Читать книгу Kleine Geschichte der antiken Komödie - Gregor Maurach - Страница 11
„Die Wolken“
ОглавлениеSind der Paphlagonier und der Wurstler in den „Rittern“ aus Alltags-Widerlingen hinauf potenzierte Popanze, so erwacht in den „Wolken“ vor uns auf der Bühne mit lautem „Au weh“ ein ganz gewöhnlicher, aus dem Leben gegriffener Athener, ähnlich dem Winzer aus Acharnaí. Er befindet sich in einer besonderen Lage, in der sich aber wohl viele Väter damals befanden: Er wälzt sich morgens noch vor dem Hahnenschrei schlaflos vor Sorgen, die Diener schnarchen noch, obschon es Zeit wäre, das Licht zu bringen. Aber den Lampen fehlt das Öl – das war früher alles anders (43)! Damals und heute, es wird noch mehr solcher Kontraste in dem Drama geben: Stadt und Land (man erinnere sich an die Sehnsucht des Bauern nach dem Lande in Acharner 32), Drinnen und Draußen, Arbeit und Faulenzen, Alt und Jung und vor allem: Zufriedensein mit wenigem wird gegen ewig mehr begehrendes Wohlleben gestellt sein. Der Krieg ist schuld, er hat alles verändert. Unser Mann wird von Schulden geplagt, denn der Sohn gibt Unsummen für seinen Pferdesport aus. Wie war es doch früher ruhig, klagt der Alte, als er noch auf dem Lande lebte, noch ohne sein vornehmes Luxusweibchen aus der Stadt (47). Nein, die Dinge müssen anders werden, der Sohn muss bei den klugen Köpfen nebenan lernen, wie man Schuldansprüchen entgeht. Das sind tiefe Denker, die bei Sokrates subtile Sachen erforschen (94ff.): Die werden helfen können.
Sokrates – ein Wort dazu, dass der große Mann in den „Wolken“ schlecht wegkommt. Der Sokrates des Aristophanes betreibt Naturkunde, was er bei Platon nicht tut. Wohl aber lässt Platon ihn im „Phaidon“ (96 a 7 ff.) erzählen, dass er in seinen jungen Jahren unter dem Einfluss des Anaxagoras solches tat. Man wird den Philosophen der „Wolken“ missverstehen, wenn man in ihm ein gehässiges Zerrbild sieht. Vieles von dem, was der Sokrates der „Wolken“ sagt und tut, ähnelt dem, was der reale Sokrates tat und sagte;9 Aristophanes hat ihn wiedererkennbar gemacht. Aber zugleich muss er für die gesamte Sophistik seiner Zeit herhalten, von der man nicht ohne Berechtigung sagen kann, dass sie (ob sie es nun wollte oder nicht) die traditionellen Wert- und Göttervorstellungen und dazu die herkömmliche Erziehung in Frage stellte. Die Behandlung, oder auch: Misshandlung des Sokrates zeigt, mit welcher Skepsis und mit welchem Abscheu manch ein Nachdenklicher den neuen Strömungen begegnete.10
Der Sohn soll also bei dem so gearteten Sokrates das Rechtsverdrehen lernen, doch der Sprössling verdrückt sich, und so geht Strepsiades selber hin, um seine missliche Lage zu „drehen“ (das bedeutet sein Name, vgl. 434 und 1455). Zunächst führt ein Schüler den Alten in die Mysterien der Naturerforschung ein, doch auf jede der wundersamen Erkenntnisse reagiert der Alte dem Schüler und bald darauf dem Meister selbst gegenüber in ganz inadäquater Weise. Wenn da zum Beispiel ein paar Figuren tief gebeugt in die Erde hinabschauen und, wie der Schüler erklärt, „das unter der Erde“ erforschen, nimmt der praktisch denkende ehemalige Bauer sogleich an, die suchten nach Trüffeln (184ff.), und so geht es weiter.11 Oben war von Antithesen die Rede. Eine der stärksten ist die zwischen einem auf die Ursachen gerichteten Fragen (so zerwitzelt es in den „Wolken“ auch erscheinen mag) und dem ganz anderen, praktischen Sich-Auskennen in den Realitäten. Im Folgenden erinnert Strepsiades immer wieder die Belehrenden an sein eigentliches Anliegen, die Tricks der Zahlungsverweigerung (167, 434ff. usw.), doch davon ist wenig die Rede, vielmehr erschüttert ihn die Leugnung des Sokrates, dass es Götter und einen Zeus gebe (226, 246, 380 usw.). Dies Credo12 bekennt Sokrates nun auch vor dem Chor der Wolken, der mit einem herrlichen Lied hereinwallt (275ff.). Sokrates betet zur Luft, zum Äther und zu den Wolken als Gottheiten. Später (380) wird er dann über ihnen den „Dinos“, den Wirbel, ansetzen, was als Parodie der damaligen naturphilosophischen Suche nach dem Ursprung von Bewegung gelesen werden mag. Einstweilen erklärt er, dass es die Wolken seien, die Klug- und Schlauheit verleihen (317f.), und diese letztere erscheint dem Schuldengeplagten denn auch besonders begehrenswert (320 ff.). Die Wolken versprechen, dass er bei Sokrates ein schlauer Rechtskenner werden würde (466ff.).
Nun beginnt die Lehrzeit, doch erneut reagiert der Alte auf alle Lehrversuche falsch, so zum Beispiel auf den echt sokratischen Versuch, dem Gegenüber zur Selbsteinsicht zu verhelfen.13 Sokrates geht mit dem neuen Lehrling ins Haus und gibt sich alle Mühe, während der Wolkenchor sein Parabasenlied14 singt, in dem der Dichter stolz bekennt, er peile nicht seichte Effekte an, sondern seine Komödie „komme ihr selbst und den Worten vertrauend daher“. Er sagt: „So bin ich als Dichter, aber prunken will ich nicht“, wohl aber lobt er sich, denn immer Neues bringe er und Mutiges (544ff.). Und doch habe man ihn bei der Beurteilung der „Ritter“ schlecht bewertet, die „Wolken“ aber seien nun sein „schlaustes Stück“ (522).15
In der Zwischenzeit hat Sokrates den alten Mann versucht zu belehren, umsonst: Beim Atem, beim Chaos, beim Äther, so schwört er, nie habe er einen Dümmeren mit einem kürzeren Gedächtnis erlebt! Alle Unterrichtung über Metrik, Grammatik und derlei mehr fruchte nichts; und Strepsiades ärgert sich, dass er nichts übers Rechtsverdrehen erfahren habe (738 f.). Kein Wunder, Sokrates ist solchen platten Alltagsdingen viel zu weit entrückt (740 zum Beispiel), und der Alte kommt, wenn er an eine Lösung seiner Not denkt, nur auf Groteskes (780ff.: Gefragt, wie er sich das Entkommen aus der Schuldverpflichtung vorstelle, antwortet er, er werde sich halt umbringen). Da hat der Wolkenchor ein Einsehen und heißt den Vater, seinen Sohn statt seiner lernen zu lassen, und rät dabei dem Sokrates, sich einen solchen Fang nicht entgehen zu lassen (804ff.). Man fragt sich mit einiger Spannung, wie das wohl ausgehen werde.16 Die hehren Wolken geraten hier ins Profitliche hinab! Der Sohn kommt, und nun kippt der Vater das Halbwissen, das er sich angeeignet, über dem Sohne aus, verdreht dabei in belustigender Weise aber alles, und so geht denn am Ende der Sohn in die Denkerschule, um „die stärkere und die schwächere Rede“ zu erlernen (882f., man erinnert sich an 113), also das, woran der Vater scheiterte.
So angekündigt, treten – während Sokrates drinnen den Sohn Pheidippides (ausgerechnet „Der an Pferden spart“ ist sein Name) belehrt – zwei solcher „Reden“ auf, im Grunde Vertreter zweier unterschiedlicher Erziehungsweisen. Es entspinnt sich ein an Epicharm gemahnender Wettstreit („Agón“),17 wobei die „rechte Rede“ die konservative, die „schlechte Rede“ die moderne Denkweise repräsentiert, dies nun aber nicht in abstrakter und dogmatischer, das heißt ganz unlustiger Weise, sondern immer ins lächerliche Extrem fallend. Die „rechte Rede“ fordert (961ff.), man müsse die altehrwürdigen Texte auswendig lernen und sich sittsam benehmen, und dies bis zu dem Exzesse, dass ein Knabe, der auf Sand gesessen, den Abdruck seines Hinterbrötchens verwischen müsse, um die homophilen Männer nicht zu reizen (975)! Man müsse die Alten ehren, sich abhärten und die Mädchen meiden: So werde man „ganz marathonisch kraftvoll und kriegstüchtig, anders als die verweichlichend falsche Erziehung, die der Lust nachgeht, das Schöne hässlich und das Hässliche schön nennt bis hin zum lustvollen Liebesabenteuer“ (997). Die „schlechte Rede“ widerspricht stracks, lobt die Fähigkeit, allem geltenden Recht zu widersprechen (1040), und liefert gleich ein Beispiel, indem sie die „rechte Rede“ nach Strich und Faden zerpflückt, und kommt dann, indem sie sich Pheidippides zuwendet, zu dem Aufruf: „Nutze Deine Kraft, spring’, lach’ und halt’ nichts, was Spaß macht, für hässlich“ (1078, vgl. Thukydides 3, 83). Die „rechte Rede“ macht sich geschlagen davon, die „schlechte“ und der Sohn verschwinden mit vollem Einverständnis des Vaters im Denkerhaus.
Der Chor warnt: „Geh’ nur, ich fürchte aber, du wirst es noch bitter bereuen!“ (1114). Während der Chor noch die Richter um den Sieg für das Drama bittet, erscheint Strepsiades in 1131 mit einem Sack Mehl auf dem Rücken zum Lohn für Sokrates und singt, nachdem Sokrates ihm versichert hat, dass der Sohn „gelernt“ habe (1150), ein Jubellied: Nun sei der Schrecken bald vorüber. Man kennt solche Jubellieder kurz vor dem Untergang aus der Tragödie.18 Wie ein tragischer Held hat auch Strepsiades sein Schicksal selbst entschieden: Falsches Selbstbewusstsein hat er sich angeeignet und damit gewappnet, schickt er nun hohnlachend einen Gläubiger nach dem anderen mit leeren Händen fort, um dann zufrieden mit dem Sohn, dem er’s gezeigt hat, wie man’s macht, ins Haus zu gehen. Der Chor weiß, was geschehen wird.19 Und in der Tat kommt der Vater mit dem Sohne zeternd aus dem Haus gerannt, der schlaue Sprössling hat den Umsturz aller Werte gelernt und den Vater samt der Mutter tüchtig durchgewalkt. Jetzt wird der Alte zu der Einsicht gebracht, er habe selber Schuld, ähnlich dem tragischen „Nun erst sehe ich ein!“20 Er kehrt zur alten Art und Religion zurück, aber auch dies in ganz verkehrter Weise: Statt alle Schuld bei sich zu sehen, zündet er dem Sokrates seine Denkerbude an.
Die „Wolken“ sind im Unterschied zu den „Acharnern“ und „Rittern“ ein facettenreiches und dazu ein zweischichtiges Stück. Zweischichtig, weil an der Oberfläche eine geradezu miese Handlung abläuft, die, von Strepsiades vorangetrieben, auf seine von ihm selbst verschuldete Katastrophe zusteuert und mit einem ebenso miesen Racheakt endet. Denn Sokrates hat ja an der Niederlage des Alten wenig Schuld21 und wird dennoch hart geschädigt, obschon seine anklingende Kunst, Menschen zur Selbsterkenntnis zu führen, hier dringend notwendig gewesen wäre. Die zweite Ebene liegt „unter“ dieser Oberfläche, liegt im Inneren des Vaters. Er hat Geld- und Erziehungssorgen, dann verfällt er, als er sich an die falschen Lehrmeister wendet, in intellektuelle Notlagen und vermag nicht, sich zu einer Gründe und Ursachen suchenden Geisteseinstellung aufzuschwingen (woraus ergötzliche Inadäquatheiten entspringen), und wird am Ende in bitterste Enttäuschung gestürzt, ja vom Sohn verprügelt, obschon der Chor gewarnt hatte. Und er weiß am Ende auch, dass all das seine ganz eigene Schuld ist. Unter der erheiternden Oberfläche liegt also eine gewiss auch heiter gefärbte, eigentlich aber bittere Schicht inneren Geschehens und leidvoller Seelenzustände. Diese Schicht hat eine geradezu tragödiengleiche Struktur. Facettenreich ist das Drama zu nennen, weil das eben Beschriebene von allerlei Beiwerk umflochten ist, so zum Beispiel vom Agon der beiden Reden und darunter liegend von einer ständig spürbaren Antithetik22: Stadt und Land, Vordem und Jetzt, Alt und Jung, Philosophie (oder was von ihr beim Zerspielen übrig bleibt) und eng praktisches Denken.
Strepsiades ist kein Popanz mehr wie in den „Rittern“, auch kein anfänglich „normales“, sich dann aber zum Starken Hans aufschwingendes Wesen, er ist ein einfacher athenischer Bürger, der unter dem Kriege und unter der modernen Unbotmäßigkeit von Sohn (und Dienerschaft) und einem Leben leidet, das nicht eigentlich seines ist, dann, rettungslos überfordert, sich eine phantastische Abhilfe ausdenkt, am Ende aber bar aller Illusionen hart auf den Boden der Realität zurückstürzt. Schmerzhaft wird er nach böser Irrfahrt wieder zu dem, was er eigentlich ist: ein attischer Bauer (1457). Nahe der Tragödie, ist dieses Drama ein „sehr komplexes dichterisches Gebilde“, wie Lesky (1993, 489) schrieb, komplex nicht zuletzt dadurch, dass es sehr viel mehr vom Menschen als Menschen zeigt als die Stücke bisher.