Читать книгу Tödliche Tour - Greg Moody - Страница 9
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Der Ritt an der Wand
Die Wohnung war nicht die schlechteste, in der Will je gelebt hatte. Ein Loch in Milwaukee war schlimmer gewesen. Aber diese hier war nahe dran. Sie lag in einer vergessenen Straße in einem alten Industriebezirk nördlich von Paris, westlich des Flughafens Charles de Gaulle, 20 Kilometer südlich von Senlis, ein Zimmer im ersten Stock mit einem Bett, einer Badwanne, einer Toilette, einer Kochplatte, einem Tisch, einem Stuhl und einem Telefon. Aber wenigstens war das Klo kein Loch auf dem Gang im Zwischengeschoss. Solche Toiletten hatte Will in Pariser Wohnhäusern gesehen und sich nicht vorzustellen gewagt, wie es hinter den Türen aussehen mochte. Und zum Glück gab es mit den Duschen im Velodrom keinen Grund, sich hier häufig aufzuhalten, wo man auf einem wackeligen Holzgestell über dem Abfluss balancieren musste. Von solchen Wannen mussten Kinder ihre Angst bekommen, mit dem Badewasser weggespült zu werden.
Gewöhnlich schlief er in einem neuen Haus und in einem neuen Bett schlecht, aber heute war er in weniger als einer Stunde nach dem Einzug weggetreten. Er war kurz ausgegangen, um ein Pasta-Abendessen zu sich zu nehmen und hatte sich dann sofort auf die papierdünne Matratze sinken lassen. Licht aus.
Eine Galerie von Gesichtern durchzog seine Träume, Deeds und Cheryl, Bourgoin und Cacciavillani, aber vor allem Kim und ihre Freunde, die geheimnisvollen Männer, die ihr so viel Aufmerksamkeit gewidmet, ihn auf Partys zur Seite geschubst hatten, und deren Anzüge er im Schrank gefunden hatte, nachdem er bei GelSchweiz rausgeflogen und ein paar Tage zu früh von der Lombardei-Rundfahrt zurückgekommen war. Quelle surprise! Quelle horreur! Der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass hatte überlaufen lassen.
Er wachte um sechs Uhr auf, der Uhrzeit, die er sich antrainiert hatte, außer wenn er am Abend zuvor fermentierte Getränke inhaliert hatte. An diesem Abend hatte er das nicht getan, also klingelte der biologische Wecker pünktlich.
Ein schnelles Bad, eine Abreibung mit Alkohol, ein schnell zusammengebruzzeltes Frühstück aus Eiern und Nudeln und rein in die Arbeitskleidung. Heute würde er als erster am Start stehen.
Er warf sich seinen Seesack auf den Rücken, nahm sein Rad über die Schulter und trug beides auf die Straße. Das würde an sich schon ein gutes Training sein: ein langer Gang, zwei Stockwerke Treppen, morgens und abends, mit 30 Kilo auf den Schultern. Wie machten dicke Menschen das nur? Es musste ihre Knie umbringen.
Es waren etwa 20 Kilometer zu dem verrottenden Velodrom in Senlis. Die konnte er in null Komma nichts wegstrampeln und würde wach und gut aufgewärmt ankommen.
Als er durch den Berufsverkehr im Norden der Stadt fuhr, schweiften seine Gedanken zurück zu den Träumen der letzten Nacht und dann noch weiter, über die Entfernung und über die Jahre hin zu einem Tag in Toulouse, wo er bei einem Kriterium im Publikum eine amerikanische Studentin entdeckt hatte und gespürt hatte, wie ihn auf der Stelle der Blitz traf. War es »Der Pate« gewesen, wo es hieß: »Er wurde vom Blitz getroffen«? Genau, Michael Corleone, vom Blitz getroffen. Das war es, was ihm passiert war, als er zum ersten Mal Kim Grady in der Menge entdeckt hatte, mit erdbeerblondem Haar, durch das die Sonne schien. Er hatte das Rennen gewonnen und sich dabei fast umgebracht. Aber er musste gewinnen. Er musste sich auf dem Podium zeigen. Er musste ins Ziel kommen, bevor sie anfing, sich zu langweilen und in irgendein Café ging.
Sie war nicht gegangen.
Es war ihr sogar aufgefallen, wie er sie bei jeder Runde angesehen hatte. Also hatte sie sich zum Podium durchgekämpft, hatte zugesehen, wie er ein Bouquet leicht angewelkter Rosen, 500 Francs und eine Flasche Rotwein entgegennahm, und sich an einen günstigen Platz gestellt, so dass die, die um sie herumstanden, wie ein Vorhang am Premierenabend aufgingen, und seinen Blick auf sie alleine freigaben, wie sie unwiderstehlich und umwerfend da stand.
Sie hatte ihm all dies schon am selben Abend in einem Café erzählt, wohin er sie von seinem Preisgeld zum Essen eingeladen hatte. Sie sagte ihm wie selbstverständlich, dass er keine Wahl gehabt habe. Sie hatte entschieden, dass sie ihn wollte. Sie hatte ihn beim Rennen beobachtet, seine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt und sein Schicksal in ihre Hand genommen.
»Was – das Schicksal, dein Essen von meinem Geld zu bezahlen?« »Genau«, erwiderte sie.
Das ist fantasisch, dachte er: eine femme fatale, die auf mich steht. Das Leben kann so schön sein.
Sein erstes Gefühl auf dem Podium war gewesen, dass dies ein Geschenk Gottes sei. Als sich die Menge teilte, kam er sich vor wie Moses, der das erste Mal auf Israel schaut. Wie Milch und Honig.
Warum ist das nur so schiefgegangen?
Will bog um die Ecke zum Trainingszentrum. Die Autos der führenden Fahrer standen schon da. Bourgoin. Merkel. Sogar Cacciavilani war früh da. Es war bedeutungslos, dass er mit dem Rad gekommen war, aber es gab ihm irgendwie ein gutes Gefühl.
»Hallo, Überlebender.«
Will fuhr zu Cheryl an den Straßenrand.
»Überlebender?«
»Ich habe gehört, dass Deeds sich mit seinen Bedenken nicht recht durchsetzen konnte.«
»Ja, es muss eine gute Show gewesen sein.« Plötzlich verlor er sich in ihrem Gesicht, in der Form, der Farbe und in der Zartheit. Sie schaute ihn missbilligend an und er rüttelte sich wach.
»Bild dir bloß nichts ein, du Idiot.«
»Hey, Hey... tut mir Leid. Ich war für einen Augenblick bewusstlos, aber jetzt bin ich wieder da. Gehirn ausgeschaltet. Ich nehme an, du musst ganz schön was einstecken, weil du bist, wer du bist – was du bist – eine ... « Er rang nach einem Wort, das ihn nicht wie einen vollständigen Trottel aussehen lassen würde.
»Ich glaube, du meinst: eine Frau«, sagte sie und musste dabei über seine Verlegenheit lachen. »Du hast Recht. Ich bin ein Profi. Ich kenne meinen Job und ich mache ihn gut. Aber andererseits ist es in Europa schon schwer genug, eine Frau zu sein, ohne dass man in einem Männerberuf arbeitet.«
Sie schaute sich rasch um, um zu sehen ob jemand zuhörte, wie sie ihren Gefühlen freien Lauf ließ und ihre Verletzlichkeit preisgab. Warum erzählte sie das diesem Typen, war er nicht genau so ein Pisser wie alle anderen? Nur weil er Amerikaner war? Cardinal war auch Amerikaner und ihm würde sie ums Verrecken nichts erzählen. Dieser Kerl, verdammt, das musste der Kater von letzter Nacht sein. Schlafmangel machte aus ihr einen emotionalen Idioten, der bereit war, mit jedem über alles zu reden.
»Die Frauen der Fahrer betrachten mich wie eine Art Nadelkissen und die Typen behandeln mich, als wäre das Erste, was ich im Sinn hätte, nachdem ich sie den ganzen Tag über französische Landstraßen gejagt habe, sie besinnungslos zu vögeln. Keine Chance. Ich habe zu lange zu hart um diesen Job gekämpft.«
Will hörte sich diese Rede genau an, die er in den verschiedensten Variationen schon so oft gehört hatte, seit er in Europa als Amateur angefangen hatte. Sogar er selbst hatte sie schon gehalten. Es ging dabei um den Zusammenprall zwischen dem amerikanischen und dem europäischen Ego. Auf der anderen Seite hatte ihn noch fast niemand besinnungslos vögeln wollen.
»Ich verstehe, was du meinst«, sagte er. »So, du verstehst mich. Hast du schon einmal an meiner Stelle gestanden? Ich glaube kaum.«
Die Tür, die sich so einfach vor Will geöffnet hatte, war auf einmal wieder verschlossen. Sie starrte ihn für einen endlosen Augenblick stumm an.
»Versuche heute nicht, vorne mitzufahren. Sie werden versuchen, dich kaputtzufahren, oder einfach nur warten, bis du platzt. Bleib ruhig im Feld bis du wieder deine Form gefunden hast. Konzentrier dich darauf, genau in der Mitte zu bleiben. Wenn du zu weit hinten fährst, hast du verloren, weil die Neuprofis wegplatzen und du mit ihnen hinten rausfällst. Bleib in der Mitte.«
»Ich weiß. Ich war einmal ein Profi, erinnerst du dich?«
»Nur eine Erinnerung. Du hast dich bislang nicht wie einer benommen.«
»Danke. Ich verspreche, dass ich mich bessern werde. Für Gott, Haven und das Vaterland.«
»Du kannst mich mal.«
Er hielt inne und schaute sie an. In ihren Augen brannte ein Feuer, das ihm bei der ganzen Kabbelei bislang nicht aufgefallen war. »Es tut mir Leid. Danke für den Rat.«
»Vergiss es.«
Will hörte, wie sich der Eingang zum Velodrom hinter ihm öffnete. Das war alles, was er hörte. Und doch zuckte er unfreiwillig zusammen. Er spürte, wie sich um ihn herum eine Mauer aufbaute, ein Schutz gegen jede Verletzung von außen. Als ob das möglich wäre. Als Kim Grady Ross vor Will trat, brach die Mauer mit einem Schlag in sich zusammen. Sie wusste was sie sagen musste. Sie wusste, wie sie schauen musste. Sie wusste nicht nur, wo die Löcher im Panzer waren, sondern auch, wie rostig er geworden war.
»Guten Morgen, Will. Und Sie müssen Sharon sein?« »Cheryl«, erwiderte die Betreuerin zugeknöpft.
Will war beeindruckt. Wie viel waren es – fünf Sekunden? – und schon hatte Kim Cheryl provoziert, war durch die Linien gebrochen und hatte eine kleine Granate platziert.
Kim ignorierte Cheryl und wandte sich wieder Will zu.
»Du hast die Sitzung verpasst. Deeds ist schon wieder sauer. Aber keine Angst, Will. Du bist sicher. Komm nur so schnell wie möglich wieder in Form. Machst du das? Die Mannschaft braucht dich und deine Fähigkeit, sich für den Mannschaftskapitän bedingungslos zu opfern.«
»Na so was«, sagte er sarkastisch, »solch sanfte Worte sind noch selten an mich gerichtet worden. Ich möchte nicht unhöflich sein, Kim, aber ... warum sollte dich das interessieren? Ich zahle keine Alimente, keine Unterstützung. Es gibt keine Verbindung zwischen uns. Warum sollte es dich interessieren, dass ich gut fahre?«
»Nimm es nicht persönlich, Willie. Du interessierst mich nicht, aber es interessiert mich wie du fährst. Die Mannschaft interessiert mich. Weißt du, sie gehört mir. Was du tust, wirkt sich darauf aus, wie viel ich verdiene, und wie viel ich verdiene, wirkt sich darauf aus, wie du den Rest deines Lebens verbringst: bequem, in irgendeiner Position in diesem Geschäft, oder draußen, auf deinem Hintern, als Fahrrad-Penner. Du hast einmal gesagt, dass jeder irgendwann zu dem Menschen wird, den er am meisten hasst. Du stehst jetzt an der Schwelle. Ärgere mich nicht, Will. Sonst bist du ganz schnell so ein Penner. Verpfusch es nicht.«
Sie hatte während ihres Monologs nach vorne gegriffen und hielt jetzt sein Kinn in ihrer Hand. Will erstarrte, als er spürte, wie ihr Griff fester wurde, wegschnappte und seinen Kopf zur Seite fallen ließ.
»Streng dich heute an, Will. Die Mannschaft – und dein Arbeitgeber – erwarten das von dir.«
Kim drehte sich auf dem Absatz um und lief davon. Der Geruch von Lagerfeld hing in der Luft. Cheryl schaute ihr nach, wie sie zu ihrem silbernen Mercedes ging, im Fond Platz nahm und hinter einer Wolke aus Abgas und Straßenstaub verschwand.
»Gott, was für eine Ziege. Eine Freundin von dir?« »Gewissermaßen. Meine Ex-Frau. Die Art von Frau, die einen Mann zum Trinken bringt.«
»So schön ist sie doch auch wieder nicht.«
»Es geht nicht um ihr Aussehen.«
»Ach so.«
»Ich habe drei Jahre lang mit dieser Frau zusammengelebt. Es war so, als würde man auf Nitroglyzerin-Flaschen laufen. Man wusste nie, wann eine hochgehen würde und ob dabei nicht der ganze Laden in die Luft fliegt.«
»Hört sich nach Spaß an.«
»Oh ja. Sie ist auch die einzige Frau, die ich kenne, deren Periode drei Wochen im Monat dauert.«
»Und du bist noch nicht einmal verbittert. Also, erst eine leidenschaftliche Ehe und jetzt lebst du in einem Loch in Belgien ... « »Das ist kein Loch.«
»... und arbeitest für eine Fahrradmannschaft, die dich als Anhängsel auf ihre Lohnliste gesetzt hat. Toll, Ross«, sagte sie mit einem starken Sarkasmus, »manche Leute wissen wirklich, wie man lebt. Deiner sprühenden Schlagfertigkeit zufolge gehe ich davon aus, dass du nicht wusstest, dass ihr ein großer Anteil an der Mannschaft gehört und dass sie die Mannschaft für Martin Bergalis managt.«
Will schüttelte den Kopf.
»Das dachte ich mir«, sagte Cheryl, »man sieht nicht oft eine so gute Imitation eines Basset, der gerade von einem Auto überfahren wurde.«
Will lächelte, dann fing er laut an zu lachen. Vielleicht hatten Cheryl und er gerade einen gemeinsamen Feind gefunden und der Groll der ersten Begegnungen zwischen ihnen konnte jetzt begraben werden, um den Weg für zumindest eine freundschaftliche Beziehung frei zu machen. Er konnte einen zweiten Freund neben Tomas gut gebrauchen. Es gab noch so viel zu sagen, noch so viel, was er loswerden musste. Er war an einem Punkt angelangt, an dem er mit jemand anderem als Leo reden musste, seinem Saufkumpanen in Avelgem, der nicht ein Wort Englisch verstand, wenn er nicht bis obenhin voll war.
Will wollte Cheryl gerade noch etwas sagen, als sich hinter ihm das leise Surren von Naben und Ketten und Kränzen und Krachen von Umwerfern erhob.
Die Mannschaft begann ihr Vormittagstraining durch die Landschaft im Norden von Paris. Sie würden den Verkehr blockieren, sie würden Fußgänger fast überfahren, sie würden wie ein Panzer über die Straße rollen. In Amerika würde man sie erschießen, aber hier waren sie Haven. Und sie regierten die Straße.
Cheryl schaute ihn an.
»Bleib in der Mitte. Suche deine Form.«
Er lächelte. Tausend Sprüche fielen ihm ein, aber er wusste, dass, wenn er auch nur einen losließe, sie ihm wahrscheinlich mit einer Metallstange die Knie brechen würde. Er hatte sein Leben in einer Welt der Sprüche verbracht, aber jetzt, auf einmal, wollte er damit nichts mehr zu tun haben.
Also ließ er es bleiben. Zum ersten Mal in seinem Leben ließ er es bleiben. Er schaute sie einfach nur an und sagte »Danke«.
Er stieß sich ab und schloss sich der Mannschaft an, reihte sich sanft in der Mitte des Feldes ein.
Heute lief es besser für Will, er begann seinen Rhythmus und seine Konzentration zu finden. Er hielt gut mit, übernahm Führungsarbeit, wenn er dran war, bekam wieder ein Gefühl für die Gruppe und war immer bereit, wenn Deeds wollte, dass er vorne wegsprang, um auszureißen oder um Ausreißer zu jagen. Es tat gut. Er wusste, dass es nicht immer so sein würde. Es würde Tage geben, an denen er nicht im Sattel sitzen konnte, an denen er in seiner Einsiedlerwohnung aufwachen und eine Viertelstunde brauchen würde, bis er seine Knie geradebiegen und aufstehen konnte, ohne dass ihm vor Schmerz Tränen in die Augen schossen oder er sich im Türrahmen anlehnen musste, Tage, an denen nichts und niemand ihn dazu würde bringen können, mit irgendjemandem mitzuhalten oder auch nur hinterherzufahren.
Aber heute fühlte er sich gut.
Heute gehörte er aufs Fahrrad.
Godot langweilte sich.
Er hatte seinen Bericht über den Fall Colgan vor Wochen eingereicht, zusammen mit den Untersuchungsergebnissen der Gerichtsmediziner und den Aufzeichnungen von La Sarge zu dem Draht und dem Metallstück, die sie zwischen den bloßgelegten Streben gefunden hatten. La Sarge war gut gewesen: »Die Teile, die am Tatort gesichtet und aufgefunden wurden, gehören mit einer 85-prozentigen Wahrscheinlichkeit zu einem elektronischen Sprengstoffzünder, vermutlich für Plastiksprengstoff.«
Die Tageszeitungen vergaßen das Attentat auf Colgan schon langsam. Die Berichte über die laufende Untersuchung waren auf den hinteren Seiten vergraben, versteckt in einem Wald von Kleinanzeigen. Sie schrieben noch immer, es sei eine Gasexplosion gewesen.
Von wegen Gasexplosion.
Also wartete Godot. Er wartete darauf, vom Chef der Mordkommission zu hören. Er wartete darauf, vom Leiter der Untersuchungskommission für den Fall Colgan zu hören. Er wartete darauf, vom Chefinspektor der Pariser Polizei zu hören, oder von irgendeinem der vielen Bürokraten und Politiker, von deren Urteil er abhängig war.
Ich habe keine Lösung für den Fall, dachte er. Das stört mich auch gar nicht. Ich will im Augenblick nicht einmal unbedingt den Mörder finden. Ich will nur, dass irgendwer zugibt, dass es ein Mord war. Das wäre an sich schon ein Triumph.
Sein Telefon klingelte. Godot nahm hastig den Hörer ab. »Luc.«
»Stephen. Gibt’s was Neues? Hast du was gehört?«
»Ja. Aber ... « Die lange Pause ließ Godot nichts Gutes ahnen. »Sie kaufen es nicht. Der Sekretär des Chefinspektors hat mir gesagt, dass dem Chef ein 1 5-prozentiges Risiko zu hoch ist, um einen Mordverdacht zu äußern. Vor allem, wenn es um einen der großen Rennställe Frankreichs geht, der von einem der größten Konzerne Frankreichs gesponsort wird.«
»Ein Konzern, zu dessen Vorstand er selbst gehört«, fügte Godot hinzu.
»Mmhh. Stimmt. Er sitzt drin.«
»Also hab’ ich verloren?«
»Ja, Luc. Tut mir Leid. Sie bleiben bei der Gasexplosion. Das ist einfach und sauber. Und Colgans Familie verhandelt bereits mit Gaz de France über eine Abfindung von mehreren Millionen.«
»Schön, dass sie gewartet haben. Verlangen sie auch Geld für seinen Finger? Sie standen ihm ja offenbar sehr nahe.«
»Du hast recht, da wurde keine Liebe verschwendet. Aber der Finger ist außer Reichweite.«
»Zerstörtes Beweismittel?«
»Nein«, erwiderte La Sarge prompt. »Er liegt auf dem Schreibtisch des Chefinspektors, in Kunstharz gegossen. Ich glaube, er möchte ihn als Briefbeschwerer benutzen.«
Godot legte wortlos den Hörer auf. Er war von der Abteilung in die Ecke gedrängt worden. Er mochte es nicht, mit dem Rücken zur Wand zu stehen, egal um was es ging. Es gab zwei Auswege.
Zuerst rief er einen Reporter an, der sich seit zwanzig Jahren mit Mordfällen beschäftigt hatte. Können wir uns treffen? Ich habe etwas, das dich interessieren könnte.
Und zweitens, er würde es einfach selbst in die Hand nehmen. Die Verdächtigen treffen, sie befragen, sie ausquetschen. Ohne Autorisierung.
Und er würde mit dem Mann anfangen, der Colgan ersetzt hatte.
Während der Januar verstrich, hatte Will immer mehr gute Tage. Er hatte sogar einen richtigen Schub von Energie und Enthusiasmus, als die Mannschaft sich zu formieren begann und auf die Bedürfnisse von Bourgoin und den anderen wichtigen Fahrern blind zu reagieren lernte.
Will arbeitete hart an seinen Beinen und trainierte außerdem, wenn er nach Hause kam, in seiner kleinen Wohnung seinen Oberkörper, indem er Gewichte hob und Liegestütze machte. Er dachte an Stewart Kenally, der immer gepredigt hatte, die Kraft müsse sich aus dem ganzen Körper entfalten, nicht nur aus den Beinen, sondern auch aus den Armen, der Brust, aus dem Rumpf und dem Herzen und dem Geist und der Seele.
Und an manchen Tagen war sie da, die Kraft.
Aber dann wurde er wieder an die Erkenntnis erinnert, die er vor Jahren gewonnen hatte, als er plötzlich merkte, klar und deutlich, dass er nie ein Champion sein würde. Er konnte fahren, er konnte manchmal sogar fliegen, aber er konnte nicht schnell genug fahren und nicht weit genug fliegen, um ein Champion zu sein. Champions konnten es immer. Und es hatte bei ihnen immer diese gewisse Leichtigkeit. Auch sie hatten ihre schlechten Tage und ihre Durchhänger, aber im Vergleich zu Will spielten sie in der ersten Liga, während er bestenfalls Kreisklasse war. Es gibt eine unsichtbare Mauer, die dich immer an deinem Platz hält. Wenn du sie nicht in Angriff nimmst und es nicht schaffst, sie zu durchbrechen, bleibst du immer im zweiten oder im dritten oder im vierten Glied.
Domestike.
An den Tagen, an denen die Kraft nicht da war, spukte das Wort unentwegt in seinem Kopf herum. Es waren Tage, an denen es schien, als habe sich die Kraft die man braucht, um die Kurbeln schnell und ausdauernd um sich selbst zu drehen, Urlaub genommen oder als sei sie einfach nicht aus dem Bett gekommen.
Er fuhr immer mit. Er gab nie auf. Aber er fiel dann nach drei Vierteln der Strecke aus dem Feld heraus. Manchmal ging es ganz langsam, als triebe man bei ruhiger See von einem Schiff weg. An anderen Tagen wurde er einfach weggesprengt: Eben noch mittendrin, konnte er im nächsten Augenblick gerade noch den letzten Mannschaftswagen sehen, wie er einen halben Kilometer vor ihm um die Kurve bog.
Es gab Tage, da schien es für ihn so sogar das Beste zu sein. Will kam dann zwischen zehn Minuten und einer Stunde nach den anderen im Trainingszentrum an und bis er geduscht hatte, war Cheryl mit den Mannschaftsführern fertig und bereit, sich den kleineren Lichtern zu widmen, die es nötig hatten. Mit 32 Jahren hatte Will es nötiger, als er zugeben wollte.
»Was war los?« würde sie fragen, während sie einen steinharten Muskel an seinem Rücken bearbeitete.
»Ich... konnte... einfach... daaaaaaaas Tempo nicht mehr halten. Erst ging es gut – dann ging gar nichts mehr und ich konnte sie einfach nicht mehr einholen.«
»Das kann passieren, aber du darfst deine Konzentration nicht verlieren. Wenn du anfängst im Feld zu träumen, bekommst du echte Schwierigkeiten.«
»Da haben wir ja eine echte Expertin... auuaaa.«
»Oh, entschuldige, ich vergaß, dass ja nur Männer Fahrrad fahren. Und nur Männer Rennen fahren. Und nur Männer mit 90 Stundenkilometer, den Hintern in der Luft und Jeannie Longo am Hinterrad, den Berg runterjagen. Natürlich. Hatte ich vergessen.«
»Entschuldige.«
»Das reicht nicht.« Sie grub sich fest in seine Schultern und traf einen Punkt tief im Inneren des Muskels. Will zuckte zusammen und Tränen stiegen ihm in die Augen. Er vergrub sein Gesicht in die Öffnung der Kopfstütze.
»Sag mir, wenn der Schmerz nachlässt.«
Will versuchte zwischen seinen Japsern einen Witz anzubringen: »Frag mich morgen wieder.«
Toll, dachte er. Jetzt hatte er sie nicht nur beleidigt, sondern begann außerdem, wie Beavis and Butthead zu klingen.
»Da haben wir ihn. Jetzt fängt er an, sich zu lockern.«
Er spürte, wie das Blut wieder in den Muskel strömte und wie der Schmerz, den der Griff verursacht hatte, aus der kleinen verhärteten Stelle wich.
Sie mochte ja sauer auf ihn sein, aber sie verstand auf jeden Fall ihr Handwerk. Mit diesen Händen konnte sie wahrscheinlich sein Genick brechen wie einen Zweig. Er musste lachen. Er sollte sich lieber gut mit ihr stellen.
»Tut mir Leid. Ich hatte kein Recht dazu, das zu sagen.«
»Angenommen. Tut mir Leid, dass ich es dir so heimgezahlt habe. Aber verdammt noch mal, ich hab’ mir zehn Jahre lang im Sattel den Arsch aufgerissen. Von 13 bis 23. Und alles, was ich von euch, äh ... Elitefahrern... zu hören bekomme, sind herablassende Bemerkungen. Ja. Ihr macht alles runter, was ich tue. Und das ist Scheiße. Ich könnte mit den meisten von euch im Training mithalten. Und weißt du was? Einige in der Mannschaft könnte ich schlagen. Ja, ich. Und du bist einer von ihnen.«
Sie drehte sich um und verließ den Massageraum. Will schaute ihr hinterher. Die Situation faszinierte ihn immer mehr. Da ist eine Frau, dachte er, eine Frau, die genau wusste, wer sie war und wo sie herkam und wo sie hinwollte.
Er beneidete sie.
Sie schaute ihn an, kein Lächeln, streng geschäftsmäßig. Will wachte aus seinen Gedanken auf und fand sich auf einer kalten Massagebank in einem heruntergekommen Trainingszentrum im Norden von Paris an einem frostigen Januartag wieder. Er bedeckte sich rasch mit seinem zerlumpten Trainingshandtuch.
»Wie ich schon gesagt habe, konzentriere dich. Du hast die Beine, benutze sie.«
In dieser Nacht träumte Ross von Stewart Kenally und dem Fahrradladen Two Wheels in Detroit, Michigan.
Stewart hatte seinen Vater bei dem ersten Besuch nicht dazu überreden können, ein Fahrrad zu kaufen. Er hatte fast so getan, als wolle er gar kein Rad verkaufen, aber er hatte Wills Vater davon überzeugt, in der nächsten Woche früher wiederzukommen, damit sie Zeit hatten, sich zu unterhalten und herauszubekommen, ob Will wirklich fahren wollte oder ob er nur ein glitzernd buntes Fahrrad haben wollte. Um die Verabredung zu besiegeln, hatte Stewart ihnen französische und italienische Fahrradmagazine mitgegeben.
Will hatte keine Ahnung, was in den Zeitschriften stand, aber er liebte die Bilder. Später klaute er das Englisch-Französisch-Wörterbuch seiner Schwester, um wenigstens ein paar Worte aufzuschnappen und ungefähr zu verstehen, worum es ging, aber er konnte einfach nicht herausbekommen, was dieses Paris–Roubaix sein sollte.
»Papa, schau dir das an: Sie fahren 200 Meilen im Regen und im Schlamm über Kopfsteinpflaster.«
Harold Ross schaute nicht einmal von der Kalamazoo Gazette, der lokalen Tageszeitung auf. »Kilometer. In Frankreich rechnet man in Kilometern. Ein Kilometer ist ungefähr eine dreiviertel Meile. Und sie tun so etwas einfach nur, weil die Franzosen halt so sind.«
Will wusste nicht, was sein Vater mit dieser letzten Bemerkung meinte, aber er war im Krieg dort gewesen, im großen Krieg, dem Zweiten Weltkrieg, also mußte er es wissen.
Die Fahrt zurück in Detroits Vorstadt, zweieinhalb Stunden an einem späten Samstagvormittag, gab Stewart die Antwort, die er brauchte. Wills Vater war die Woche über nach und nach weichgekocht worden, den Ausflug zu unternehmen und sein Scheckbuch einzustecken. Aber er hatte das vage Gefühl, dass er keine Ahnung hatte, was er da tat und was es ihn kosten würde. Als sie im Laden ankamen, nahm Kenally Wills Vater beiseite und schickte den Jungen los, um sich die Räder und die Ausrüstung anzuschauen. Die beiden Männer verschwanden für eine lange Zeit, um, wie Will glaubte, über Räder und Rennen zu sprechen und über die Preisschilder, die an alldem hingen.
»George – passt du für einen Moment auf den Laden auf?«, rief Stewart aus dem Büro heraus. »Ich muss eine Runde drehen.«
Kenally kam mit bestimmtem Schritt aus seinem Büro und gab Will ein Zeichen, ihm zu folgen, an der offenen Bürotür vorbei, wo Wills Vater mit blassem Gesicht saß und sich durch einen dicken Ordner mit Ausschnitten und Programmheften durcharbeitete, durch die Werkstatt mit ihren unzähligen Kisten und Schubladen, die alle Fahrradteile der Welt zu enthalten schienen, in ein Hinterzimmer, wo Stewart ein Maßband hervorholte und Will vermaß, als verkaufe er einen Anzug.
Er ging in ein anderes Zimmer und kam mit einem heruntergerittenen schwarzen Fahrrad und einem paar schwarzer Radhosen aus Wolle wieder.
»Hier – zieh die an.« Stewart hatte einen harten schottischen Akzent.
Will tat, was ihm gesagt wurde. »Welche Schuhgröße hast du?« »Sechs, Sir.«
»Von so kleinen Füßen habe ich noch nie etwas gehört«, murmelte er. Trotzdem fing er an, die Kisten mit unsortierten Fahrradartikeln zu durchwühlen, die sich im Laufe der Jahre im Hinterzimmer des Geschäfts angesammelt hatten.
»Hier, das sind die kleinsten, die ich habe. Sie sind Größe 8. Wir werden einfach die Spitzen mit Zeitung ausstopfen.«
»Fahren wir jetzt Fahrrad?«, fragte Will mit einer Mischung aus Vorfreude und Angst.
»Nicht wir. Du. Und nicht hier, sondern dort.« Er zeigte auf ein Bild an der Wand. Will schaute auf ein Beton-Oval, das an beiden Enden erhöht war. Unter dem Bild stand groß »Winterbahn«.
Innerhalb von einer Viertelstunde waren sie an der Winterbahn, die auf einem unbenutzten Acker hinter einer Lagerhalle im Norden der Stadt versteckt lag. Ein paar junge Männer von der Universität Michigan kamen gerade heraus, sodass die Bahn leer war. Das half Will, der in ungewohnten Situationen nervös war. So konnte er seine Fehler ohne Zuschauer machen. Stewart setzte ihn auf das Rad und schob ihn auf den Beton. Die Schuhe passten nicht, aber das Rad war perfekt, abgesehen davon, dass er nicht aufhören konnte zu treten. Jedesmal wenn er es versuchte, schoben ihm die Pedale die Knie wieder an die Brust.
»Es hat eine starre Nabe«, rief Stewart, als Will an ihm vorbeifuhr, der offensichtlich mit der Kurbel zu kämpfen hatte. »Sie dreht sich immer weiter – du kannst es nicht rollen lassen. Versuche nicht dagegenzuhalten um zu bremsen.«
Will hatte es schon versucht und festgestellt, dass die Pedale es einfach nicht zuließen. Moment mal, wo waren hier die Bremsen? Es gab keine Handbremsen, keine Rücktrittbremsen, keine Möglichkeit, dieses Ding anzuhalten, wenn es erst einmal in Bewegung war. Man konnte nur treten, langsamer oder schneller oder einfach den Druck wegnehmen, um langsam zum Stehen zu kommen. Oder hinzufallen. Diese Möglichkeit gab es immer.
Will fuhr ein paar Mal an der roten Linie entlang um die schüsselförmige Bahn herum und begriff, dass er nur eines tun konnte: weiterfahren, je schneller, desto besser. Dann rief Stewart: »Fahr die Kurve rauf.«
Es war unmöglich, die Kurve hinaufzufahren. Das Gesetz der Schwerkraft sagte, dass es einfach unmöglich war. Trotzdem fuhr Will bei jeder Runde ein Stückchen weiter in die 33 Grad steile Wand. Als er oben angelangt war, rauschte er aus der Kurve heraus, zurück zur Bahn und trat dabei wie ein Wilder, wie ein Mann, wie ein besessener Junge. Es gab kein Halten, kein Abbremsen, die einzige Möglichkeit, Kontrolle über sich und das Rad zu behalten, war, einfach nach vorne zu schauen und sich in die Kurve zu legen, die die Bahn ihm vorgab und die ihn sanft, aber in einem Rausch der Geschwindigkeit in die Gegenrichtung trug.
Der Fahrtwind rauschte in seinen Ohren und trieb ihm Tränen in die Augen. Er rang nach Luft. Er wollte seine Beine anhalten, aber es ging nicht, des Rades wegen aber auch seiner selbst wegen.
Das ... das ... das war das reinste Vergnügen.
Er versuchte immer wieder, das Rad rollen zu lassen, aber es erinnerte ihn sofort daran, dass es das nicht zulassen würde, indem es ihm die Knie fast ins Gesicht schlug und das Hinterrad von der Bahn abhob. Er kurbelte langsamer und spürte, wie das Rad auch langsamer wurde, langsam genug, daß er ausgangs der vierten Kurve auf der Geraden an das Geländer fahren konnte und, indem er die Hand an der Stange entlangführte, zum Stehen kam. Dann wandte er sich dem Innenraum zu und fuhr zur Startlinie, wo ein anderer Junge auf einem Rad vor Mr. Kenally auf und ab fuhr. Stewart stellte ihn als Raymond, einen anderen Rennfahrer, vor. Ich, ein Rennfahrer? dachte Will. Cool. Aber Raymond sagte kein Wort. Er blickte Will nur an, ein Blick, der ihn erschauern und sich wünschen ließ, anderswo zu sein, wenn es sein musste in der Ford-Werkstatt. Hauptsache irgendwo anders.
»Raymond wird ein wenig mit dir fahren«, sagte Stewart. »Roll schon mal los.«
Will pedalierte langsam davon, ohne zu wissen, was er zu erwarten hatte oder wie er sich darauf einstellen sollte. Das erste Zeichen, das erste, was ihn ärgerte, war, dass Raymond an seinem Hinterrad fuhr, als würde er dort kleben. Will gefiel das Gefühl nicht, dass dieser Typ ihm im Nacken saß, also fuhr er schneller, aber Raymond blieb dran, verlor nicht für einen Augenblick seine Konzentration, klebte fest an Wills Hinterrad. Zwei Runden um die Bahn waren vorbei und Will konnte sich Raymonds Griff nicht entziehen. Also fuhr er in der nächsten Kurve bis ganz nach oben und stürzte sich wieder herab. Jetzt war Raymond etwa zwei Meter vor ihm. Raymond legte ein paar Kohlen nach und Will, der zwischen Wut und Euphorie schwankte, legte auch zu und saugte sich an Raymonds Hinterrad. Was der kann, kann ich auch, dachte Will und blieb etwa zehn Zentimeter hinter Raymond, genau wie dieser es vorher getan hatte. Will merkte, dass es plötzlich leichter ging. Er fuhr schneller, als er je gefahren war, strengte sich jedoch nur halb so sehr an wie vorher.
Als sie die Linie passierten, rief Stewart: »Schneller jetzt!« und Will spürte einen Schub bei Raymond. Ohne Vorwarnung war der Sog, der ihn hinter Raymond gehalten hatte, weg und Will hing mit einem Mal ein, zwei Meter hinterher. Er mochte diesen Kerl nicht und er würde ihn nicht abhauen lassen. Will bäumte sich noch einmal auf und fuhr an Raymonds Hinterrad heran, aber viel zu schnell; er versuchte auszuweichen, versuchte zu bremsen, gegen die Pedale zu halten, aber er hatte zu schnell beschleunigt und fuhr gegen das Hinterrad.
Das reichte aus. Will wurde nach vorne gedrückt, sein Vorderrad flatterte unkontrollierbar hin und her. Und dann hob es ihn Hals über Kopf über den Lenker und er konnte nichts tun, während die harte, schwarze Oberfläche seine Schulter, seinen Kopf, sein Gesicht, sein Knie und alles andere, was sie von ihm und dem Fahrrad erwischen konnte, streifte. Seine Schulter schlug zuerst auf und er fühlte eine Explosion in seinem Genick und es war mehr als nur ein Gefühl, es war ein Geräusch wie die Nadel eines Plattenspielers, die über eine alte Schallplatte kratzte. Und dann stand er wieder.
Er hatte den Sturz abgerollt, hielt noch immer den Lenker seines Rades und stierte leer die Gerade hinab in Richtung der zweiten Kurve. Er sah, wie Raymond in die dritte Kurve bog.
Harold Ross war gerade an dem Holzgeländer angelangt, als er seinen Sohn stürzen sah. Er war aufgesprungen und fast über das Geländer gehüpft, als er sah, wie Will sich wieder aufrappelte. Er sah nach links, wo Raymond mit einem triumphierenden Lächeln um die dritte Kurve fuhr.
Als Vater hatte alles in ihm danach geschrien, über das Geländer zu springen und zu seinem Sohn zu laufen, aber er verharrte, halb auf dem Geländer hängend. Er schaute Will an und flüsterte: »Steh auf... steh auf... steh auf... «
Stewart Kenally hatte sich nicht gerührt. Er hatte den Unfall gesehen, die Rolle, hatte gesehen, wie Will mit Blut im Haar und dem Rad in der Hand aufgestanden war. Dies war nicht der Augenblick, um irgendetwas zu sagen. Dies war der Augenblick, um zu beobachten.
Will war schon wieder dabei, sein Rad anzuschieben und nebenher zu laufen. Er sprang, schwang sein Bein über den Sattel und wackelte in die Kurve, während er versuchte, seine Schuhe in die Körbchen zu zwängen. Durch Glück oder durch ein Wunder fiel sein rechter Fuß genau hinein und er spürte, wie sein Schuh in der Führung einrastete. Der linke Fuß schien nicht passen zu wollen, also ignorierte er ihn einfach. Er hatte keine Zeit zu verlieren, er verlor nur noch mehr an Boden.
Will spürte, wie sein Blut kochte und eine tiefsitzende Wut in ihm aufstieg, die er noch nie gefühlt hatte. Er warf sein ganzes Gewicht in die Pedale und schlug das Rad hin und her, um Geschwindigkeit aufzunehmen, während Raymond auf der anderen Seite geschmeidig über die Bahn pedalierte. Will trat noch fester und konzentrierte sich darauf, wie fest und wie schnell er die Pedale runterdrücken und hochziehen konnte, ohne mit dem Rad allzu sehr hin und her zu wackeln. Er bog um die dritte Kurve und sauste hindurch, ohne dabei seinen Rhythmus zu verlieren.
Raymond fuhr locker weiter. Der Abstand war groß genug und außerdem war dies ohnehin kein Rennen. Stewart hatte ihn nur gebeten, herzukommen und es wieder einmal einem Möchtegern zu zeigen. Er hatte seinen Job erledigt. Raymond richtete sich auf seinem Rad auf und nahm die Hände vom Lenker, um sich zu strecken. Er schaute nach vorne durch die Kurven zwei, drei und vier, um zu sehen, wo der Sturzpilot war, aber er konnte ihn nirgendwo entdecken. Hmm. Sein Vater musste ihn von der Bahn geholt haben. Dann schaute Raymond über die Schulter. Der Möchtegern war direkt hinter ihm, mit blutverschmiertem Gesicht und mit einem wilden Blick in den Augen.
Will raste von hinten an Raymond heran. Er hat nicht aufgepasst, dachte Will, nicht nachgedacht. Nun, hier bin ich, mein Freund, hier bin ich. Unterhalb von Raymond war kein Platz und Will wusste, dass er nach oben fahren musste, um sich neben Raymond zu schieben, und an ihm vorbeizufahren.
Aber ein Überraschungsangriff stand außer Frage, Raymond hatte ihn gesehen und er zog mit panikhafter Wucht sein Rad hin und her, um wieder das Tempo aufzunehmen, das er seit dem Sturz hatte schleifen lassen. Will beschleunigte ebenfalls und zog mit Raymond gleich. Beide Jungen rasten in wilder Hatz auf die Ziellinie zu. Diesmal nicht, dachte Will, diesmal nicht und er fing an zu schreien, fast zu heulen, während sich alles, was sich in ihm angestaut hatte, entlud – die Wut und die Enttäuschung und die Angst der ersten Runden, der Schmerz in der Schulter, die Peinlichkeit, mit einem Fahrrad – mit einem Fahrrad! – auf die Nase gefallen zu sein – und in einer tobenden Sturzflut aus ihm herausbrach, als er über die Ziellinie schoss.
Und mit einem Mal fiel alles von ihm ab.
Die Linie zu überqueren war wie das Öffnen eines Sicherheitsventils: Will spürte, wie die Kraft und die Geschwindigkeit und die pure Emotion ruhig und schnell abglitten. Er versuchte, es aufzuhalten und diesen Kraftschub festzuhalten, aber es hatte keinen Sinn. Mit jedem seiner schmerzhaften Atemzüge, mit jedem Anheben seiner Brust, mit jeder Pedalumdrehung fiel es von ihm ab und er wurde wieder zu dem Jungen, der erst vor 30 Minuten zum ersten Mal die Bahn betreten hatte. Erst vor 30 Minuten?
Als er in die nächste Kurve fuhr, war das, was ihm eben noch wie ein Rennen um Leben und Tod vorgekommen war, nur noch ein gemütlicher Landausflug mit Raymond. Die beiden fuhren still nebeneinander her, zwischen ihnen war nur das Keuchen ihrer Lungen zu hören. Schließlich schaute Raymond zu ihm herüber und sprach die ersten Worte, die Will ihn je sagen hörte: »Nicht schlecht.«
Die beiden drehten noch zwei Runden, um auszufahren und kamen dann vor Stewart zum Stehen.
»Was hältst du von ihm, Raymond?«
Raymond lächelte nur.
Stewart lächelte zurück. »Du hast Recht. Der ist in Ordnung.«
Stewart strich durch Wills Haar und betrachtete die Schnittwunde an seinem Kopf. »Das muss genäht werden und du wirst ein Haarnetz brauchen«, sagte er. »Wir müssen das Gehirn, das übrig ist, in deinem Kopf behalten – du wirst es brauchen.« Dann schaute er über den Rand der Bahn. Will folgte seinem Blick und sah seinen Vater, der mit rotem Kopf auf dem Geländer saß.
Stewart lächelte noch einmal und sprach, diesmal zu Wills Vater. »Es tut mir Leid ihnen das sagen zu müssen, aber ich denke, sie sollten sich darauf vorbereiten, so etwas öfter zu erleben – ich glaube, wir haben hier einen guten Fahrer gefunden.«
Wills Augen sprangen auf. Er hasste es, so aufzuwachen, plötzlich und ohne die geringste Chance, wieder einzuschlafen. Normalerweise passierte das nur, wenn er unter Druck stand, etwa in der Nacht vor einem Rennen. Aber jetzt wusste er nicht, warum, vielleicht einfach nur so. Morgen würden die Aufstellungen für die ersten Trainingsrennen der Saison bekanntgegeben, den Étoile de Besssèges, die Ruta del Sol und die Mittelmeer-Rundfahrt. Insgesamt 21 Fahrer würden teilnehmen, einer würde sich als Reserve bereithalten und einer würde einfach weiter trainieren. Das werde wohl ich sein, dachte Will, also warum soll ich mich aufregen?
Er drehte sich um und schaute auf die Uhr, die ihm seine Großmutter vor 25 Jahren geschenkt hatte. Sie hatte viel mitgemacht, aber sie tickte noch. Es war halb sechs. Er setzte sich auf die Bettkante, rieb sich die Augen, stand auf und ging ans Fenster, um die ersten grauen Streifen am Horizont eines Wintermorgens in Frankreich zu sehen.
Was war mit dem Jungen auf der Winterbahn nur passiert, wunderte er sich. Was war mit dem Jungen passiert, der mit seinem Kopf und seinem Herzen gefahren war, und nicht nur mit seinen Beinen?
Er rieb sich noch einmal die Augen. Er wusste es nicht. Aber zum ersten Mal seit vier Jahren interessierte ihn die Antwort.