Читать книгу Lipstick Traces - Greil Marcus - Страница 10

MITTLERWEILE

Оглавление

erhoben zahllose neue Gruppen öffentlicher Stimmen unmögliche Ansprüche, und die Sex Pistols gerieten in ganz Großbritannien unter Beschuss. Während einer im Namen des öffentlichen Anstands, ja sogar der öffentlichen Sicherheit geführten Kampagne verboten die Behörden ihre Konzerte; Ladenketten weigerten sich, ihre Platten in ihr Sortiment aufzunehmen. EMI, die erste Plattenfirma der Sex Pistols, nahm »Anarchy in the U.K.« vom Markt, als die Platte gerade ihr Publikum erreichte; nach dem vom Fernsehen übertragenen »Fuck«, das Declan McManus so viel Spaß gemacht hatte, ließ die Firma sie fallen, rief die Platten zurück und schmolz sie ein. Patriotische Arbeiter weigerten sich, die Nachfolgesingle »God Save the Queen« herzustellen, eine dreiminütige Randale gegen das silberne Krönungsjubiläum von Elizabeth II.; A&M, die zweite Plattenfirma der Band, vernichtete die wenigen gepressten Exemplare. Als Virgin, das dritte Label der Sex Pistols, die Platte endlich veröffentlichte, wurde »God Save the Queen« aus den BBC-Charts gestrichen und stand als weißer Fleck an der Spitze der Hitparade, was zu der bizarren Situation führte, dass die beliebteste Schallplatte des Landes illegal war. Die Presse schürte eine moralische Panik, um ihre Auflagen zu steigern, doch bald gewann die Panik durchaus reale Züge: Im Parlament wurden die Sex Pistols als Bedrohung der britischen Lebensart angeprangert, von Sozialisten als Faschisten, von Faschisten als Kommunisten beschimpft. Man griff sich Johnny Rotten auf der Straße und schnitt ihn mit einem Rasiermesser, ein anderes Bandmitglied wurde gejagt und mit einer Eisenstange malträtiert.

Die Gruppe selbst war verfemt. Ende 1975, als die Sex Pistols zum ersten Mal in Erscheinung traten, sich in das Konzert einer anderen Band drängten und so taten, als seien sie die Vorgruppe, zog man nach zehn Minuten den Stecker raus; jetzt mussten sie, um in der Öffentlichkeit zu spielen, heimlich auftreten, unter falschem Namen. Die Leere des von ihnen erschlossenen Terrains – die zahllosen neuen Stimmen von unten, die Häufung der Schmähungen von oben, der Kampf beider Seiten um die Kontrolle dieses plötzlich freien Terrains – hatte sie zur Selbstzerstörung getrieben, in das jedem nihilistischen Lärm eigene Schweigen.

Diese Möglichkeit hatte von Anfang an bestanden … eine der Gassen, die von der offenen Straße wegführten. Im Herzen der Sex-Pistols-Musik gähnte ein schwarzes Loch, die mutwillige Lust an der Zerstörung von Werten, mit denen sich niemand anfreunden konnte, und vielleicht war Johnny Rotten deshalb von Anfang an der einzige wahrhaft furchterregende Sänger, den der Rock ’n’ Roll je erlebt hat. Doch der Schrecken nahm gegen Ende eine neue Gestalt an: Zweifellos hat noch keiner bis auf den Grund von »Holidays in the Sun« geblickt, und wahrscheinlich wird es auch keiner je tun.

Angefangen hatten die Sex Pistols, als verfolgten sie ein Projekt; in »Anarchy in the U.K.« verdammten sie die Gegenwart, in »God Save the Queen« die Vergangenheit so heftig, dass ihr Fluch die Zukunft gleich mitriss. »NO FUTURE« …

NO FUTURE

NO FUTURE

NO FUTURE FOR YOU

NO FUTURE

NO FUTURE

NO FUTURE

NO FUTURE FOR ME

… so lautete der ätzende Chorus am Ende des Songs. »No future in England’s dah-rrrreeming!«: Englands Traum einer glorreichen Vergangenheit, wie ihn die Queen verkörperte, die »Idiotin« (»moron«), zentrale Touristenattraktion des Landes, Stütze einer auf nichts basierenden Wirtschaft, Balsam für den kollektiven Phantomschmerz Englands nach dem Verlust des Empire. »We’re the future«, schrie Johnny Rotten und hörte sich mehr denn je wie ein Verbrecher, ein entflohener Geisteskranker, ein Höhlenmensch an … »Your future«. Die Sex Pistols waren von der Presse als Vorboten einer neuen Jugendbewegung gefeiert worden; mit »God Save the Queen« stritten sie dies ab. Jede Jugendbewegung stellt sich als Darlehen auf die Zukunft dar und versucht, es vorzeitig einzulösen, aber wenn es keine Zukunft gibt, sind alle Darlehen gestrichen.

Die Sex Pistols wollten mehr sein als ein Stichwort in der nächsten überarbeiteten Ausgabe eines soziologischen Nachschlagewerks über Jugendkulturen im Nachkriegsgroßbritannien. Was dieses »mehr« war, hätte man vielleicht einem Textfragment auf der Hülle von »White Riot« / »1977« entnehmen können, der ersten Platte der Clash: »Es gibt eventuell eine gewisse Spannung in der Gesellschaft, wenn vielleicht überwältigender Druck die Industrie zum Stillstand oder Barrikaden auf die Straßen bringt, Jahre nachdem die Liberalen diese Vorstellung als ›antiquierten Romantizismus‹ verworfen hatten«, schrieb ein ungenannter Mensch zu einem ungenannten Zeitpunkt, »dann erfindet der Journalist die Theorie, es handele sich dabei um einen Generationskonflikt. Jugend ist schließlich kein permanenter Zustand, und ein Generationskonflikt stellt für die Regierungskunst keine so fundamentale Gefahr dar wie ein Konflikt zwischen Herrschern und Beherrschten.«

Vielleicht ging es den Sex Pistols also um einen Konflikt zwischen Herrschern und Beherrschten. Als Nummer zwei der Londoner Punk-Bands hatten die Clash immer die Aufgabe, den Rätseln der Sex Pistols einen Sinn zu geben, und dieses Zitat klang durchaus sinnvoll … allerdings brauchte man sich »God Save the Queen« nur ein einziges Mal anzuhören, und jeder Sinn war dahin.

Der verzehrende Abscheu in Rottens Stimme (»We love our Queen / We mean it, man / God save« – damit endete dieser Vers), die grelle Unversöhnlichkeit der Musik waren so intensiv, dass sie Unversöhnlichkeit zu einem alles umfassenden neuen Wert schlechthin machten; allein wie »God Save the Queen« klingt, lässt an Forderungen denken, die keine Regierungskunst je erfüllen könnte. »God save«: Die Betonung deutete an, dass es keine Rettung gab. Ein Gitarrenlick riss den Song und jeden, der ihn hörte, entzwei.

Was blieb? Vielleicht Mummenschanz: Mit »Pretty Vacant«, ihrer dritten Single, waren die Sex Pistols aus seit Jahrhunderten erkalteten Gräbern als Lollarden wiederauferstanden, Verkünder der uralten britischen Ketzerei, die Arbeit mit Sünde gleichsetzte und beide verwarf. Arbeit ist laut Bibel Gottes Strafe für die Erbsünde, doch in der Bibel der Lollarden stand das nicht. Sie sagten, Gott sei vollkommen, Menschen seien Geschöpfe Gottes, also seien Menschen vollkommen und könnten nicht sündigen, außer gegen ihre eigene vollkommene Natur, indem sie arbeiteten, indem sie ihre gottgegebene Autonomie der Herrschaft der Mächtigen opferten, der Lüge, die Welt sei für etwas anderes als das eigene Vergnügen geschaffen. Im vierzehnten Jahrhundert war das ein gefährlicher Glaube, in einem Popsong des zwanzigsten Jahrhunderts klang diese Idee eher seltsam, aber da war sie nun einmal, und wer weiß, welche verschütteten Wünsche daraus sprachen?

»Wir hatten keine Ahnung, dass es sich so rasch ausbreiten würde«, gestand Bernard Rhodes, 1975 einer von Malcolm McLarens Mitverschwörern in der Sex-Boutique, später Manager der Clash. »Wir hatten kein Manifest. Wir hatten kein Regelbuch, hofften aber … Ich dachte daran, was mir Jackie Wilsons ›Reet Petite‹ gegeben hatte, die erste Platte, die ich mir kaufte. Mir musste keiner erzählen, worum es dabei ging, ich wusste es … 75 hörte ich Radio, irgendein Fachmann brabbelte über das, was 1979 passieren würde, wenn es 800 000 Arbeitslose gäbe, während ein anderer sagte, dann entstünde Chaos, es würde auf den Straßen regelrechte – Anarchie geben. Das war die Wurzel des Punk. Das wusste man.«

Sozialisten wie Bernard Rhodes wussten es; es war nie so richtig klar, was Malcolm McLaren oder sein Partner Jamie Reid – bevor sie die Sex-Boutique aufmachten, anarchistischer Verleger und Plakatmaler – zu wissen glaubten. Als »Pretty Vacant« im Juli 1977 veröffentlicht wurde, gab es in Großbritannien die unvorstellbare Zahl von einer Million Arbeitslosen, ein gesellschaftliches Faktum, mit dem sich die Punkband Chelsea auf ihrer Protestsingle »Right to Work« beschäftigte. Doch Johnny Rotten hatte die Sprache des Protests nie gelernt, mit der man zu seinem Recht kommen wollte, indem man die Macht um etwas anfleht und durch den Akt des Sprechens legitimiert: Darum ging es nicht. In »Pretty Vacant« beanspruchten die Sex Pistols das Recht, nicht zu arbeiten, und das Recht, sämtliche dazugehörigen Werte zu ignorieren: Beharrlichkeit, Ehrgeiz, Frömmigkeit, Sparsamkeit, Ehrlichkeit und Hoffnung, die Vergangenheit, zu deren Abgeltung Gott die Arbeit erfunden hatte, die Zukunft, die mittels Arbeit aufgebaut werden sollte. »Your God has gone away«, euer Gott ist verschwunden, wie Johnny Rotten bereits auf »No Feelings«, der B-Seite der ersten, eingeschmolzenen Pressung von »God Save the Queen« gesungen hatte, »Be back another day«. Verglichen mit Rhodes’ Soziologie redete Johnny Rotten in fremden Zungen. Es gab eine Million Arbeitslose, und da saßen die Sex Pistols in Hauseingängen herum, putzten sich heraus und kotzten die Worte aus: »We’re pretty / Pretty vacant / We’re pretty / Pretty vacant / We’re pretty / Pretty vacant / And we don’t care.« Das war ihre bis dato lustigste Platte und ihre professionellste. Sie klangen eher nach Beatles als nach Verkehrsunfall, doch Johnny Rotten sang sich beim letzten Wort die heraushängende Zunge wund; wie bei den früheren Singles entlockte »Pretty Vacant« dem Zuhörer Gelächter, um es ihm dann wieder in die Kehle zurückzustopfen.

Das war also das Projekt: Gott und der Staat, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Jugend und Arbeit, all das hatten die Sex Pistols bereits hinter sich, als sie auf das Ende ihres ersten und letzten Jahres in den Charts zusteuerten. Nun blieb nur noch »Holidays in the Sun« übrig: ein wohlverdienter Urlaub, wenn auch mit geopolitischem und welthistorischem Hintergrund, der mehr Terrain verschluckte, als die Sex Pistols je betreten, und mehr Jahre, als sie auf der Erde zugebracht hatten.

Lipstick Traces

Подняться наверх