Читать книгу Aurelia - Gérard de Nerval - Страница 10
IV
ОглавлениеEines Abends fühlte ich mich mit voller Gewißheit an die Ufer des Rheins versetzt. Mir gegenüber ragten düstere Felsen, die sich im Schattenhintergrund verloren. Ich betrat ein freundliches Haus, dessen weinumrankte grüne Fensterläden einen heiteren Strahl der Abendsonne hereinließen. Ich hatte den Eindruck, in eine vertraute Wohnung zu kommen, und zwar die eines Onkels mütterlicherseits, eines seit über hundert Jahren toten flämischen Malers. Angefangene Gemälde hingen überall herum. Eines von ihnen zeigte die berühmte Zauberfee2 dieser Gestade. Eine alte Dienerin, die ich Margarete nannte und die mir wie von Kindesbeinen auf bekannt erschien, sagte zu mir: »Wollen Sie sich nicht zu Bett legen? Denn Sie kommen von fernher, und Ihr Onkel wird spät heimkehren. Zum Abendessen werden Sie geweckt.« Ich streckte mich auf einem Himmelbett aus, das mit einem rotgeblümten Stoff bespannt war. Mir gegenüber hing eine Bauernuhr an der Wand, und auf ihr hockte ein Vogel, der wie eine menschliche Person zu sprechen begann. Dabei kam ich auf den Einfall, daß die Seele meines Ahnen in diesem Vogel hause, war aber über ihre Sprache und Gestalt ebensowenig erstaunt wie über die Rückversetzung um ein Jahrhundert. Der Vogel sprach von lebendigen oder toten Familienmitgliedern verschiedener Zeiten, als ob sie alle gleichzeitig existierten, und sagte zu mir: »Wie Sie sehen, war Ihr Onkel darauf bedacht, das Bild von ihr im voraus zu malen … Jetzt ist sie bei uns.« Ich erhob die Augen zu einer Leinwand, die eine Frau in altdeutscher Tracht darstellte, die sich am Flußufer niederbeugte und auf ein Büschel Vergißmeinnicht blickte. – Das Dunkel der Nacht nahm inzwischen allmählich zu, und die Eindrücke, Klänge und das Ortsgefühl verwirrten sich in meinem schlaftrunkenen Geist. Ich glaubte in einem Abgrund zu versinken, der durch den Erdball ging. Ich fühlte mich schmerzlos von einer Strömung flüssigen Metalls davongetragen, und tausend ähnliche Flüsse, deren Färbung auf chemische Unterschiede hinwies, durchzogen das Erdinnere wie Adern und Gefäße, welche die Gehirnlappen windungsreich durchlaufen. Alle flossen, kreisten und zuckten so und erweckten in mir das Gefühl, daß diese Rinnsale aus lebenden Seelen in molekularem Zustand bestünden, an deren Unterscheidung mich nur die Schnelligkeit der Fahrt hinderte. Blasse Helle drang allmählich in diese Leitungen, und schließlich sah ich wie eine weite Kuppel einen neuen Horizont sich ausbreiten, an dem sich von leuchtenden Fluten umschlossene Inseln abzeichneten. Ich befand mich an einer von diesem sonnenlosen Licht erhellten Küste und erblickte einen Greis, der den Boden bestellte. Ich erkannte ihn als den gleichen, der mit der Stimme des Vogels zu mir gesprochen hatte; und sei es, daß er mit mir sprach, sei es, daß ich ihn in mir selbst verstand, mir wurde klar, daß die Ahnen die Gestalt gewisser Tiere annehmen, um uns auf Erden zu besuchen, und daß sie so als stumme Zeugen auf den Stufen unseres Daseins zugegen waren. Der Greis ließ seine Arbeit ruhn und begleitete mich zu einem Hause, das in der Nähe stand. Die Landschaft, die uns umgab, erinnerte mich an eine Gegend in französisch Flandern, in der meine Vorfahren gelebt hatten und wo sich ihre Gräber befinden: das von Büschen am Waldsaum umstandene Feld, der nahe See, der Bach und der Waschplatz, das Dorf und seine ansteigende Straße, die Hügel aus düsterem Sandstein mit ihren Ginster- und Heidebüschen – ein verjüngtes Bild einst geliebter Orte. Das Haus, in das ich trat, war mir jedoch keineswegs bekannt. Ich begriff, daß es zu irgendeiner Zeit einmal bestanden hatte und daß in der Welt, die ich nun besuchte, der Schatten der Dinge den des Körpers begleitete.
Ich gelangte in ein großes Zimmer, in welchem viele Leute weilten. Überall fand ich bekannte Gesichter wieder. Die Züge verstorbener Verwandter, die ich beweint hatte, zeigten sich wieder bei anderen, die in Gewänder früherer Zeiten gehüllt, mich ebenso verwandtschaftlich begrüßten. Sie schienen zu einem Familienfestmahl zusammengekommen zu sein. Einer dieser Verwandten trat auf mich zu und umarmte mich zärtlich. Er trug eine alte Tracht in verschossenen Farben, und sein lächelndes Gesicht unter gepudertem Haar glich irgendwie dem meinen. Er kam mir lebendiger vor als die anderen und stand sozusagen in einer engeren Beziehung zu meinem Geiste. – Es war mein Onkel. Er ließ mir einen Platz neben sich geben, und zwischen uns vollzog sich eine Art Mitteilung, denn ich kann nicht behaupten, daß ich seine Stimme vernommen hätte. Nur wurde mir, in dem Maße wie mein Denken sich auf einen bestimmten Punkt wandte, dessen Erklärung sofort einleuchtend, und vor meinen Augen wurden alle Umrisse klar wie bei lebenden Bildern.
»So stimmt es denn«, bemerkte ich entzückt, »wir sind unsterblich und bewahren hier die Bilder der Welt, die wir bewohnt haben. Welch ein Glück, zu denken, daß alles, was wir hier geliebt haben, immer um uns sein wird! … Ich war das Leben recht leid.«
»Übereile dich nicht mit deiner Freude«, sagte er, »denn du gehörst noch zur oberen Welt und hast noch schwere Jahre der Prüfung vor dir. Die Stätte, die dich begeistert, hat auch ihrerseits Leiden, Kämpfe und Gefahren. Die Erde, auf der wir gelebt haben, ist immer noch der Schauplatz, auf dem sich unsere Geschicke verwirren und lösen. Wir sind die Strahlen des Zentralfeuers, das sie belebt und das schon schwächer geworden, ist …« »Wie«, sagte ich, »die Erde könnte vergehen, und wir würden dann vom Nichts verschlungen?«
»Das Nichts«, erklärte er, »besteht nicht so wie man meint; aber die Erde ist selber ein stofflicher Körper, dessen Seele die Summe der Geister ist. Der Stoff kann ebensowenig untergehen wie der Geist, aber er kann sich unter dem Einfluß von Gut und Böse wandeln. Unsere Vergangenheit und Zukunft hängen voneinander ab. Wir leben in unserer Art und unsere Art lebt in uns.« Dieser Gedanke wurde mir sofort sinnlich faßbar, und als hätten die Zimmerwände sich auf unendliche Perspektiven hin geöffnet, vermeinte ich eine ununterbrochene Kette von Männern und Frauen zu gewahren, in denen ich war und die ich waren. Die Trachten aller Völker, Bilder aller Gegenden erschienen deutlich auf einmal, als ob meine Wahrnehmungsfähigkeiten sich ohne Verwirrung vervielfacht hätten durch ein Raumphänomen, das jenem der Zeit entspricht, bei dem das Geschehen eines Jahrhunderts sich in einer Minute des Traumes zusammenzieht. Mein Erstaunen wuchs, als ich bemerkte, daß diese ungeheure Ansammlung nur aus den Personen entstand, die sich im Zimmer befanden und deren Bilder sich in tausend flüchtige Erscheinungsformen geteilt und neu verbunden hatten.
»Wir sind zu siebt«, sagte ich zu meinem Onkel.
Er erwiderte: »Das ist in der Tat die für jede menschliche Familie typische Zahl und in der Erweiterung sieben mal sieben und mehr.«*
Ich kann nicht hoffen, diese Antwort verständlich zu machen, die mir selber sehr dunkel geblieben ist. Die Metaphysik bietet mir keine Ausdrucksmittel für die Wahrnehmung der Beziehung zwischen dieser Personenzahl und der allgemeinen Harmonie, die sich mir dann aufdrängte. In Vater und Mutter erfaßt man leicht die Analogie zu den elektrischen Kräften der Natur, wie aber soll man die aus ihnen hervorgegangenen individuellen Zentren nachweisen, aus denen sie hervorgehen wie eine kollektive seelenhafte Gestalt, deren Gefüge zugleich vielfältig und beschränkt sein würde. Genausogut könnte man die Blume nach der Zahl ihrer Staubfäden oder der Aufteilung ihrer Blütenkrone fragen, den Boden nach den Gestaltungen, die er bildet, die Sonne nach den Farben, die sie erweckt.
* Sieben war die Zahl der Familie Noahs; aber einer der sieben verband sich geheimnisvoll mir den vor den Elohim bestehenden Generationen! …
… Blitzartig offenbarte mir meine Einbildungskraft die mehrfachen Götter Indiens als Bilder der sozusagen ursprünglich zusammengefaßten Familie. Ich schauderte weiterzugehen, denn in der Trinität ruht noch ein schreckliches Geheimnis … Wir sind unter dem biblischen Gesetz geboren …