt völlig fehl am Platz war. Ach – zum Teufel damit. In den letzten zehn Jahren hatte ich ganz andere Situationen gemeistert. Es gab keinen Grund, jetzt Komplexe zu kriegen.

Plötzlich stand Joni in der Tür, und alles andere war egal. Es waren einige Monate vergangen, seit wir uns das letzte – und erste – Mal gesehen hatten, aber unsere Verbindung war sofort wieder da. Joni Mitchell hatte einfach alles: Sie war eine schöne, grazile Frau mit rosigen Wangen, wie vom Wind gezaubert, und sie schien von innen heraus zu leuchten. Ihre Schönheit war ein beinahe genauso großes Geschenk wie ihr Talent, und sie hatte mich in ihren Bann gezogen, hatte mich von der ersten Sekunde an fasziniert.

Hinter ihr, am Esszimmertisch, saßen die zwei Männer, die ich bereits erwartet hatte. Ich grinste, als ich sie sah. „Hey, Willy!“, rief David Crosby durch den Raum – er nannte mich bei einem Spitznamen, der meinen engsten Freunden vorbehalten war. Er war einer dieser unglaublichen Menschen, die man unmöglich nicht mögen kann, ein geselliger Typ, respektlos wie sonst was, mit einer tollen Stimme und einem großartigen Sinn für Humor. Ich hatte ihn zwei Jahre zuvor kennengelernt, als er noch Mitglied bei den Byrds war, und wir waren Freunde geworden. Irgendetwas machte einfach Klick, wenn wir zusammen waren. Wir lagen auf einer Wellenlänge, mochten dieselbe Musik und dieselben Frauen, Joni inbegriffen – sie war vor ein paar Monaten noch mit ihm zusammen gewesen. Croz war kein Mistkerl. Er war einer, der die Dinge beim Namen nannte. Und außerdem hatte er das beste Dope von ganz L.A. – vielleicht sogar das beste Dope der Welt.

Der Mann neben ihm war Stephen Stills, ein fantastischer Gitarrist, der gerade bei Buffalo Springfield, einer der besten Bands in L.A., ausgestiegen war. Wir hatten uns bei meinem letzten Besuch in den Staaten kennengelernt. Er war eine Art Untergrundlegende; ein Typ, der mit Clapton und Hendrix spielte und mit den beiden auch mithalten konnte, völlig einzigartig, und er hatte eine Menge unglaublicher Songs in petto. Zusammen waren Stills und Crosby eine starkes Team. Sie waren wirklich talentiert, und so, wie sie miteinander redeten, merkte ich gleich, dass sie etwas ausheckten.

Die beiden zu sehen, entspannte mich. Außerdem mochte Joni sie wirklich gerne. Stephen hatte bei den Aufnahmen zu ihrem ersten Album mitgespielt; David hatte es produziert. Sie waren alle gute Freunde, fühlten sich miteinander wohl und wollten mich in ihren Kreis aufnehmen. Crosby hatte gekifft und war ziemlich high, also musste ich erst mal aufholen. Sie hatten wohl auch ein bisschen Musik gemacht, jedenfalls lagen Gitarren herum, aber das war eigentlich immer so. In Laurel Canyon brachten die Leute ihre Gitarren nicht nur zum Abendessen mit, sie hatten ihre Gitarren immer dabei, es war ein Teil ihrer Identität. Und irgendwann sagte immer jemand: „Hört euch diesen Song mal an, an dem ich gerade arbeite.“ Man hätte seine Uhr danach stellen können. Der Spruch blieb wirklich nie aus.

Ich war noch nicht mal eine halbe Stunde da, als David Stephen einen Klaps auf den Arm gab und sagte: „Hey, spiel Willy doch mal unseren Song von eben vor.“ Stephen, der in einen Sessel versunken war – neben ihm stand ein riesiges Schwein, das früher mal auf einem Karussell seine Runden gedreht hatte –, richtete sich auf und nahm seine Gitarre. Er spielte ein paar Takte, ein schönes Intro, und David schloss sich ihm beim Singen an: „In the morning, when you rise / do you think of me and how you left me crying …“ Ihre Harmonien waren tadellos. Sie sangen zweistimmig – Stephen übernahm die Melodie, und Davids Part lag darunter. Sie hätten den Everly Brothers Konkurrenz machen können. „Are you thinking of telephones / and managers and where you got to be at noon?“ Ich war völlig von den Socken. Der Song „You Don’t Have to Cry“ war ein Knaller, und ihre Stimmen gaben mir den Rest. Wenn du so et-was hörst, weißt du gleich, dass es etwas Besonderes ist. Der Text und die Melodie passten perfekt zueinander.

Sie kamen zum Ende, und ich sagte: „Leute, das ist ein fantastischer Song! Stephen, da hast du dir echt was Schönes ausgedacht.“ Ich schaute Joan an, die am Klavier saß und mir zulächelte. „Könnt ihr mir das noch mal vorspielen?“, fragte ich. Die beiden wechselten einen Blick, zuckten mit den Schultern und sagten: „Okay.“

Dieses Mal konzentrierte ich mich auf den Text und die Art, wie ihre Stimmen ineinandergriffen und sich unterstützten. Wenn man sie einzeln hörte, hätte man denken können, dass sie nicht zusammenpassen. Davids Tenor war auf Hochglanz poliert, während Stephens Stimme rauchiger war und weniger kontrolliert; eher vom Südstaatenblues beeinflusst. Aber sie wetteiferten nicht, sondern ergänzten einander. Und sie hatten ein natürliches Vibrato, das einfach bewegend war. Diese Jungs konnten singen. Aber das konnte ich auch. „Okay“, sagte ich, als sie fertig waren. „Nichts für ungut, aber singt es noch einmal.“

Dreimal derselbe Song. Die beiden müssen gedacht haben, ich sei total zugekifft. Aber ich war Engländer und zu Gast, also taten sie mir den Gefallen. Ich lerne schnell, deswegen konnte ich den Text schon auswendig und hatte die Harmonien begriffen. Ich hatte zugehört und gedacht: Ich weiß, was zu tun ist, ich weiß, wohin es geht, ich hab’s – ich hab’s. Als Stephen wieder anfing zu spielen, schlenderte ich zu den beiden rüber, stellte mich an ihre Seite, und als sie mit ihrem Gesang einsetzten – war ich dabei. Ich hatte alles im Griff, meine Atmung, die Phrasierung, die Intonation. Ich setzte meinen Part über Stephens, und so segelten wir davon. „You are livvvv-ing a reality / I left years ago and it quite nearly killed me. In the lonnnng run… “ Was für ein Klang! Wir waren ganz davon umgeben, wie eingeschlossen von der makellosen Dreistimmigkeit. Es klang so sanft und schön, so unglaublich, dass wir nach einer Minute alle in Gelächter ausbrachen. Und dann erst recht, als wir den Refrain sangen. Es war der reine Wahnsinn.

„Wow! Was, zur Hölle, war das denn?“

Wir waren alle drei Harmonie-Freaks und kamen aus Bands, die alle die Zweistimmigkeit bis zur Kunst verfeinert hatten: die Hollies, Buffalo Springfield und die Byrds. Aber der Klang, den wir

eben erzeugt hatten, war anders, so frisch. Noch nie zuvor hatten wir so etwas gehört. Wie die Everly Brothers, nur noch besser – und doch war das Prinzip so simpel: eine akustische Gitarre und drei Männer. David und Stephen waren fassungslos. Keine Ahnung, ob sie sich den Song je dreistimmig vorgestellt hatten, aber ich hatte es gleich gehört.

Crosby strahlte über das ganze Gesicht. „Das ist das Beste, was ich je gehört habe!“, sagte er.

Ich fragte Joni: „Klang das für dich auch so unglaublich?“

„Ja, ziemlich unglaublich.“

Etwas Magisches war passiert, das wussten wir alle. Wenn du mit zwei oder drei Leuten zusammen singst und alles richtig machst – wenn das Ganze größer wird als die Summe der einzelnen Teile –, hebst du irgendwie vom Boden ab. Wir drei schwebten. Die Stimmung war so gut, wir wollten gar nicht mehr runterkommen. Wir spürten das intensive Glück, etwas Neues gefunden zu haben, einen eigenen Klang, der anders war als alles andere da draußen. Er war da, und er war vollkommen, von dem Moment an, als wir uns zusammengetan hatten. Wir alle fühlten es, wussten es, und es war genau das, was wir uns wünschten. Aber wir zögerten, darüber zu sprechen, wie wir weitermachen könnten. Es war, als hätten wir Angst, darüber zu reden; ein Geheimnis zu enthüllen, das dann am nächsten Tag verschwunden wäre.

Außerdem versperrten so viele Hindernisse unseren Weg. Mit diesen Jungs zu singen würde bedeuten, mich von den Hollies zu trennen – keine ganz einfache Angelegenheit. Sie waren meine Kumpels, ich liebte die Jungs. Allan Clarke und ich hingen wie Zwillinge aneinander, seit wir sechs Jahre alt waren, und ich war ein wichtiger Bestandteil der Band. Ich würde aus meinem Plattenvertrag rauskommen und meine Veröffentlichungsrechte zurückfordern müssen. Das waren üble Sachen, aber machbar.

„Wir müssen dafür sorgen, dass daraus etwas wird“, sagte Stephen. Ich nickte. „Wir haben verdammt noch mal keine andere Wahl.“ Es gab keinen Zweifel. Von dem Moment an, als ich diesen Klang gehört hatte, wusste ich, dass mein Leben einen neuen Kurs aufnahm. Es gab keine Alternative. Ich hatte keine Wahl.

Irgendwann verabschiedeten sich die Jungs, und um ehrlich zu sein, war ich froh darüber. Ich hatte nur drei Tage Zeit, um Joan besser kennenzulernen, und es gibt ja doch so ein paar Dinge, die noch besser sind als Musik. Ich sah die beiden auch am restlichen Wochenende nicht; ich war die ganze Zeit nur mit Joan zusammen. Aber ich bekam diesen Klang nicht aus meinem Kopf. Ihre Stimmen verfolgten mich, wie sie so natürlich miteinander verschmolzen waren. Ach, diese Jungs. Und ihre Songs.

Auf dem Weg zurück nach London war ich noch unruhiger als auf der Hinreise. Aber ich war nicht mehr verwirrt: Ich wusste, was mein Herz mir sagte. Ich hatte mich tief und innig in Joni Mitchell verliebt. Und diese beiden Typen, Stills und Crosby, gingen mir ebenfalls nicht aus dem Kopf. Vielleicht hatte ich mich auch in sie verliebt.

Meine Welt drehte sich schnell, alles drohte aufeinanderzuprallen, aber ich wusste, was ich tun musste. Ich verspürte überhaupt keine Zweifel. Und als das Flugzeug landete, hatte ich einen Plan. Ich kam nach Hause, um die ersten 26 Jahre meines Lebens zu entwirren, um die losen Enden aufzunehmen und sie für die nächsten Jahrzehnte neu zu verknüpfen. Ich hatte die Zukunft rufen gehört, sie lag in der Kraft dieser Stimmen. Und ich wusste, dass mein Leben nie wieder dasselbe sein würde.

Wild Tales

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