Читать книгу Tödliche Tour - Greg Moody - Страница 7

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Willkommen in Sinnlos

Du bist zu spät. Vierundzwanzig Stunden zu spät.« Will Ross schaute von seinem Gepäck auf, das sich nun wie ein endloses Meer untereinander unverwandter Taschen um ihn herum ausbreitete. Hatte er das alles tatsächlich in den vergangenen eineinhalb Tagen kreuz und quer durch Frankreich geschleppt? Sein Rücken tat weh, seine Schultern waren wund gerieben, seine Stimmung war finster.

»Ja, ich bin zu spät. Ich habe einen Tag lang ganz Paris nach dir abgeklappert und nach einer Transportmöglichkeit gesucht.«

»Wir waren hier und haben auf dein Erscheinen gewartet, o großer Champion. Und jetzt bist du gekommen und siehst so aus, als wärst du bereit Rad zu fahren.«

»Du hast meinem Agenten die falsche Adresse gegeben, Carl. Und du hast ihm gesagt, dass mich jemand abholen würde.«

»Er hat sie sich nur falsch aufgeschrieben, Champ.«

»Leonard kennt Paris überhaupt nicht. Er kennt Senlis nicht. Er hätte nachgefragt, schon allein weil seine Provision davon abhängt. Irgendjemand – und ich gehe davon aus, dass du mit ihm gesprochen hast – hat ihm falsche Informationen gegeben. Und übrigens, hör bitte auf, mich ›Champ‹ zu nennen.«

»Mach dir deshalb keine Sorgen – es ist unwahrscheinlich, dass du hier jemals wieder so genannt wirst, oder? Pass auf, für die nächsten vier Stunden ist ein Mannschaftstraining angesagt, der Start ist jetzt. Du hast 15 Minuten, um dich fertig zu machen. Hinten steht ein Rad für dich bereit mit einem Mannschaftstrikot. Zieh dich um und mach dich auf den Weg. Du bist jetzt in einer Profi-Mannschaft, Ross, und dazu in einer, die bis letzte Woche ernsthaft vorhatte, die Tour de France zu gewinnen. Das Projekt hatte mir gefallen und ich möchte auch mit Müll wie dir in der Mannschaft daran festhalten. Kapiert?«

Ross schaute tief in Deeds’ harte, rotgeränderte Augen.

»Kapiert, buana Carl.«

»Fick dich ins Knie, Ross. Wir haben keine Kleiderhaken mehr übrig. Stapel dein Zeug hier drüben – du lebst dieses Jahr aus deiner Sporttasche. Willkommen an Bord. Los geht’s.«

Carl Deeds, Sportlicher Leiter und Team-Manager bei Haven-Pharma, drehte sich auf dem Absatz um und stampfte davon. An der Ecke vor dem Ausgang aus der Umkleidekabine schlug er seine Faust in einen Spiegel, der sofort zerbarst. Seine Hand war blutig. Pech. Hat der eine Wut im Bauch, dachte Ross.

Trotzdem konnte Will Deeds nicht wirklich böse sein. Schließlich hatte Deeds Jahr um Jahr mit mittelmäßigen Teams und mittelmäßigen Fahrern verbracht und jetzt, kurz vor seinem Durchbruch, dem Gewinn der Tour de France durch Jean-Pierre Colgan, waren alle seine Träume zerplatzt. Richard Bourgoin, sein neuer Mannschaftskapitän, war sicherlich ein Talent, aber der Champion, der Mann, der all seine Träume hätte verwirklichen können, war ersetzt worden; nicht durch einen anderen Champion sondern durch einen alternden mittelmäßigen Fahrer, der nicht einmal in der Blüte seines Könnens das Zeug zu einem Champion gehabt hatte.

Warum zum Teufel war er hier?

Es war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich mit dieser Frage aufzuhalten. Darüber konnte er noch auf dem Fahrrad nachdenken. Er warf seine Klamotten neben einen zusammengerollten, schimmeligen alten Teppich, zog sich rasch um und streifte seine Socken über. Rotgestreift. Die Socken waren ein hässliches Markenzeichen, aber sie stets zu tragen war seine Art des Aberglaubens, den alle Fahrer in irgendeiner Form pflegten. Er hatte sie schon immer getragen. Um das Glück zu erzwingen, das sich in Europa nie eingestellt hatte. Er blickte auf sein Leben, das auf einem Haufen in der Ecke lag.

»Vielleicht wird es Zeit, sich neue Socken zu suchen.«

Zehn Minuten später trat Will aus der Hintertür der Umkleidekabine auf den großen Hof vor dem verfallenen Velodrom außerhalb von Senlis, einer kleinen Stadt 50 Kilometer nördlich von Paris. Er war allein. Der kalte Wind schlug ihm gegen die nur mit einem T-Shirt bedeckte Brust und er zog sich rasch das Wintertrikot über. Haven: schwarz, rot und gelb. Wenigstens passte es zu seinen Socken. Er streifte sich eine Windjacke über und schlüpfte in seine Handschuhe. Das wird nicht reichen, dachte er. Er war in die Hölle zurückgekehrt. Deeds war einer jener Sportlichen Leiter, die die Ansicht vertraten, Kälte mache hart. Will war einer jener Fahrer, die die Meinung vertraten, Wärme mache froh. An einem Tag wie diesem sollte er bei Hilda sitzen, um die Ecke von seiner Wohnung in Avelgem, und lauthals irgendein Sportereignis kommentieren, das zufällig gerade über den kleinen schwarz-weißen Bildschirm in der Ecke flimmerte.

Er schwang sein Bein über das Rad und merkte sofort, dass es ihm nicht passte. Ein unpassendes Rad würde in vier Stunden seine Weichteile zu Brei zerreiben. Es fehlte nicht viel, aber er musste unbedingt den Sattel verstellen, wenn er in den nächsten Tagen noch vorhatte, Fahrrad zu fahren.

Er rollte aus dem Hofgelände heraus auf die Gasse, die zur Landstraße führte. Vielleicht konnte er dort einen Inbus-Schlüssel bekommen, die Mannschaft würde unten an der Straße auf ihn warten. Seine 15 Minuten waren fast vorbei.

Er bog aus der Gasse auf die Straße, die am Velodrom entlangführte. Die Straße war leer.

Eine schlanke Brünette in einer leichten Patagonia-Daunenjacke stand an einem Laternenpfahl und schaute auf, als er auf sie zurollte und vor ihr anhielt.

»Ich hatte dich schon fast aufgegeben.«

»Hey, ich bin auf die Minute pünktlich.«

»Nun, ich enttäusche dich ungern, aber die Mannschaft ist vor einer Viertelstunde hier losgefahren. Deeds hat gesagt, du kannst sie einholen.«

»Ja, klar. Sag mir nur, wo hier der Bus abfährt, uh... Frau... ?« »Crane. Cheryl Crane. Ich bin die Masseurin der Mannschaft. Und...«

»Ein weiblicher Masseur – das ist etwas ... «

»Ungewöhnlich, ich weiß. Und ich würde es vorziehen, keine ... «

»... der üblichen Witze zu hören ... «

»Genau. Solltest du dich nicht auf den Weg machen? Du bist schon ... 17 Minuten hinterher.«

»Das bin ich gewohnt. Vor allem, wenn ich Anweisungen habe, 15 Minuten hinter den anderen zu starten. Ich brauch’ ’nen Inbus.« »Seh’ ich aus wie ein Werkzeugladen?«

»Nein. Eher wie ein Heimwerkermarkt.«

»Charmant. Und: nein, ich habe keinen Inbus. Die Mechaniker fahren hinter der Mannschaft her. Wenn du jetzt losfährst, holst du sie noch ein – kurz bevor sie wieder hier sind.«

»Dein Glaube an mich... Cheryl? ... wärmt mir das Herz. Aber ernsthaft. Wo ist hier die Werkstatt oder der Verhau, wo die Mechaniker ihre Werkzeuge aufbewahren?«

»Gleich hier drinnen – was brauchst du?«

»Ich muss meine Sitzposition einstellen ... «

»Okay.« Sie drehte sich um und ging in das Gebäude. Will rief ihr hinterher.

»Einen Inbus für die Sattelstütze – oder einen ganzen Satz, wenn es einen gibt ...«

Cheryl steckte ihren Kopf aus der Tür. Wut leuchtete aus ihrem Gesicht.

»Hör zu, du Krücke. Du hast hier nicht viele Freunde, also verscheiß’ es dir nicht gleich von Anfang an mit mir. Ich weiß, was du brauchst. Ich hab’ mein ganzes Leben mit Fahrrädern zu tun gehabt und bin bis letztes Jahr selbst Rennen gefahren. Ich kenne die Routine und ich kenne die Maschine. Ich weiß, welchen Schlüssel du brauchst – diesen hier zum Beispiel.«

Der schmale Metallstab glänzte in ihrer Hand. Will hob die Arme, um sein Gesicht zu schützen. Der Schlüssel traf ihn an der Schulter. Er hob ihn vom Rand des Gulliss auf, lockerte die Schraube, passte seine Sattelhöhe an und zog die Schraube wieder fest. Es fühlte sich fast richtig an. Nicht perfekt, aber gut genug, um ein neues Paar Hosen nicht durchzuscheuern und eine ganz neue Kultur von Entzündungen am Hintern zu züchten.

Er stieg vom Rad ab, überprüfte, ob der Sattel gerade stand, zog ihn noch einmal fest und warf Cheryl den Schlüssel wieder zu. Sie fing ihn mit einer Hand, ohne sich vom Fleck zu bewegen. Eindrucksvoll, dachte Will.

»Hast du noch einen Ersatzschlauch und ’ne Rahmenpumpe da drin?«, fragte Will. »Den Anschluss an die Materialwagen habe ich mittlerweile wohl verloren.«

»Seit genau 22 Minuten. Es wird spannend, zu sehen wann du ankommst. Sekunde, lass mich schauen, was hier so rumliegt.«

Sie verschwand wieder in dem Verhau und tauchte nur Momente später mit einem Schlauch, einer Pumpe, Klebeband und einem Stück Papier wieder auf.

Will klebte die Pumpe an sein Oberrohr, schlang sich den Schlauch über Kreuz um die Schultern und nahm das Blatt, das Cheryl ihm hinhielt. Es war ein Streckenplan. Ein langer Streckenplan. Ein verdammt langer Streckenplan.

»Pass auf«, sagte Cheryl, mit sanfter Stimme, »was Deeds heute mit dir gemacht hat, war fies. Auf der Karte steht eine Telefonnummer. Ich bin die meiste Zeit zu erreichen. Ruf mich an, wenn du Schwierigkeiten hast, ich schicke dir jemanden. Entweder komme ich selbst oder Tomas kommt raus.«

»Tomas – welcher Tomas?«

»Delgado. Er hat’s mir schon erzählt. Alte Kameraden, stimmt’s?«

Das war wenigstens etwas. Jetzt hatte er zumindest einen in der Mannschaft, mit dem er reden konnte. Während seiner gesamten Karriere war, wenn nicht er Delgado, Delgado ihm zu jedem Team im Profi-Zirkus gefolgt. Bei mindestens vier Mannschaften waren sie zusammen gewesen. Es hatte sich einfach so ergeben, das Geschäft hatte ihre Geschicke gelenkt, aber es hatte beiden das Leben erleichtert. Sie hatten eine Bindung aneinander aufgebaut, der weder Zeit und Entfernung noch das Ende einer mediokren Laufbahn etwas hatten anhaben können.

Hoffte Will jedenfalls.

»Wir sehen uns ... «

Sie lächelte. »Wenn du zurückkommst, wirst du kaum die Kraft haben, noch irgendwas zu sehen.«

Sie hatte Recht.

Will schwang sein Bein über das weiße Colnago und stieß sich vom Randstein ab. Er kannte einen Großteil der 175-Kilometer-Runde aus seiner Amateurzeit vor ... wie viel waren es, 12 Jahren? Er stopfte die Karte in eine Tasche seiner Jacke und fiel in einen schweren langsamen Tritt, um auf Fahrtgeschwindigkeit zu kommen. Ohne Gruppe und ohne Hinterrad, das ihn vor dem Wind schützen könnte, würde es ein langer Tag werden.

Er schaute über die Schulter und beobachtete Cheryl, wie sie in der Entfernung verschwand. Ein weiblicher Physiotherapeut mit einem frechen Mundwerk. Das würde zumindest das Leben interessant machen. Außerdem war sie hübsch anzuschauen. Dann dachte er an Deeds, die Mechaniker und die Mannschaft, die 20 bis 30 Minuten vor ihm mit knapp 40 Sachen über die Landstraße fegten.

Er trat ein weniger kräftiger in die Pedale.

Cheryl sah Will hinter der ersten Biegung verschwinden.

»Was für eine Posse ... was zum Teufel haben sie sich dabei nur gedacht?«


Zu jedem Sport gehört eine Liebe, die an Besessenheit grenzt. Hingabe bis zum Fanatismus. Eine Konzentration, die alle Sinne in Anspruch nimmt. Ein Feuer, das tief und heiß und lange brennt. Du weißt um dein Talent, um deine Fähigkeiten, um den Preis, der 200 Meter weiter hinter der Linie auf dich wartet und du überwindest den Schmerz, die Hitze, den Mangel an Leidenschaft, die Langeweile und die Sinnlosigkeit und du überwindest Zeit und Raum und setzt dich vor die Meute – genau zu dem Zeitpunkt, zu dem du vor der Meute sein musst.

Faszinierend, diese Männer, die in ihre Maschinen verliebt sind und für sie so viel Schmerz erdulden. Männer, die Fahrräder lieben.


»Inspektor«.

Inspektor Luc Godot von der Pariser Polizei zog den Kragen seines zerlumpten und verwitterten Trenchcoats dicht um seinen Hals. In der Wohnung wehte eine bitterkalte Brise, zumal sie keine nennenswerten Wände mehr hatte.

»Passen Sie auf, wo Sie hintreten, Inspektor. Teile des Bodens sind brüchig oder fehlen ganz. Außerdem ist dies ein noch nicht gesicherter Tatort.«

Godot schaute den jungen Spurensicherungsfachmann durch seine schweren, rot umrandeten Augen an. Jedes Jahr, dachte er. Sie werden jedes Jahr schlechter. Und jünger. Dieses Kind kann höchstens zehn sein und er ist der älteste von den Dreien. Wo war Claude? Claude sollte der Mann für einen Fall dieser Größenordnung sein und nicht irgendein blasierter, altkluger Junger Pionier.

Godot schlurfte durch die Trümmer, die einst die Wohnung von Jean-Pierre Colgan gewesen waren. Drei Techniker waren an einer Außenwand damit beschäftigt, sorgfältig eine Gasleitung zu untersuchen, die aus ihrer Verankerung gerissen und zu einem Knoten verdreht worden war. Rundherum waren Schmauchspuren an der Wand.

Godot zündete sich eine Zigarre an. Kubanisch. Sie half ihm beim Denken.

Der Techniker, der ihm schon beim Reinkommen einen Vortrag gehalten hatte, sprang auf und schrie Godot erregt an: »Hier wird nicht geraucht, Inspektor! Hier hat eine Gasexplosion stattgefunden und außerdem ist dies ein Tatort. Sie bringen uns alle in Gefahr und sie verfälschen die Beweise!«

Godot starrte einfach nur ins Leere. Er holte tief Luft und stieß einen schweren Seufzer aus. Wie lange noch bis zur Pensionierung? Er ignorierte das schmächtige Wiesel mit seinem weißen Labormantel und wandte sich der anderen Seite der Wohnung zu, wo vermutlich die Küche gewesen war. Durch die Rauchschwaden seiner Zigarre genoss er den wunderbaren Blick über Paris, ein Blick, der bis vor wenigen Tagen von roten Ziegelsteinen verstellt gewesen war. Ich liebe Paris im Frühling, dachte er. Schade, dass es noch Winter ist.

Die Techniker schnatterten auf der anderen Seite des Raumes die Gasleitung an. Godot hatte ihren ersten Bericht über die Explosion und den Tod von Jean-Pierre Colgan schon gelesen. Er war nicht schlüssig. Ihm jedenfalls nicht. Er überprüfte sanft den Boden, der wie eine harte Matratze leicht nachgab, und trat vorsichtig auf eine freigelegte Strebe neben der Wand von Colgans Küche. Vor zwei Tagen muss hier eine Arbeitsfläche gestanden haben, dachte er. Auf den Überresten des Bodens konnte er einen Umriss aus Holz- und Kachelresten erkennen.

Dann sah er auf. Godot griff nach einem Stück Gips von der Decke, das an einem Draht direkt über seinem Kopf baumelte. Der hölzerne Messergriff war bis auf die zwei letzten Zentimeter in der Decke versenkt. Er nahm ihn vorsichtig in die Hand und zog. Der Gips löste sich zusammen mit dem Messer. Godot wischte den Staub und die Brösel vom Ärmel seines Mantels, dann klopfte er mit dem Messer gegen einen freigelegten Wandhaken, um die Klinge freizulegen. Sie war verdreht und verbrannt, die Spitze war ausgefranst. Er sah sich um. Senkrecht nach oben... dieses Buttermesser war senkrecht nach oben geflogen.

Godot drehte sich auf der wackeligen Stelle, an der er stand, langsam um. Der Weg, den die Zerstörung sich durch die Wohnung gebahnt hatte, ging direkt von ihm aus, von der Stelle, an der er stand.

Godot lächelte. Das war keine Gasexplosion.


Will hasste dieses Fahrrad. Er hasste es, da zu sein, wo er jetzt war, und er hasste es, das zu tun, was er gerade tat. Er würde jetzt gerne mit dem Schreiber ein Wörtchen wechseln, der sich in TOUR über die Poesie des Rennradfahrens ausgelassen hatte.

»Heb erst einmal deinen fetten Arsch vom Sofa hoch und setz ihn für sechs Stunden auf den Sattel. Dann reden wir weiter.«

Er hatte schon einen Plattfuß gehabt. Er hatte den Schlauch gewechselt und sich in einem Radgeschäft unterwegs Flickzeug und eine Trinkflasche geholt. Eine Notwendigkeit, die sich als Peinlichkeit entpuppt hatte.

Ein älterer weißhaariger Mann stand hinter der Theke, dessen Körper verriet, dass er den Sport in seiner Jugend kennen gelernt, die Beziehung jedoch Jahre vor dem Zusammentreffen mit Will beendet hatte.

»Ich sehe, Monsieur, dass Sie ein Haven-Trikot tragen. Die Mannschaft ist vor etwa 45 Minuten hier vorbeigekommen; Sie haben sie gerade verpasst.«

»Die werde ich noch oft genug sehen. Ich brauche, lassen Sie mich meinen Geldbeutel befragen, einen Schlauch, Flickzeug und ein paar Haven Power Bars.«

»Sie sollten sich besser auf ihre Ausfahrten vorbereiten.«

»Ich musste etwas überstürzt losfahren. Sie sagten, das Team sei seit 45 Minuten durch?«

»45 Minuten, vielleicht eine Stunde. Sie werden sie niemals einholen. Die haben richtig Gas gegeben.«

Er trug seinen Einkauf raus und lud ihn auf. Er würde die Fahrt beenden. Außerhalb der Karenzzeit, aber er würde ankommen.

»Tragen Sie das Trikot zu Ehren von Colgan?«, fragte der Ladenbesitzer.

»In gewissem Sinne trage ich es seinetwegen, ja. Ich habe nach seinem Tod die freie Stelle im Team angenommen.«

»Sie fahren bei Haven? Sie glauben, mir weismachen zu können, dass Sie ein Haven-Fahrer sind? 45 Minuten hinter der Mannschaft? In einem verwanzten Trikot von vor drei Jahren? Ohne Teamwagen alleine auf der Straße?« Plötzlich wurde sich der Ladenbesitzer des Blicks in Ross’ Augen bewusst.

»Ja, mein Freund, mais oui, Sie ersetzen Colgan. Jetzt erinnere ich mich. Ich habe in L’Equipe von Ihnen gelesen. Ja, natürlich. Bonne chance – Sie müssen jetzt fliegen. Sie haben einen großen Rückstand wettzumachen. Aber das sollte Ihnen nicht schwer fallen, Sie sind ja ein Champion, non?«

Er schob Will an und beobachtete, wie er die Hauptstraße des Dorfes hinunterfuhr. Sobald Ross aus dem Blickfeld verschwunden war, rannte Jean Jablom in das Hinterzimmer seines Geschäfts und wählte eine Telefonnummer, die er stets in seinem Herzen trug. Innerhalb von fünf Minuten hatte er alle seine Wetten für die Saison geändert. Er hatte immer auf Haven gesetzt. Dank Haven hatte er eine Menge Geld verdient. Er glaubte an Treue.

Aber es gab keinen Grund, deshalb Dummheiten zu machen. Will kämpfte, die Nase dicht über dem Lenker, gegen den Wind. Er hatte zu Beginn ein gutes Tempo aufgenommen und beibehalten, aber jetzt, da die Brise sich in einen satten Gegenwind verwandelte und das Terrain schwieriger wurde, musste er sich ganz darauf konzentrieren, überhaupt im Tritt zu bleiben. Wenige Kilometer zuvor hatte er auf die Karte geschaut und eine kleine Landwirtschaftsstraße ausgemacht. Es war eine Abkürzung, um auf die Straße zurück nach Senlis zu gelangen. Er könnte sie nehmen, etwa zwei Stunden gutmachen, vor der Mannschaft rauskommen, sie vorbeifahren lassen und dann locker ausrollen. So würde er vielleicht 15 bis 20 Minuten hinter ihnen am Velodrom ankommen. Deeds würde sich in die Hosen machen. Die ganze Mannschaft würde sich in die Hosen machen. So könnte er sich Respekt verschaffen, bis zur nächsten Ausfahrt, am nächsten Tag, wenn er nach zwanzig Kilometern abreißen lassen müsste. Vielleicht würden sie denken, er habe sich am Vortag verausgabt, also würden sie verständnisvoll sein. Vielleicht auch nicht. Und selbst wenn, dann nur so lange, bis sie herausbekämen, dass er es einfach nicht draufhatte und dass kein Training der Welt etwas daran ändern konnte.

Hatte er es jemals draufgehabt? Als Kind vielleicht, auf dem gusseiseren Rad mit den dicken Reifen, als er seine Mutter damit wahnsinnig gemacht hat, die alte Straße nach Hickory Corners, vier Meilen von zu Hause, herunterzubrettern, um blinde Ecken und um schnelle Kurven, auf dem kleinen Rad, das von einem kleinen Jungen gefahren wurde, der nicht mehr von Fahrrädern fernzuhalten war, seit er gelernt hatte, im Sattel zu bleiben. Sein Bruder hatte es ihm beigebracht. Auf einem großen Rad. Auf dem Rad seiner Schwester. Sein eigenes hatte er Will lieber nicht gegeben. Ein großer Hügel und ein großer Stubser. Es war das fantastischste Gefühl der Welt, der Wind, die Geschwindigkeit, die Angst. Unter dem Sturz hatten die Schutzbleche gelitten, nicht aber Wills Gefühle gegenüber Fahrrädern. Er konnte nicht genug bekommen. Wenn er Order bekam, von der Straße wegzubleiben, hoppelte er eben über Felder und durch Schlammlöcher. Ein Freund aus der Nachbarschaft hatte ihm mit dem Traktor seines Vaters sogar eine Schneise in das Feld gemäht.

Will begann an seinem Tacho zu zweifeln. Er ging an und aus und sah nicht so aus, als würde er funktionieren. Er sagte ihm, dass er vier Stunden gefahren war und er hätte schon längst am Wendepunkt sein müssen. Die Abkürzung hatte er bei seiner Träumerei um mindestens zwanzig Kilometer verpasst.

Allein im Wind, mit dem Kopf zwischen den Oberarmen, fand er plötzlich etwas, das ihn aufrichtete. Kein brennendes Verlangen, nur die Erinnerung an eine Ausgabe von L’Equipe, die er im Klassenzimmer eines Französischlehrers in der High School von Delton, Michigan gefunden hatte. Sein Vater war dort Hausmeister gewesen und hatte ihn mitgenommen, um Frösche zum Angeln aus einem Lichtschacht einzusammeln. Will war durch das Klassenzimmer gestromert, während er auf seinen Vater wartete, als er es entdeckte – das wildeste, furchteinflößendste Gesicht, das ihn je aus einer verwitterten, an eine Betonwand getackerten Zeitung angestarrt hatte. Er hatte nicht die geringste Vorstellung davon, was da stand, aber die Seite sprach ihn direkt an. Über Tausende von Meilen Entfernung und in einer unverständlichen Sprache berührte sie die Seele eines kleinen Jungen in Michigan. Irgendwo auf der Welt gab es jemanden, der über Räder und Rennen schrieb und über wilde Männer auf zwei Rädern, die genauso empfanden wie er, wenn er den Wind im Gesicht hatte.

Anquetil – das war das einzige Wort, das in der Überschrift in Großbuchstaben gedruckt war, also, dachte Will, muss das sein Name sein. Und dies war das Zimmer des Französischlehrers, also musste er Franzose sein. Und da stand irgendetwas über eine Tour. Tour. Tour de France. Er würde nachfragen. Tour de France. Das würde er sich einprägen, in seine Erinnerung einbrennen. Er würde herausbekommen, was das ist.

Es war nicht so einfach, Mitte der siebziger Jahre in West-Michigan Antworten auf seine Fragen zu bekommen. Die Gegend war nicht unbedingt als Wiege von Fahrrad-Champions bekannt. Hier gab es Landwirschaft, Football und die Kirche. Sport bedeutete: die Tigers und die Cubs und die Lions und die Bears. Basketball gab es in der High School. Hockey gab es in Kanada. Radfahren war etwas, das Kinder taten.

Aber in Detroit, zwei Autostunden entfernt, auf der anderen Seite des Staates, lag die Sache anders. In der Bibliothek war nachzulesen, dass es dort eine Radrennbahn gab. Eine Bahn, die sie »Velodrom« nannten. Und es gab Clubs. Clubs, die am Wochenende mit ihren Rädern Rennen fuhren. Und es gab Fahrradgeschäfte. Geschäfte, die andere Räder verkauften als die schweren Western Flyers mit ihren Ballonreifen und Gestängebremsen.

Ein Fahrrad hatte für Will immer Freiheit bedeutet. Jetzt bedeutete es mehr: Geschwindigkeit. Eine Geschwindigkeit, die ein Junge sonst erst mit sechzehn erfahren konnte, dem magischen Alter, in dem man in die Fahrschule gehen durfte. Und Gefahr. Geschwindigkeit. Und Gefahr. Und Anquetil, der ihn mit beunruhigenden Augen von der Seite her anstarrte. Es bedeutete, dass er endlich erfahren würde, was hinter diesen Augen verborgen lag.


Cheryl Crane ließ sich auf einen zerlumpten Sessel in einer Ecke der Werkstatt sinken. Eine Staubwolke, die sich über die Jahrzehnte angesammelt hatte, stieg um sie herum auf. Sie schloss die Augen und hielt für einen Augenblick die Luft an, bis der Staub sich verzogen hatte. Es roch wie im Keller ihrer Mutter. Sie öffnete die Augen und blickte auf eine Reihe niedriger Zeitfahrmaschinen, deren Lackierung und Titanteile auf Hochglanz poliert waren. Es waren tödliche Waffen. Sie vermisste sie. Sie vermisste die Geschwindigkeit und die Hatz, die Aufregung, das Gerangel und die Schinderei in der Meute. Die Herausforderung von innen und von außen.

Sie wollte wieder auf dem Rad sitzen, wieder Teil der Meute sein, anstatt ihr Leben damit zu verschwenden, für ein Team halbtalentierter Egozentriker und Maulhelden und Trottel die Krankenschwester zu spielen.

Und dann Ross. Weiß Gott, wohin der gehörte.


Will aß und trank, während die Kilometer an ihm vorbeizufliegen begannen. Der Gegenwind, der ihn auf der Auswärtsstrecke zermürbt hatte, schob ihn jetzt nach Hause. Es wurde leichter, den Schnitt zu halten, sogar ein wenig zu verbessern, und nachdem er einen Blick auf die Karte geworfen hatte, erhöhte er seinen Takt. Er stellte in Gedanken das Metronom, das er im Winter beim Training auf der Rolle immer benutzte. Er erhöhte im Kopf seine Schlagzahl und seine Beine pumpten zum Takt der mentalen Uhr.

Klick. Klick. Klick. Klick-Klickklickklickklickklickklickklickklickklickklick.

Der erste Ausflug nach Detroit wäre beinahe ein Desaster geworden. Sie hatten nicht gewusst, wonach oder nach wem sie suchen sollten und die Abneigung seines Vaters gegen das Fahren in Großstädten hätte die Suche beinahe enden lassen, bevor sie richtig begonnen hatte. Schließlich waren sie zwei Stunden vor Beginn des Football-Spiels im Stadion der Tigers angekommen.

Trotzdem war es keine vergeudete Zeit. Will ging mit einer Hand voll Zehn-Cent-Stücke hinter die Tribüne, fand eine Telefonzelle und ein fast vollständiges Telefonbuch und begann zu telefonieren. Er rief das Velodrom an, die Fahrradclubs, die Radläden. Jeden, von dem er glaubte, er könne seine Fragen nach dem Wo, dem Wann und dem Wer beantworten. Wo war der beste Laden, wann war dieser geöffnet und mit wem konnte er über das Fahren, über Rennen und über diesen Anquetil reden.

Innerhalb von zwanzig Minuten hatte er eine Antwort. Two Wheels, in einer der Vorstädte. Geöffnet bis fünf Uhr heute abend. Frag nach Stewart Kenally. Nicht schlecht für einen Dreizehnjährigen. Jetzt mussten die Tigers nur noch kurzen Prozess mit den Orioles machen.

Es kam genau andersherum, aber das Spiel war vorbei und sie saßen um viertel vor vier im Auto. Papa wollte direkt auf den Highway, um dem Verkehr voraus zu sein, aber Will setzte sich durch. Schließlich war das Spiel das Rahmenprogramm der Reise gewesen. Nicht das Fahrradgeschäft.

Sie brauchten fast eine Stunde, um den Laden zu finden – aber als sich der Nachmittag dem Abend zuneigte, bogen sie um eine Straßenecke und Will sah die verwitterten Laufräder, die über einem dunkelgrünen Schild hingen. Two Wheels. Er hätte sich vor Aufregung fast in die Hose gemacht.

Eine Angewohnheit, die er sich von seiner Großmutter abgeschaut hatte, nachahmend, öffnete Will die Wagentür und hüpfte aus dem gelben Ford-Kombi, noch bevor dieser zum Stehen kam.

»Verdammt noch ’mal ... «, tönte es vom Fahrersitz, aber Will rannte schon zum Geschäft. Schließlich schlossen sie um fünf und wer weiß? Vielleicht würden sie an einem Samstag ein paar Minuten eher dicht machen und einfach zum Essen nach Hause gehen. Er griff nach der Türklinke und drückte sie nach unten. Die Tür öffnete sich und er trat ein ins Wunderland.

William Edward Ross war zu Hause.


Jetzt hatte er nichts mehr zu essen. Seinen letzten Energieriegel hatte er vor einer Stunde zu sich genommen. Seine Beine fühlten sich an wie Blei. Er konnte sich nicht mehr konzentrieren und er konnte seinen Schnitt nicht mehr halten. Er hatte noch genügend Wasser und er trank fortwährend, aber er brauchte dringend etwas Festes zwischen den Zähnen. Sein Gehirn fühlte sich an, als wäre es in Baumwolle verpackt. Peng. Er war dabei zu platzen. Er rechnete sich aus, dass er noch etwa zwanzig Kilometer zu fahren hatte und er nahm sich einfach vor, weiterzufahren. Deeds würde innerlich ein Fass aufmachen, wenn er in Senlis in die Auffahrt zum Velodrom einbog. Was war das überhaupt für ein Ort? Ein altes Loch, das das Team für das Aufbautraining im Winter angemietet hatte, bevor alle ihren Saisonplan bekamen und die Mannschaft sich über den ganzen Kontinent verteilte, um wie Verrückte Rennen zu fahren und zu versuchen, von Arschlöchern wie Deeds, die nichts vom Rad fahren verstanden, außer einem Steine in den Weg zu legen und einen runterzumachen, einen Brocken Lob zu bekommen... Aufhören damit. Benutze deine Kraft zum Fahren. Verschwende sie nicht darauf, zu meckern und zu jammern und zu stöhnen. Einfach den Kopf unten halten und den Wind unterlaufen – er hatte schon wieder gedreht, oder hatte der letzte Streckenteil ihn einfach wieder in Windrichtung gebracht? Einfach treten. Bald ist es vorbei. Nur an die warme Dusche denken und an Deeds. Du wirst dich mit Deeds auseinandersetzen müssen. Aber das kann man überleben, selbst wenn man die Ausfahrt nicht überlebt. Und, mein Gott, morgen muss ich das wieder durchstehen...


»Hast Du ihn gesehen?«

»Nicht in den letzten dreieinhalb Stunden, Tomas.« Cheryl Crane fuhr zusammen. Sie kannte diesen Ross-Typen überhaupt nicht, aber Tomas’ Sorge begann auf sie abzufärben.

Tomas Delgado lief den Bürgersteig in Senlis auf und ab und fluchte. Irgendwo da draußen, auf einer 140-Kilometer-Runde, war sein Freund. Er war neu im Team und er hatte ihn noch nicht gesehen. Das Team war seit einer halben Stunde da und wie am Ende einer Fabrikschicht fuhren die Autos vor und die Fahrer kamen heraus, um sich in ihre Wohnungen rund um Senlis und in den nördlichen Vororten von Paris fahren zu lassen.

Er wollte auf Will warten. Aber jetzt war die ganze Mannschaft weg und Deeds schloss das Velodrom ab.

»Hey ... was ist mit Will?«

»Wer?« Deeds schien aufrichtig verwirrt zu sein.

»Will. Will Ross. Der Neue. Er ist noch unterwegs.«

»Sein Problem.«

»Ich warte auf ihn.«

Deeds seufzte. »Fahr nach Hause, Tomas. Du und Crane. Ich bin der Sportliche Leiter. Es ist meine Aufgabe. Ich warte auf Ross. Hab’ mich noch nicht daran gewöhnt, dass er bei uns ist. Hab’ einfach nicht an ihn gedacht.«

»Er fährt alleine – es könnte eine Weile dauern.«

»Ich warte. Mach dir keine Gedanken. Geh nach Hause, mach dir was zum Abendessen und ruh dich aus. Wir sehen uns morgen.«

Cheryl Crane kletterte in den Kombi. Tomas Delgado zögerte beim Einsteigen.

»Fahr, Tomas. Fahr einfach. Ich bin hier. Ich warte. Egal wie lange es dauert.«

Delgado hielt einen Augenblick lang inne, dann stieg er in den Haven-Mannschaftswagen und zog die Tür hinter sich zu. Das Auto fuhr an und verschwand im Feierabendverkehr von Senlis. Carl Deeds schaute ihm hinterher, dann ging er zu seinem eigenen Auto, stieg ein und machte sich auf die lange Fahrt zu seiner Wohnung in Paris, wo eine Flasche Wein auf ihn wartete.


Er hatte das Ortsschild passiert. Er war in den Vororten von Senlis. Senlis. Sinnlos. Diese ganze gottverdammte Sache war sinnlos. Noch zehn Kilometer. Nach der nächsten Abzweigung würde er durch den Verkehr fahren müssen und er würde sich noch mehr konzentrieren müssen, damit er nicht auf einer Kühlerhaube landete.

Zehn. Nicht mehr weit. Wieviel – sechs Meilen? Bestimmte Amerikanismen hatte er trotz vieler Jahre in Belgien beibehalten. Er rechnete Kilometer in Meilen um. Er übersetzte Flämisch in Französisch und Französisch in Englisch, obwohl es auf diese Art ewig dauerte, bis er sein Essen bestellt hatte. Es war dumm und es war engstirnig, aber es war eben das Verfahren, das er während des ersten Jahres entwickelt hatte, um mit dem Alltag zurecht zu kommen. Jetzt war es einfach nur seine Art. Es war nicht schnell und es war nicht schön, aber es funktionierte für ihn. Noch acht. Noch sieben. Noch sechs.

Jetzt schossen Autos an ihm vorbei. Er hätte auf sie achten müssen, aber er konnte seinen Kopf nicht heben. Er sah seine Füße. Er sah seine Pedale. Sollten sie sich nicht schneller bewegen? Er überfuhr eine rote Ampel und er verfuhr sich in eine Einbahnstraße. Wohin? Welche Straße? Wenn er die verkehrte nahm, würde er wieder zurück fahren. Die Karte ergab keinen Sinn mehr. Aber hier, hier war die richtige Straße, denn da war das Geschäft, an dem er mit dem Taxi auf dem Weg zum Trainingszentrum vorbeigefahren war. Das Velodrom müsste gleich um die Ecke sein, in all seiner braunen, verfallenen Hässlichkeit. Was für eine Rattenfalle. Wie konnte irgendjemand an diesem Ort Fahrrad fahren, an diesem teuflischen Ort? Mein Gott, ich würde es nie tun, niemals, niemals.

Will hielt am Eingangstor. Er schaute auf den Tacho. Er zeigte nichts an. Wie viele Stunden im Sattel? Zu viele. Hatte er wirklich so viele Stunden seines Lebens verloren, und wofür? Er schwang sein Bein über den Sattel und betrat zum ersten Mal seit dem Fahrradladen festen Boden. Wo war dieser Laden gewesen? Wie lange war das her? Seine Beine zitterten. Er ging wie Opa Ross nach seinem Schlaganfall. Er zog das Rad hinter sich her wie ein Sheriff in einem Comic einen bewusstlosen Desperado hinter sich herschleift, und stolperte zur Tür. Deeds würde bei seinem Anblick erschrecken.

Vielleicht. Oder auch nicht. Die Vordertür war abgeschlossen.

Will kehrte um und zog das Rad am Vorderrad hinter sich her um die Ecke des Gebäudes, die Allee hinunter und in den Hof neben der Bahn. Die Umkleidekabinen waren auch abgeschlossen.

Zu diesem Zeitpunkt wäre er zusammengebrochen, wenn die in ihm aufsteigende Wut ihn nicht aufrecht gehalten hätte. Er lehnte sich gegen die Tür und begann mit den Fäusten dagegen zu trommeln, erst langsam, dann immer schneller und fester.

»Du Hurensohn!«

Peng!

Jetzt war er noch erschöpfter und die Tür hatte sich nicht geöffnet und offenbar hatte ihn auch niemand gehört.

Will schaute sich um und bemerkte, dass ein Fenster, etwa zwei Meter über ihm, offenstand. Er schob sein Rad an die Wand, kletterte rauf bis er auf dem Sattel stand und schaute hinein. Innen war es verdammt weit bis zum Boden, aber wenn er nur raufkäme, rauf, rauf und rein... der rostige Fensterrahmen biss sich in seinen Hintern und fing an, durch die Kunstfaser in seine Haut zu schneiden. Trotzdem zog er sich weiter hinein, solange, bis ihm auf der anderen Seite die Schwerkraft zu Hilfe kam.

Ross versuchte den Sturz mit den Füßen zu bremsen, aber er konnte sich im Fallen nicht rechtzeitig an der Fassung des Fensters einhaken. Seine ausgestreckten Arme schlugen zunächst auf eine Holzkiste auf und rutschten dann über die Fliesen. Er versuchte abzurollen, aber es war zu spät und außerdem war er ohnehin zu müde.

Sein Kopf drehte sich zur Seite und sein Schlüsselbein schlug auf den Boden. Will schrie, als der Schmerz seine gesamte rechte Körperhälfte durchzog. Er lag auf dem schmutzigen Fußboden und rang nach Luft. Er glaubte nicht, dass etwas gebrochen war, aber es würde garantiert einen bösen Bluterguss geben.

Er setzte sich auf. Dies war irgendein Trockenraum. Er glaubte sich erinnern zu können, dass er direkt neben der Umkleidekabine lag. Er stand auf und versuchte, seinen linken Arm auszustrecken – autsch – lieber noch nicht. Er streifte seine Fahrradschuhe ab – das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war, auf einem Kachelboden herumzuschlittern – und watschelte zur Außentür, öffnete den Riegel und holte sein Rad herein. Es war ihr verdammtes Rad und er hätte es einfach stehen lassen sollen. Sollte sich doch Deeds mit dem Diebstahl rumärgern. Aber für Will war es immer derartig schwer gewesen, an Fahrräder und Fahrradausrüstung zu kommen, dass er sie nur mit Respekt behandeln konnte.

Er schob das Rad in eine Ecke und schloss die Tür wieder ab. Das Gebäude war jetzt so still wie eine Zeitungsredaktion eine Stunde nachdem die letzte Ausgabe in Druck gegeben wurde. Er konnte ein gelegentliches Quietschen vernehmen, das erstickte Gurgeln eines Heißwasserbereiters über ihm. Er war alleine. Tödlich einsam. War er gerade in das falsche Gebäude eingebrochen? Nein. Da waren seine Sachen, in die Ecke gestapelt. Es lag ein Zettel darauf.

Er hob ihn auf und las, was er von dem Hühnergekritzel entziffern konnte: »Willkommen zu Hause. Morgen früh 8 Uhr. Mannschaftsbesprechung hier. Deeds.«

Er brauchte dringend eine Dusche. Ohne Dusche würde er vermutlich morgen oder in einer Woche Sitzpickel und Pilze bekommen. Er trat hinein und ließ das heiße Wasser über seinen Körper laufen. Er wusch sich nicht. Er stand einfach da, in seinen Klamotten und Socken.

Langsam, ganz langsam, zog er sich aus und wusch die verschmutzteren Teile seines Körpers. Will wusste nicht, wie lange er da stand. Er konnte an der Duschwand lehnend eingenickt sein. Er konnte bewusstlos gewesen sein. Er wusste nur, dass, als er wieder wach wurde, seine Finger angenehm zwetschgenhaft aussahen.

Er trat aus der Dusche und griff nach einem Handtuch. Es gab keines. Nur nasse, die die anderen benutzt hatten und die jenen leicht schimmeligen Geruch absonderten, den nur Sportler übertragen. Er nahm das am wenigsten nasse und am wenigsten ekelhafte Handtuch und trocknete sich so gut wie möglich ab. Er stolperte hinüber zu seinen Sachen und wühlte sie nach wenigstens einem Haven Power Bar durch. Er hatte immer einen in Reserve. Man weiß nie, wann der Hungerast zuschlägt.

Der ungeöffnete Riegel fiel ihm aus der Hand. Will war eingeschlafen, nackt, neben seiner Tasche, bevor der Riegel auch nur auf dem verschmierten Kachelboden aufgeschlagen war.

Sein letzter Gedanke, bevor er komplett weggetreten war, war eine Erinnerung. An das, in was er sich an jenem Tag verliebt hatte, als er in Detroit die Tür von Two Wheels kurz vor Ladenschluß geöffnet hatte. Es war eine Erinnerung, die ein Leben lang hielt. Sie hatte ihn hierher gebracht, an diesen Ort, zu diesem Job.

Es war der Geruch gewesen.

Nachdem er ihn in jenem Moment gerochen hatte, war er für immer verloren.

Tödliche Tour

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