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III

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Hier hat für mich das begonnen, was ich das Hineinwachsen des Traumes in das wirkliche Leben nennen möchte. Von diesem Augenblick an gewann alles manchmal zwei Seiten, wobei jedoch die Urteilskraft niemals der Logik entbehrte und dem Gedächtnis auch nicht die kleinsten Einzelheiten dessen entfielen, was mir begegnete. Allerdings hing mein anscheinend sinnloses Verhalten von dem ab, was man nach menschlicher Vernunft Illusion nennt …

Sehr oft bin ich zu der Überzeugung gekommen, daß in gewissen schwierigen Augenblicken des Lebens ein bestimmtes Geisterwesen der äußeren Welt sich plötzlich in der Gestalt einer gewöhnlichen Person verkörperte und auf uns einwirkte oder einzuwirken versuchte, ohne daß jener Person das zu Bewußtsein kam oder in ihr Gedächtnis einging.

Mein Freund hatte mich verlassen, da er das Unnütze seiner Bemühungen einsah und mich wohl von einer fixen Idee besessen glaubte, die sich beim Weitergehen verflüchtigen würde. Als ich mich allein fand, stand ich mit Mühe auf und wanderte in der Richtung auf den Stern weiter, den ich nicht aus den Augen ließ. Unterwegs sang ich eine geheimnisvolle Hymne, derer ich mich zu erinnern glaubte, als wenn ich sie in einem anderen Leben gehört hätte, und die mich mit unaussprechlicher Freude erfüllte. Dabei legte ich meine irdischen Kleider ab und verstreute sie um mich. Die Straße schien weiter anzusteigen und der Stern größer zu werden. Dann verharrte ich mit ausgebreiteten Armen und wartete auf den Augenblick, da die Seele magnetisch in den Umkreis des Sterns gezogen, sich vom Körper lösen würde. Dabei fühlte ich einen Schauder; Bedauern überkam mich wegen der Erde und derer, die ich auf ihr liebte, und in mir selbst beschwor ich den Geist, der mich an sich zog, so heftig, daß ich meinte, wieder zu den Menschen herabzusteigen. Eine nächtliche Streife umringte mich. Dabei hatte ich die Vorstellung, sehr groß geworden zu sein und daß ich, von elektrischen Kräften ganz überronnen, alles umwerfen würde, was sich mir entgegenstellte. Es lag einige Komik in der Rücksicht, mit der ich die Kräfte und das Leben der Soldaten schonen wollte, die mich aufgegriffen hatten.

Wenn ich nicht der Ansicht wäre, daß die Aufgabe eines Schriftstellers darin besteht, rückhaltlos zu analysieren, was er in schwierigen Lebenslagen empfindet, und wenn ich keine Absicht verfolgte, die ich für nützlich erachte, würde ich hier einhalten und nicht versuchen zu schildern, was ich danach in einer Reihe von vielleicht sinnlosen oder gemeinhin krankhaften Visionen erfuhr … Auf ein Feldbett hingestreckt, glaubte ich zu sehen, wie der Himmel sich in tausend Bildern unerhörter Pracht auftat und offenbarte. Das Geschick der befreiten Seele schien sich mir zu enthüllen, wie um mich bereuen zu lassen, daß ich mit aller Kraft meines Geistes wieder auf der Erde hatte Fuß fassen wollen, die ich verlassen sollte. Gewaltige Kreise zeichneten sich im Unendlichen ab wie die Wellenringe, die ein ins Wasser geworfener Gegenstand auslöst. Jeder Bezirk war von strahlenden Gestalten erfüllt, gewann immer wieder Farbe, Bewegung und Form, und eine immer gleiche Gottheit warf lächelnd die flüchtigen Masken ihrer wechselnden Verkörperungen ab und floh schließlich ungreifbar in den mystischen Himmelsglanz Asiens. Auf Grund eines der Phänomene, die jedermann in gewissen Träumen erfahren konnte, ließ mich diese himmlische Vision nicht gleichgültig für das, was um mich herum vorging. Auf einem Feldbett liegend hörte ich, wie die Soldaten sich über einen Unbekannten unterhielten, der wie ich festgenommen worden und dessen Stimme im gleichen Raum erklungen war. Durch eine sonderbare Vibrationswirkung hatte ich den Eindruck, daß diese Stimme in meiner Brust wiederklang und daß meine Seele sich sozusagen verdoppelte, zwischen Vision und Wirklichkeit deutlich getrennt. Einen Augenblick lang faßte ich den Plan, mich mühsam nach dem umzudrehen, von dem die Rede war. Dann schauderte ich bei der Erinnerung an eine in Deutschland geläufige Vorstellung, nach welcher jeder Mensch einen Doppelgänger hat und daß sein Tod bevorsteht, wenn er ihn sieht. Ich schloß die Augen und geriet in einen Zustand geistiger Verwirrung, in dem die phantastischen oder wirklichen Gestalten, die mich umgaben, in tausend flüchtige Scheinformen zerstoben. Einen Augenblick sah ich in meiner Nähe zwei meiner Freunde, die nach mir fragten. Die Soldaten wiesen auf mich. Dann öffnete sich die Tür, und jemand von meiner Größe, dessen Gesicht ich nicht sah, ging mit meinen Freunden fort, die ich vergeblich zurückrief. »Aber, das ist ein Irrtum!« schrie ich, »sie sind gekommen, um mich abzuholen, und ein anderer geht weg!« Ich schlug solchen Lärm, daß man mich in eine Zelle sperrte.

Dort blieb ich ein paar Stunden in einer Art stumpfsinniger Betäubung. Schließlich kamen die beiden Freunde, die ich bereits zu sehen geglaubt hatte, und holten mich im Wagen ab. Ich erzählte ihnen alles, was sich zugetragen hatte; sie bestritten aber, während der Nacht dagewesen zu sein. Ich aß mit ihnen ziemlich ruhig zu Abend; aber in dem Maße, wie die Nacht hereinbrach, gewann ich den Eindruck, daß ich die gleiche Stunde zu fürchten hatte, die mir in der vergangenen Nacht beinah verhängnisvoll geworden wäre. Ich bat einen der beiden um einen orientalischen Ring, den er am Finger trug und den ich für einen alten Talisman hielt. Dann nahm ich ein Halstuch und legte es um, wobei ich darauf achtete, das Schmuckstück mit seinem Türkis auf einen Punkt am Nacken zu drehen, an dem ich einen Schmerz fühlte. Meiner Ansicht nach war diese Stelle diejenige, an welcher die Seele in dem Augenblick entschwinden könnte, in dem ein gewisser Strahl des Sterns, den ich gestern gesehen hatte, in bezug auf mich im Zenit stünde. War es nun Zufall oder die Auswirkung meiner großen Unruhe, wie vom Blitz getroffen brach ich zur gleichen Stunde wie am Tage zuvor zusammen. Man legte mich auf ein Bett, und längere Zeit verlor ich Sinn und Zusammenhang der sich mir aufdrängenden Bilder. Dieser Zustand währte einige Tage. Ich wurde in eine Heilanstalt verbracht1. Viele Verwandte und Freunde besuchten mich, ohne daß es mir bewußt wurde. Für mich bestand der einzige Unterschied von Wachen und Schlaf darin, daß im ersteren Fall sich alles vor meinen Augen verwandelte. Jede Person, die sich mir näherte, schien verändert; die stofflichen Gegenstände umgab eine Art Halbdunkel, das ihre Formen umgestaltete, und die Lichteffekte, die Farbzusammenstellungen zerfielen auf eine Weise, die mich in einen beständigen Ablauf von Eindrücken versetzte, die sich miteinander verbanden und deren Wahrscheinlichkeit der von äußeren Elementen unabhängigere Traum weiterführte.

Aurelia

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