Читать книгу Tödliche Tour - Greg Moody - Страница 8
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Haven im Sinn
Dies ist mein neuestes Gemälde. Es heißt ›Morgenröte – mit Kojoten‹.« Will drehte sich instinktiv auf die Seite und bedeckte seine Blöße. Er bedeckte sie zwar nur mit einem Haven Power Bar, aber immerhin bedeckte er sie.
»Ich sagte, ich nenne es ›Morgenröte ... ‹ «
»Schon gut – hab’ schon kapiert. Ich bin wach.«
»Bist du nicht. Wenn du wach wärst, würdest du sagen: ›Delgado – irgendeine Verwandtschaft mit Pedro?‹ und ich würde sagen: ›Entfernt... ‹.«
»Hallo, Tomas.«
»Hallo, Will. Sei mir nicht böse, aber du siehst absolut beschissen aus.«
»So fühle ich mich auch. Danke.«
Will stand auf, um sich zu strecken und wickelte sich das mittlerweile trockene, aber brettsteife Handtuch um. Tomas schüttelte in einer Mischung aus Mitleid und Abscheu den Kopf.
»Reiß dich zusammen. In weniger als einer Stunde ist eine Mannschaftssitzung und Deeds hat gekocht, als du gestern nicht da warst.«
»Daran hätte der Bastard denken sollen, als er gestern die Hintertür abgeschlossen hat.«
»Er hat gesagt, du wärst angekommen und alles sei in Ordnung.«
»Nichts war in Ordnung und jetzt bin ich völlig im Eimer. Gibt’s hier ein Café oder so was? Ich brauch’ dringend ein Frühstück.« »Ein paar Häuser weiter. Marie’s. Teuer, aber gut. Und es gibt eine ordentliche Portion.«
»Geld hab’ ich. Eine ordentliche Portion hab’ ich nötig.«
»Du hast etwa 45 Minuten ... und geh zu den Besprechungen. Deeds wird sich grün und blau ärgern, wenn er dich sieht.«
Ross lächelte. Nichts würde ihm besser tun als das. Tomas sagte ihm, er solle sich beeilen. Dann könnten sie vor dem Training noch gemeinsam sein Rad einstellen. Außerdem versprach er Ross, ihm Mannschaftskleidung zu besorgen – aus der aktuellen Kollektion.
Will dankte ihm und sprang unter die Dusche, um sich rasch abzuwaschen. Er trocknete sich mit einem frischen Handtuch ab, das Tomas ihm mitgebracht hatte und rieb sich mit Alkohol ab. Er wusste nicht, ob das wirklich etwas brachte, aber er konnte sich daran erinnern, dass Izzy ihm gesagt hatte, es härte die Haut ab und töte die kleinen Bestien, die Sitzprobleme verursachten. Er rasierte sich schnell und zog sich einen weiten Trainingsanzug sowie Badeschlappen an. Das würde reichen, bis Tomas ihm eine Ausrüstung besorgt hatte. Will warf einen Blick auf die Uhr. Sieben Minuten glatt. Kein Zweifel, er war noch immer der schnellste Stripper aus der achten Klasse. Wenigstens eine Begabung, die er nie verloren hatte.
Er trat aus der Hintertür und lief durch die Gasse zur Straße. Bislang war ihm der leise Charme noch nicht aufgefallen, der sogar von dieser kleinen Zufahrt zum Velodrom von Senlis ausging: verschnörkelte Zäune, Blumen, Kopfsteinpflaster, aus dem ein Hauch von Moos durchschimmerte, und ein Hinterhof, der tatsächlich dazu einlud, sich niederzulassen, die Schuhe auszuziehen ...
Das Café war nur zwei Häuser weiter und lag fast direkt an der Straße. Auf dem Bürgersteig standen die stereotypen französischen Stühle und Tische, die Ross schon immer fasziniert hatten. Warum sollte irgendjemand, und sei es an einem herrlichen Frühlingstag, in zwei Meter Entfernung von Autos mit schlecht eingestellten Vergasern sitzen wollen, die Stoßstange an Stoßstange da standen und nichts taten, als deine Lungen mit Abgasen zu verpesten?
Er liebte die Franzosen, aber er würde sie nie verstehen.
Marie’s war klein, aber es gefiel ihm sofort. Auf einer Seite stand eine Theke mit einer riesigen Espresso-Maschine, eingerahmt von unzähligen Weinflaschen. Meine Art von Café, dachte Will; viel Wein plus viel Espresso machten aus ihm den wachsten Betrunkenen in ganz Europa.
Eine Frau, von der er annahm, sie müsse Marie sein, stand hinter der Theke und spülte Gläser. Merkwürdigerweise sah sie eher deutsch aus als französisch. Sie hatte angegraute blonde Haare, die zu einem strengen Dutt zusammengesteckt waren. Die Aufmachung ließ sie aussehen wie eine Mischung aus Dorothy Gale aus Oz und einem Jungmädel, Krachlederne auf einem prallen Gestell. Marie musste um die 240 Pfund wiegen, dachte er, und das bedeutete, dass sie das, was sie kochte, auch gerne aß. Perfekt.
Seine Art von Café.
»Monsieur...?«
Das war das Schönste am Rad fahren, dachte Will, während er Kaffee, Obst, Müsli, Buttercroissant, Joghurt, vier Eier und eine Waffel bestellte. »Und bringen Sie bitte nicht alles auf einmal. Bringen Sie die Sachen gleich raus, wenn sie fertig werden. Ich esse alles hintereinander, ich habe es ein wenig eilig.«
Marie lächelte. Ein Fahrrad-Team nebenan war gut fürs Geschäft.
Als er zum Velodrom zurückging wünschte Will sich, er hätte noch ein bisschen mehr Zeit bis zum Training. Obwohl er erst 32 war, konnte er nicht mehr alles, was nicht niet- und nagelfest war, in sich reinstopfen, sich aufs Rad schwingen und bis zum Morgengrauen fahren. Er brauchte jetzt ein wenig Ruhe – wenigstens eine Stunde – oder eine Handvoll Magentabletten. Er begriffjetzt, warum es hieß, man solle eine Stunde nach dem Essen nicht schwimmen. Wenn er jetzt in eine Pfütze treten würde, würde er versinken wie ein Stein.
Will schaute auf die Uhr. Gut in der Zeit. Noch zehn Minuten bis zur Besprechung und er war bereit. Tomas hatte ihm frische Radklamotten auf die Tasche gelegt. Sogar Handschuhe, ein Helm und eine Sonnenbrille waren dabei. Alles passte zusammen und alles war mit den Logos von Haven und einem Haufen kleinerer Sponsoren versehen. Nicht schlecht. Große Mannschaften hatten ihre Vorzüge. Ross zog sich um, während der Rest der Mannschaft nach und nach eintrudelte. Keiner beachtete ihn weiter. Das einzige Mal, dass jemand mit ihm sprach, war, als er fragte, wo sich die Werkstatt befände. Er wusste, dass diese Dinge ihre Zeit brauchten, insbesondere, wenn man der Ersatzmann für den Kapitän war. Es würde Ablehnung geben, bissige Bemerkungen... und jede Menge nackter Wut auf ihn. Aber er war hier, zum Guten oder zum Schlechten und aus Gründen, die nur der liebe Gott kannte.
Er nahm seine Schuhe, seine Brille und seinen Helm und ging durch den teilweise tapezierten Tunnel auf die Geräusche und den Geruch zu, die ihm so vertraut waren. Das Geräusch von Laufrädern, die zentriert werden, von herunterfallenden Schraubenschlüsseln und die Gerüche von Lagerfett und Leder und Kettenöl. Vielleicht hätte er Mechaniker bleiben sollen. Nein. Er wollte fahren. Und auch die wunderbarste Sache der Welt kann zur Hölle auf Erden werden, wenn man sie zu lange tut oder zusammen mit den falschen Leuten.
Tomas schaute von seinem Montageständer auf, als Will durch die Schwingtüren trat.
»Du kommst gerade recht. Ich habe eben dein Rad auf die Rolle gestellt. Lass uns deine Sitzposition und deine Schuhplatten überprüfen.«
Tomas war ein Mechaniker alter Schule. Er tat viele Dinge nach Augenmaß. Sattelhöhe. Winkel der Schuhplatten. Effektiver Sitzrohrwinkel und Entfernung zum Lenker. Er scherte sich nicht um Computer oder Kaliber, nicht einmal um Maßbänder.
Will hatte gestern ganz gut auf seinem Rad gesessen, aber Tomas gab seiner Sitzposition einen letzten Schliff, den Will sofort spürte. Vielleicht war diese Maschine doch kein hoffnungsloser Fall. Er selbst vielleicht auch nicht. Moment. Eins nach dem anderen.
»Ich musste die Räder neu zentrieren. Bist du gestern über irgendetwas drübergefahren? Deine hintere Felge hatte einen riesen Schlag. Es wundert mich, dass du damit überhaupt angekommen bist. Ich musste das Schaltwerk gerade biegen und den Umwerfer neu einstellen. Der Lenker war auch verbogen. Es wundert mich, dass sie dir dieses Rad gegeben haben. Gestern früh war es schrottreif, aber heute wirst du damit ankommen.«
Will lächelte. Das war sein Freund Tomas, der Mann, der anfing über Räder zu sprechen, erst langsam, dann schneller und schneller bis er irgendwann Fakten in einem Tempo herunterrasselte, mit dem es schwer war Schritt zu halten, besonders wenn sein baskischer Akzent durchbrach.
Tomas war einer der echten Charaktere, die Will im europäischen Profi-Zirkus kennen gelernt hatte. Der Sport war reich an ihnen. Tomas, Colgan, sogar Deeds. Obwohl, wenn er es sich recht überlegte, jeder Sport ohne einen wie Deeds besser dran wäre.
Die Besprechung fand in einem der wenigen renovierten Räume des verfallenen Velodroms statt. Er hatte einen dunkelblauen Boden und blasse Betonwände, die mit Lackfarbe überzogen waren. Schwer zu malen, leicht zu reinigen, dachte Will und erinnerte sich an seine Zeit als Maler in einem Bezirkskrankenhaus, wo er immer die Nachtschichten übernommen hatte, um tagsüber trainieren zu können. Er strich mit der Hand über die kühle, sanfte Oberfläche. Er kannte vielleicht nicht die Hauptstadt von Süd-Dakota, aber mit Farbe kannte er sich aus. Und das hier war Lackfarbe. Und auch noch sauber aufgetragen.
Er merkte, dass er es nicht mehr länger hinauszögern konnte. Er drehte sich um und sah seiner neuen Mannschaft ins Gesicht.
Abgesehen von Deeds war Will als letzter in den Raum getreten. Als er sich umschaute, bemerkte er, dass ihm viele Gesichter aus seiner allgemeinen Kenntnis des Profi-Pelotons heraus bekannt waren. Gegen andere war er in den vergangenen vier oder fünf Jahren selbst gefahren. Einen oder zwei kannte er nur aus Artikeln in L’Equipe. Er kannte sie nicht persönlich, aber er kannte ihren Ruf. Richard Bourgoin, der neue Kapitän, war ein Hai: kraftvoll und ausdauernd in den Bergen; solide bis spektakulär bei den Sprints; aber ein Anker, ein totes Gewicht im Zeitfahren. Keiner glaubte wirklich, dass er das Zeug dazu hatte, die Tour zu gewinnen, vor allem ohne ein erstklassiges Team im Rücken. Bis zu Colgans Tod war Bourgoin ein fähiger Leutnant gewesen, jederzeit bereit, Kräfte im Team zu mobilisieren, Taktiken vorzugeben, das Tempo im Peloton zu bestimmen... und wenn es nötig war, sich selbst heroisch zu opfern, um Jean-Pierre Colgan auf den obersten Podiumsplatz zu bringen. Jetzt hatte er diesen Ehrenplatz, wenn auch nur, weil der Leader tot war und es weder Zeit noch Gelegenheit gegeben hatte, einen gleichwertigen Ersatz zu finden.
Nur Will.
Nur ich, dachte Will. Bourgoin sollte dankbar sein. Er hat es nur mir zu verdanken, dass er seine Chance bekommt.
Dann war da Antonio Cacciavillani, der Sprinter. In den vergangenen fünf Jahren war er immer unter den besten drei in der Welt gewesen, bis ein böser Unfall im vergangenen Jahr ihn zwar nicht seinen Antritt gekostet hatte, aber seine Todesverachtung, wenn er sich zur Ziellinie durchschob und -biss.
Hans Merkel war der neue Leutnant der Mannschaft, weil Cacciavillani in den Bergen nicht die Beine hatte, um an den Besten dranzubleiben. Außerdem sind Sprinter meist krasse Einzelgänger und die Nummer Zwei muss sich ganz in den Dienst der Mannschaft stellen. Tony C. hätte das nie gekonnt, Merkel hingegen unterdrückte voll und ganz seine Begabung und seine Persönlichkeit, um Bourgoin über die Linie zu bringen.
Da waren Miguel Cardone, der Baske, und Masenti und Mooria, die italienischen Sechs-Tage-Meister, die so taten, als wären Straßenrennen eine Art Urlaub von der Bahn und eigentlich unter ihrer Würde; und John Cardinal, der amerikanische Mountain-Biker, der auf die Straße zurückgekehrt war, nachdem er seinen Vertrag bei einer italienischen Mountain-Bike-Mannschaft verloren hatte.
Und da war Cheryl. Sie schaute ihn mit wachen grauen Augen an, die seine ganze Aufmerksamkeit auf sich zogen und deren Blick ihn berührte. Er konnte den Bann nicht brechen, in den sie ihn unzweifelhaft geschlagen hatten. Er zog seinen imaginären Hut und wandte sich zur Tür, als Deeds eintrat.
»Ross – fünfzig Dollar Strafe, weil du gestern zu spät zum Training gekommen bist. Ich würde mehr veranschlagen, aber ich habe gehört, dass du durch außergewöhnliche Umstände verhindert warst und außerdem bist du dann ja doch noch gefahren.«
»Etwa zwei Tage hinter uns«, spottete Cacciavillani. Die Mannschaft lachte und auch Deeds konnte sich nicht halten.
»Du weißt, wie man Freunde gewinnt, was Ross? Okay. Die gleiche Strecke heute, aber ich will ein schärferes Tempo sehen. Ihr seit gestern ein wenig abgeschlafft und gegen Ende faul geworden. Ich möchte die gleichen Gruppen wie gestern sehen – die drei Formationen. Ross, du fährst mit der B-Formation. Henri, pass auf, dass er dranbleibt – er wird Probleme bekommen.«
Henri Bresson schaute von seiner L’Equipe auf, herüber zu Will und warf ihm ein Lächeln zu. »Oui.«
»Außerdem Ross«, sagte Deeds zum Abschluss, »möchte ich, dass du in eine Flasche pinkelst. Mannschaftsorder... und ehrlich gesagt, mag ich es auch nicht besonders, wenn meine Fahrer vor dem Training Pillen einwerfen.«
»Es waren Magentabletten«
»Pinkeln. Ich trau’ dir nicht.«
»Verstanden.«
»Willkommen bei den Profis.«
Will lächelte. »Willkommen bei der Wehrmacht.«
»Fick dich ins Knie, Ross.«
Als alle auseinander strömten, ging Will über den Flur ins Zimmer des Mannschaftsarztes. Der war nicht da, aber einer seiner Assistenten, Luis irgendwas, sagte, er würde alles regeln. Will machte zwei Probefläschchen voll, nahm ein drittes und füllte auch dieses. Luis versiegelte und beschriftete die ersten beiden. Will nahm ein drittes Siegel und verschloss auch noch die dritte. Er datierte das Etikett, unterschrieb es und bat Luis, das Gleiche zu tun.
»Ich brauche nur zwei.«
»Schon in Ordnung. Ich brauche die dritte – nur zur Sicherheit.«
Luis kritzelte seine Unterschrift auf das Etikett. Er schien davon nicht sehr begeistert zu sein. Will trug die Flasche in die Umkleidekabine und tat so, als würde er sie in die Tasche stecken. Dann nahm er sie zusammen mit seinen Sachen mit vor die Tür. Als er heraustrat, bog die Mannschaft gerade auf die Straße ein. Cheryl stand am Eingang und beobachtete die Fahrer, wie sie hinter der Biegung verschwanden. Will gab Tomas seine Probe.
»Könntest du das an einem sicheren Platz für mich aufbewahren?« »Klar, Kumpel«. Tomas steckte die Flasche in seine Manteltasche. Eine plötzliche Eingebung ließ ihn auffahren.
»Sie ist doch gut versiegelt, oder?«
»Sehr gut versiegelt. Danke, mein Freund. Ich habe den Kontrolleuren noch nie getraut.«
Cheryl wandte sich Will zu, als dieser sein Rad auf die Straße schob und sein Bein drüberschwang.
»Deeds hat gesagt, du wärst wieder zu spät. Diesmal musst du sie einholen.«
Ross blickte auf seine Handschuhe, an denen die letzten Jahre deutliche Spuren hinterlassen hatten. Er schaute Cheryl durch Augen an, an denen die letzten Jahre ebenfalls deutliche Spuren hinterlassen hatten.
»Kein Problem«, sagte er und machte sich auf die Jagd nach einem vielbeinigen Tier, das vermutlich schon wieder außerhalb seiner Reichweite war.
»Ich stimme völlig mit dir überein, Luc. Benedict auch. Das Problem ist nur, dass der Chefinspektor anderer Meinung ist – und der Kindergarten der Spurensicherung.«
Inspektor Godot stand mitten in den Überresten der Wohnung von Jean-Pierre Colgan auf dem letzten Fleck noch intakten Kachelbodens. Der übrige Boden war nur noch eine Berg- und Tallandschaft aus zerbrochenen Fliesen und hervorstehenden Trägern. Es war schwer, sich durch den Raum zu bewegen. Neben ihm stand Stephen La Sarge, ein Veteran mit mehr als zwanzig Dienstjahren auf dem Buckel. Er hörte La Sarge nur mit einem Ohr zu, während er das Chaos aus Trümmern, Metall- und Holzsplittern sowie Textilfetzen nach jenem entscheidenden Detail absuchte, das die Untersuchung in seine Richtung wenden würde.
Das war keine Gasexplosion.
Godot starrte auf eine Vase, in der eine einsame, verwelkte Blume stand. Die Explosion hatte sie nicht einmal gestreift. Unmittelbar darüber war ein Poster von Jean-Pierre Colgan, dem französischen Fahrrad-Champion, fast vollständig zerstört worden. An der Wand, die mit Splittern gespickt war, hing nur noch eine Ecke des Rahmens, ein Fetzen des Fotos und der Drahthänger. Er stieg über einen Stapel angekokelter Zeitungen auf dem Boden. Daneben stand die Verpackung eines Toasters. In Amerika hergestellt, aber auf das französische Stromnetz abgestimmt. Darauf lag eine Rechnung. Ein Geschenk?
Ein verbranntes und verbogenes Buttermesser und ein geschenkter Toaster.
Nachdem er monatelang im Büro nur Papier hin- und hergeschoben hatte, weil die Lieblinge des Chefs ihn bei allen neuen Fällen ausgestochen hatten, war er endlich wieder an einem Tatort und sein Geist war wieder wach und aktiv. Das Gefühl tat ihm gut.
»Die Jungs von der Spurensicherung halten an ihrer Theorie von der Gasexplosion fest, weil es ihr erster Gedanke war«, fuhr La Sarge fort. »Sie verteidigen sie seit zwei Tagen. Sie würden lieber falsch liegen, als einen Fehler einzugestehen.«
»Und was ist mit dem Chefinspektor?«, murmelte Godot. »Ah... der Chefinspektor. Der hat die doch eingestellt. Uns hat er nicht eingestellt. Man steht immer zu seinen eigenen Kindern.« »Und es spielt auch keine Rolle, dass der Chefinspektor gerade in den Aufsichtsrat von Haven-Pharma berufen worden ist?«
»Ich sehe nicht, warum. Jean-Pierre Colgan ist nur ein winziger Teil des Haven-Konzerns.«
»War. «
La Sarge zuckte zusammen. »War.«
»Er war der französische Meister«, sagte Godot ruhig. Er trat kräftig auf, sodass einer Ratte, die zwischen den bloßliegenden Streben im Boden hervorschaute, die Beute aus dem Maul fiel.
»Ich bin kein Radsportfan«, murrte La Sarge. »Ich kenne die Champions eigentlich kaum. Ich seh’ lieber Fußball.«
Godot fuhr damit fort, den Raum abzusuchen, hielt jedoch plötzlich inne. Irgendetwas in seinem Unterbewusstsein nagte an ihm. Was war das? Er musste es hervorholen. Er schritt vorsichtig über die bloßliegenden Streben zurück zu der Stelle, wo er die Ratte gesehen hatte. Er kniete nieder und holte aus dem Staub und Schmutz von sechzig Jahren, der sich an den Streben angesammelt hatte, den Draht und das Metall hervor, die die Ratte in ihrem Maul gehabt hatte, sowie einen weiteren Schatz.
»Stephen. Du kennst dich doch mit Sprengstoff aus. Was glaubst du, was das hier ist?«
Godot warf seinem Kollegen den Gegenstand zu.
La Sarge fing den verglühten und verbogenen Metallstreifen und drehte ihn in seiner Hand hin und her. »Kann ich nicht sicher sagen, bevor ich es mir nicht im Büro angeschaut habe«, sagte er, »aber es sieht aus wie irgendeine primitive elektrische Apparatur.«
»Apparatur?«
La Sarge holte tief Luft. »Ein Zünder. Wo hast du das gefunden?«
»Genau hier, auf dem Boden. Unser guter Freund Monsieur Le Rat hatte sie zusammen mit anderen Schätzen aufgesammelt.« »Als da wären?«
»Stücke von Papier, Brotkrümel ... und das hier.« Godot warf einen bleistiftdünnen Gegenstand zu La Sarge, der sich vorbeugte, um danach zu greifen. »Es scheinen die Überreste eines Fingers von Monsieur Colgan zu sein.«
Es gab keine Erklärung dafür, dass sich Will so gut fühlte, nicht nach dem gestrigen Tag, noch nicht einmal nach einem guten Essen und einem erholsamen Schlaf. Er hätte in der ersten Stunde platzen müssen, aber es lief wie geschmiert, es lief tatsächlich wie geschmiert. Er fühlte sich wie neugeboren. Gestern ein Traktor, heute ein Sportwagen. Tomas hatte ein Wunder vollbracht. Will fühlte sich gut und stark und gerade wütend genug über seine Behandlung durch Deeds, dass er die Kraft fand, auf das Tempo zu drücken. Und es hochzuhalten. Das Tempo war der Grund gewesen, warum er überhaupt mit Radrennen angefangen hatte. Das und der Geruch.
Two Wheels machte gerade zu. Es war zehn vor fünf und die Lichter in einem Hinterzimmer, das vermutlich die Werkstatt beherbergte, gingen aus. Will stand mit großen Augen in der Eingangstür. Das war kein Fahrradgeschäft. Es gab nur ein oder zwei Räder mit Ballonreifen. Die übrigen Maschinen auf dem Boden und an der Wand waren reine Gefahr: schmale Reifen, schlanke Rahmen, Rasierklingen auf Rädern. Er ging durch den Raum auf eine Reihe von Rädern zu, rot, schwarz, lila und grün, das faszinierendste Hellgrün der Welt.
Es wurde ihm bewusst, dass das, was er roch, ihn genauso unwiderstehlich anzog, wie das, was er sah. Es war Lagerfett, Gummi und Kettenöl, es war Schweiß und es war Wolle und es war exotisch.
Er dachte für einen Augenblick, dass es das sein musste, was seinen Bruder jeden Tag in die Ford-Werkstatt in der Stadt zog, obwohl sich Will dafür noch nie hatte begeistern können. Dort war es unsicher und erdrückend, hier war es sinnlich und er fühlte sich aufgehoben. Dort war die Welt der Höhlenmenschen mit sechs Daumen. Dies hier war die Welt mechanischer Chirurgen. Es machte süchtig und er war nach der ersten Prise ein Junkie.
Die Türglocke klingelte hinter ihm, als er und sein Vater nach innen traten. Ein weißhaariger Kopf schaute hinter einem Vorhang hervor, der zum hinteren Teil des Ladens führte.
»Wir schließen. Das war’s für heute.«
»Wir wollten nur einen Blick auf die Räder werfen. Entschuldigen Sie. Komm, Will. Sie wollen zumachen. Lass uns fahren.«
Stewart Kenally wischte sich die Hände an seinem verschmierten Overall ab, während er Will beoachtete, der vor der Reihe der Rennräder stand. Er ging zu ihm herüber und schaute ihn genau an.
»Fährst du gerne? Schnell?«
Will erwachte aus seinen Träumereien, schaute auf und stotterte: »Äähhhm, jawohl, Sir.«
»Möchtest du schneller fahren als alle anderen?«
»Jawohl, Sir.«
»Fährst du auf einem fetten alten Rad?«
»Jawohl, Sir.«
»Du brauchst ein echtes Rad.«
»Jawohl. Sir.«
Wills Vater wurde klar, dass es um sein Scheckbuch ging.
»Wir sind hier nur zum Schauen. Das ist alles ... nur schauen.«
Aber sogar Wills Vater hatte in den Augen seines Sohnes etwas entdeckt, das bis zu diesem Augenblick noch nicht dagewesen war. Sein Sohn war von etwas gefangen. Und das war stärker als alles andere und als alle anderen im Raum.
Als er nach der letzten Biegung auf eine lange Gerade eingebogen war, hätte Will schwören können, dass er das Team etwa 400 Meter vor sich gesehen hatte, wie sie in Richtung des ersten kuppierten Streckenabschnitts eingebogen waren. Wenn er sie einholen wollte, musste er es jetzt versuchen. Er nahm seine Kräfte zusammen und erhöhte das Tempo. Er trat jetzt einen großen Gang. Seit einer guten Stunde hatte er das Feld gejagt und sich, obwohl er alleine war, gut gefühlt. So sehr Rad fahren ein Mannschaftssport war, so sehr ging es darum, sich selbst zu überwinden und den Willen aufzubringen, das, was man in den Beinen hatte, auf die Straße zu bringen.
Will verlagerte sein Gewicht und fuhr vorsichtig in die Kurve, die zum ersten Anstieg führte. Jetzt konnte er die Mannschaft sehen und er griff zu seiner Trinkflasche, um ein wenig Energie zu tanken. Heute war ein guter Tag, alle Reserven waren gefüllt.
Er machte wieder Druck und merkte, wie er langsam an seine Grenzen stieß. Es war ihm so vorgekommen, als habe er noch massig zuzusetzen gehabt, aber selbst die Größten, Merckx, LeMond, Indurain, kamen irgendwann an eine Mauer, die sie nicht durchbrechen konnten – so, als täten sich Physiologie und Physik zusammen, um sie in die Realität zurückzuholen und die Gesetze der Physik auch für sie wieder gelten zu lassen. Wie ungerecht, wie unwirklich.
Will zog sein rechtes Bein an den oberen Druckpunkt der Pedalumdrehung und legte sich in eine scharfe Rechtskurve. Es hatte ihn schon immer verblüfft, dass er das konnte. Er musste in dieser Kurve eine Schräglage von 45 Grad oder mehr haben und er verlor trotzdem zu keinem Zeitpunkt die Kontrolle. Er segelte. Und jetzt musste er gleich die anderen erreichen. Noch über die nächste Kuppe, dann waren sie direkt vor ihm. Einer der neuen italienischen Wasserträger hatte Probleme mit seiner Kette und war zurückgefallen. Will nahm ihn mit und ohne ein Wort zu wechseln, bildeten sie eine Kolonne aus zwei Mann, bei der sie abwechselnd im Wind fuhren und das Tempo hoch hielten, um die Mannschaft einzuholen, ohne sich zu verausgaben.
Und die Lücke schloss sich.
Deeds war überrascht, als er Will nicht nur von hinten an die Gruppe heranfahren sah, sondern direkt an deren Spitze vorstoßen; besser gesagt, er war schockiert. Er schaute Will lange und eindringlich an.
»Nicht einschlafen, Mädels, Windkante und etwas Tempo, wenn ich bitten darf!«
Das Feld zerfiel in zwei Gruppen von je acht Fahrern, die sich sofort in die Tiefe und in die Breite staffelten, um den Seitenwind zu brechen. Der führende Fahrer nahm dem zweiten den Wind, der gleich links neben und eine halbe Radlänge hinter ihm fuhr, der dritte fuhr ebenso im Schatten des zweiten und so weiter. Sie bildeten eine rollende Wand und konnten so das Tempo deutlich steigern, vor allem für Bourgoin, der als Mannschaftskapitän weniger oft und weniger lange im Wind fuhr als der Italiener, der Will geholfen hatte, die Lücke zum Feld zu schließen.
Die nächsten zehn Minuten lang war Haven eine rollende Barrikade, eine gut geölte Maschine. Und als das Team so im stillen Einvernehmen dahinflog, merkte Will, dass ihn langsam die Kraft verließ. Von Senlis bis hierher das Loch zuzufahren, war die leichtere Übung gewesen. Er hatte sich stark gefühlt und diese überraschende Stärke genossen. Jetzt, da er die Leichtigkeit des Fahrens im Pulk hätte genießen können, spürte er die ersten Anzeichen einer Schwere in den Beinen, als fülle jemand langsam Sand in seine Waden, in seine Schuhe und in seine Oberschenkel. Er schaltete runter, um das Tempo der Mannschaft halten zu können, überschaltete und musste wie ein Wahnsinniger kurbeln, um dranzubleiben. Der Umwerfer hatte zwei Gänge übersprungen. So etwas durfte, ja konnte nicht passieren. Und doch passierte es. Und er konnte nichts dagegen tun.
Will hatte Mist gebaut. Er hatte zu viel gewollt, war zu früh zu hart gefahren. Die Jagd, bei der er zu Anfang so stark gewesen war, hatte seine Kräfte aufgezehrt und zu viel von seinen Reserven verbraucht, an die er zu lange nicht gedacht hatte. Sein Beine fingen an mit ungeheurem Feuer zu brennen. Er musste sie dehnen – nur einen Moment anhalten und die Beine dehnen. Der kraftvolle Rhythmus, den er noch vor ein paar Augenblicken gehabt hatte, war weg. Seine Oberschenkel schrien vor Schmerz. Er würde in der nächsten Stunde abreißen lassen müssen. Er versuchte Kraft aus seinen Armen zu ziehen, aus seinen Lungen, aus seinem Oberkörper. Benutze deinen Kopf, um da durchzukommen, das kann nicht ewig dauern. Und doch wusste er es. Er wusste es.
Er schaltete herunter und fuhr aus der Gruppe heraus. Er verließ seinen Platz. Er setzte sich aufrecht. Das große Experiment, die große Herausforderung war vorbei. Er hatte dem Feind ins Auge gesehen: seinem Alter, seiner Begabung, seinem Trainingszustand, seinem Selbstbewusstsein, seinem Selbstvertrauen. Er selbst war der Feind. Und der Feind hatte gewonnen.
Er hielt vor dem Fahrradgeschäft an, an dem er am Tag zuvor vorbeigekommen war. Der weißhaarige Besitzer hörte auf, das vorbeifahrende Team anzufeuern und starrte für einen langen Augenblick Will an, bevor er wieder in der Dunkelheit des Ladens verschwand.
Der Mannschaftswagen hielt neben ihm.
»Deeds hat gesagt, du sollst nach Senlis zurückfahren und deine Sachen packen. Du bist fertig.«
Ross starrte Philippe Graillot, einen unbedeutenden Team-Angestellten, fassungslos an. Wer zum Teufel bist du überhaupt, dachte er, mit welchem Recht redest du so mit mir – ich bin verdammt noch mal ein Fahrer. Ich sitze jeden Tag auf dem Rad. Egal welche Aufgabe, egal welches Wetter, ich bin da, du nicht. Du sitzt in einem verdammten Lederschalensitz und quasselst und frisst, denkst darüber nach, wie du den Weibern in der Kneipe weismachen kannst, dass du ein Fahrer bist, damit du sie abschleppen kannst, du Bastard. Wer bist du, dass du so mit mir redest, du kleiner Wurm?
Ross schaute durch das nichtssagende Gesicht hindurch, das ihm aus dem Fenster des geschundenen Peugeot entgegensah. Er zog kräftig die Nase hoch und spuckte einen fetten Batzen aus Rotz und Spucke direkt vor das Auto auf die Straße.
»Sag Deeds, dass ich nichts auszuräumen habe, du Wicht.«
»So kannst du nicht mit mir reden.« Philippe versuchte, bedrohlich zu klingen.
»Geh mir aus den Augen, oder der nächste landet dir im Gesicht. Wenn ich gefeuert bin, brauche ich ja wohl nicht mehr auf dich zu hören, oder?«
Schotter spritzte über Wills Schulter, als der Wagen mit qualmenden Reifen wieder auf die Straße fuhr, um die Mannschaft einzuholen. Will konnte sehen, wie der runde, kahle Kopf aufgeregt in das Funkgerät sprach. Deeds bekam die Nachricht übermittelt. Vielleicht hätte er auch für ihn noch ein paar passende Worte einstreuen sollen. Aber das war nicht nötig. Deeds kannte seine Einstellung, genau wie Will wusste, was Deeds von ihm hielt. Keine Geheimnisse auf beiden Seiten.
Seine Chance war vorbei. Die Würfel waren gefallen. Und trotzdem nahm ihm die Entlassung von Haven ein ungeheures Gewicht von den Schultern. Er konnte seine Sachen gepackt haben und verschwunden sein, bevor Deeds und die Mannschaft zurück waren.
Er schoss noch eine Auster in Richtung des Ladens, bereute aber schnell seine Wut. Der Besitzer nahm das Rad fahren ernst. Will nahm es nicht mehr ernst. Während er aufstieg, um zurück nach Senlis zu fahren, wusste er nicht mehr, wer Recht hatte und wer nicht.
Weniger als eine Stunde später bog er in die Zufahrt zur verfallenen Rennbahn ein. Abreißen zu lassen war immer hart, aber nach Hause zu kommen, nachdem man aufgegeben hatte, schien immer leicht – als wäre die Straße zur Hölle abschüssig, ohne Rollwiderstand und mit starkem Rückenwind.
Er stieg von seinem Colnago ab und für einen Augenblick überlegte er, das Rad auf die Straße zu feuern. Aber dann hörte er Kenally sagen, dass man nie das Rad verantwortlich machen dürfe, selbst wenn es kaputtgegangen sei. Die Schuld liege immer beim Fahrer, beim Mechaniker, beim Peloton oder bei den Kräften der Natur.
Es war eine gute Ausfahrt gewesen, auch wenn sie nur zwei Tage gedauert hatte. Eine gute Ausfahrt. Er kniete sich auf den Randstein, hielt mit seiner linken Hand das Rad am Vorbau fest und betrachtete die Winkel des Rahmens. Die Linien waren scharf und wahr und obwohl es eine neue Lackierung vertragen konnte, konnte man die Schönheit erkennen, die der Konstrukteur angestrebt hatte. Das war kein Spielzeug. Das war kein Gebrauchsrad. Das war kein Angeberrad. Das war fast eine Kriegswaffe – eine Maschine, die die Seele dessen, der im Sattel saß, zutiefst berührte, sein Herz gefangen nahm.
Und für einen Augenblick fühlte sich Will ihrer nicht würdig.
Er stand auf und ging, das Rad im Schlepptau, in das Gebäude. Er sah Tomas in der Werkstatt und drückte ihm die Maschine in die Hand. Sie gehörte jetzt ihm. Es gab nichts zu sagen. Tomas wusste es, aus Instinkt oder weil Deeds bereits frohlockend über Funk die Nachricht verkündet hatte.
Es gab nichts mehr zu tun, außer sich auszuziehen, sich zu duschen und die Hufe zu schwingen.
Will ging in die Umkleidekabine und streifte sein Trikot über den Kopf. Er hatte es nicht einmal geschafft, sich eine Radfahrerbräune zuzulegen: dunkle Arme, blasse Brust, blasse Hände mit kleinen Kreisen auf den Rücken, ein dunkelroter Nacken. Alles war noch weiß wie ein Fischbauch.
Er warf das Trikot in eine Ecke und nahm sich ein Handtuch. Hier drinnen, wo er vor der Kälte geschützt war, begann er zu schwitzen. Er rieb sein Gesicht kräftig mit einem rauhen Handtuch ab. Es fühlte sich fast wie Sandpapier an, aber auch sehr sinnlich.
Was für ein Tag.
Deeds hatte ihn rausgeschmissen und Will hatte versucht, zu gehen. Ein Assistent hatte ihm jedoch gesagt, er solle warten, bis das Team zurückkommt. Will sah nicht ein, warum er hätte bleiben sollen, also hatte er geduscht, gepackt, seine Sachen am Ausgang gestapelt, um auf ein Taxi zum Gare du Nord in Paris zu warten.
Der Assistent hatte die Taschen zurück in die Kabine gebracht. Will hatte sie wieder hinaus auf die Straße getragen. Das Taxi kam. Will und der Fahrer hatten die Taschen eingeladen, der Assistent hatte sie wieder ausgeladen, den Fahrer bezahlt und Will mitgeteilt, er habe Order, bis zum Nachmittag zu bleiben, damit man die Sache klären könne.
Will rieb sich die Augen, um den aufsteigenden Frust zu vertreiben. Was war das jetzt schon wieder für ein Spiel? Ein finaler Kopfschuss bevor man ihn gedemütigt auf die Straße jagte? Eine letzte Erniedrigung? Will war zu müde, um sich darüber aufzuregen. Er ging in das Büro des Trainers, legte seine Füße auf den Tisch und nickte sofort ein.
Tomas weckte ihn aufgeregt.
»Das musst du dir anschauen.«
Will rieb sich die Augen, stand auf und folgte Tomas schlaftrunken den Korridor hinab. Er hasste es, sich so zu fühlen, noch nicht wach, und nicht genau zu wissen, wo er war. Als er hinter Tomas stehenblieb und sah, was dieser ihm zeigen wollte, war er jedoch mit einem Schlag hellwach.
Es war Deeds, am Telefon, der sich augenscheinlich nicht gerade amüsierte. Seine Gesichtsfarbe wechselte zwischen Hellrot, Lila und schließlich Weiß. Wer immer am anderen Ende der Leitung war, nahm Deeds nicht ab, was dieser zu verkaufen versuchte. Er beschwatzte, flötete, redete sich in Rage, bettelte, flehte. Nichts zeigte irgendeine Wirkung. Ein Herr war dabei, seinen Knecht in die Schranken zu weisen. Eine wunderbare Vorstellung. Will hätte gern gewusst, an wen er die Dankeschön-Karte schicken sollte.
Jetzt hörte Deeds nur noch zu. Was immer er gesagt hatte, war auf taube Ohren gestoßen. Er hörte noch eine Weile still zu, dann legte er langsam den Hörer auf. Er vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Deeds sah im Neonlicht eindeutig grün aus.
Er schaute auf und sah Will und Tomas. Es schien, als hätte ihn alle Kraft verlassen.
Er winkte sie heran.
»Will. Komm rein und schließ die Tür.«
Will trat ein und machte leise die Tür zu. Er setzte sich in den harten Stuhl gegenüber Deeds anstatt in den gepolsterten Sessel in die Ecke. Man kann nie wissen, wann man schnell aufstehen muss.
»Wir beide haben unsere Differenzen«, sagte Deeds, »und du musst meinen Standpunkt verstehen – ich möchte gewinnen. Und wir wissen beide, dass du kein Ersatz für Colgan bist.«
»Wenn das alles ist«, sagte Will und begann aufzustehen, »dann kann ich ja...«
»Nein, Will, das ist nicht alles. Es tut mir Leid, was ich dir zu sagen habe.« Deeds holte tief Luft. Dies hier war schwer für ihn. »Es tut mir Leid, wie ich mich benommen habe. Gestern Abend die Tür abzuschließen. Dich hinterherfahren zu lassen. Die Dopingprobe heute Morgen. Ich wollte dich loswerden, egal wie.«
Deeds hielt inne. Er suchte nach Worten. Will suchte nur eine Mitfahrgelegenheit zum Bahnhof.
»Tatsache ist, dass du Teil dieser Mannschaft bist. Ob es mir passt oder nicht« – Deeds sah die Überraschung in Wills Gesichtsausdruck – »und egal, ob es dir passt oder nicht.«
»Du versuchst mir zu sagen, dass ... «
»Ich sage dir, dass wir verheiratet sind, Ross. Von jetzt an, bis zum Ende der Saison. Du kannst nicht gehen, wir haben die Option auf dich gekauft. Und ich kann dich nicht rausschmeißen – weil der Konzern sagt, dass er dich behalten will. Ich weiß nicht, welcher Plan dahinter steckt, aber auf jeden Fall gehörst du dazu. Und ich. Wir haben keine Wahl – und ab jetzt werde ich versuchen, das Beste daraus zu machen.« Er machte eine lange Pause, bevor er zum schwersten Teil seiner Ansprache kam: »Willst du das auch versuchen?«
Will dachte nach. Das hatte er nicht erwartet. Das war auch nicht das, was er wollte. Er wusste, er war so lange rechtlich an Haven gebunden, bis sie ihn freigaben. Welches Interesse hatten sie an ihm?
Der heutige Tag hatte es ihm gezeigt. Deeds. Seine Mannschaftskameraden. Alle. Er war ein Verlierer. Aber ein Verlierer mit Vertrag. Und jetzt wurde er in die Ecke gedrängt. Er hasste es, mit dem Rücken zur Wand zu stehen. Er hasste es, nein gesagt zu bekommen. Er hasste es, ins Gesicht gesagt zu bekommen, du kannst es nicht, du bist nicht gut genug, du bist nicht das, du bist nicht dies, auch wenn es stimmte. Vielleicht hatte der Vertrag ja auch sein Gutes, indem er ihn dazu zwang, noch eine Saison lang zu tun, was getan werden musste, noch eine Fahrt, noch eine Reise über den Asphalt. Vielleicht war es ein Segen, seine letzte Chance, es sich zu beweisen und es Deeds zu zeigen.
Und vielleicht war es alles auch nur egoistischer Mist.
Will seufzte, beinahe schmerzerfüllt. Er dachte an die Saison, die vor ihm lag. Die endlosen Fahrten über die Landstraßen Frankreichs, Italiens und Belgiens, durch Regen und Kälte und Schnee und tobende Fans und einem Ziel entgegen, das sie meist schon abbauten, bis er dort ankam.
Er hörte in seinen Körper hinein, befragte ihn nach den Gefühlen und der Zukunft. Er genoss die Tatsache, dass, zumindest zu diesem Zeitpunkt der Saison, ihm noch nicht die Knie wehtaten, die Hände taub waren und die Lungen stachen. Vielleicht, dachte er. Nur noch einmal. Nur um es ihnen zu zeigen und vielleicht auch sich selbst. Es war sein Ego, das sprach. Aber sein Ego hatte ihn hierher gebracht. Und vielleicht würde er noch einmal darauf hören.
Nur noch eine Saison.
Er schaute Deeds direkt ins Gesicht.
»Ich bin dabei«, war alles, was er herausbrachte, bevor er aufstand, sich umdrehte und ohne zurückzuschauen aus dem Zimmer verschwand. Deeds konnte lange Zeit mit niemandem mehr reden.
Jetzt half ihm derselbe Assistent, der schon vorher für die Dick-und-Doof-Nummer mit dem Ein- und Ausladen verantwortlich gewesen war, seine Sachen zusammenzusuchen und sie in einem Mannschaftswagen in eine der Wohnungen in der Gegend zwischen Senlis und Paris zu verfrachten, die das Team angemietet hatte. Tomas schob das Colnago auf die Straße und schraubte es auf das Dach des weißen Peugeot. Er wandte sich Will zu, der gerade die Radkleidung vom Vormittag in den Kofferraum warf.
»Wir sind jetzt seit langem Freunde, nicht wahr?« Tomas wirkte etwas unsicher.
»Natürlich«, erwiderte Will. »Und was kommt jetzt?«
»Denk immer eines, versprichst du mir das? Ich bin nur ein Bote.« Tomas griff in seine Tasche und holte ein Stück Papier hervor. Er schob es Will zu, als wäre es ein Messer.
Jetzt machte Will sich Sorgen. Er nahm den Zettel und öffnete ihn vorsichtig. Tomas’ Unsicherheit begann sich auf ihn zu übertragen. Er las die Notiz.
»Ich warte auf dich. Morgen. In Deeds’ Büro. – Kim.« Erstaunlich. Es war wie ein Messerstich gewesen. Und er hatte ihn ins Herz getroffen.