Читать книгу Lipstick Traces - Greil Marcus - Страница 9

EIN ZWANZIGJÄHRIGER

Оглавление

steht vor einem Mikrofon, erklärt sich zu einem alles verzehrenden Dämon und macht dann alles um sich her nieder … legt es in Schutt und Asche. Den Ansprüchen der Gesellschaft verweigert er sich mit Gelächter, und mit einer Vokalverschiebung, so gewaltsam, dass sie pure Freude auslöst, zieht er seiner Gesellschaft die Geschichte unter den Füßen weg. Die Früchte westlicher Zivilisation reduziert er auf eine Reihe von Guerilla-Abkürzungen, die grüne und liebliche Insel England zu einem Häuserblock Sozialwohnungen. »Unsere Architektur ist so banal und destruktiv für den menschlichen Geist, dass einen bereits der Gang zur Arbeit in Depressionen stürzt. Die Straßen sind schäbig, eklig und müllbedeckt, der Beton fleckig vom Regen und graffitibeschmiert, die Treppenhäuser der Experimente sozialer Ingenieurskunst von Scheiße, Junkies und Graffiti übersät. Niemand verlässt sein Zimmer. Es gibt keinerlei Gemeinschaftsgefühl, weshalb alte Leute verzweifelt und einsam sterben. Die Lebensqualität ist gesunken« – das stammt nicht von Johnny Rotten aus der Zeit, als er 1976 »Anarchy in the U.K.« aufnahm, sondern von »Saint Bob« Geldof (der als Organisator einer Kampagne von Popmusikern gegen den Hunger in Afrika 1986 beinahe den Friedensnobelpreis bekommen hätte), der damit die Gesellschaftskritik von »Anarchy in the U.K.« 1985 wiederholte. Genau das sagte dieser Song, zu einem bissigen Eintopf zusammengekocht … bloß dass es nicht weinerlich klang, wenn ihn die Sex Pistols vortrugen, sondern sardonisch-vergnügt.

Is this the em pee el ay

Or is this the yew dee ay

Or is this the eye rrrrrr ay

I thought it was the yew kay

Or just

Another

Country

Another council tenancy!

Es war der Sound der einstürzenden Stadt. Aus dem wohlüberlegten, beabsichtigten Lärm, in dem die Worte sich so überschlugen, dass man sie kaum auseinanderhalten konnte, hörte man, wie gesellschaftliche Fakten zerfielen; wenn Johnny Rotten seine Rs rollte, klang es, als hätte er nadelspitz zurechtgefeilte Zähne. Dieser Code musste nicht entschlüsselt werden: Wer kannte schon die MPLA, und wen kümmerte es? Die Welt kurz und klein schlagen, das klang nach Spaß. Es hörte sich nach Freiheit an. Es war die Freiheit, zur Feier der Nachricht, in San Diego habe ein junges Mädchen namens Brenda Spencer in ihrer High-School um sich geschossen und drei Menschen getötet, weil sie keine Montage mochte, einen Song zu schreiben – wie es Bob Geldof tat.

»I Don’t Like Mondays« war ein Hit; in den USA hätte er die Nummer Eins werden können, wäre nicht Brenda Spencers Recht auf ein faires Gerichtsverfahren dazwischengekommen. Zu schade … stand ein Song wie »I Don’t Like Mondays« nicht für alles, was »Punk« ausmachte, wie man die von den Sex Pistols hervorgebrachte, vermutlich nihilistische Musik nennen sollte? Aber was machte sie aus? Im Verlauf eines Interviews klingt Geldofs Version von »Anarchy in the U.K.« ebenso wie die Erklärungen, die Johnny Rotten 1976 und 1977 für Interviewer parat hatte, völlig rational. Aber auf Schallplatte erinnern einen sowohl Fleischfresser Johnny als auch Saint Bob an die Worte des Surrealisten Luis Buñuel; der nannte, wie die Filmkritikerin Pauline Kael schreibt, »einmal diejenigen, die Un Chien andalou lobten, ›jenen Haufen Kretins, die den Film schön oder poetisch finden, obwohl er im Grunde genommen ein verzweifelter und leidenschaftlicher Aufruf zum Mord ist‹«.

Es geht um Nihilismus … doch »Anarchy in the U.K.« war, wie ein Fan gern glauben möchte, etwas anderes: eine Farce zum Zwecke der Negation. »›Anarchy in the U.K.‹ ist ein Ausdruck von Selbstbestimmung, von höchster Unabhängigkeit, von Die-Dinge-selbst-in-die-Hand-nehmen«, sagte Malcolm McLaren, der Manager der Sex Pistols, und was immer das heißen mochte (was selbst in die Hand nehmen?), Nihilismus war es nicht. Nihilismus ist der Glaube an nichts und der Wunsch, nichts zu werden; das Vergessen ist seine Hauptleidenschaft. Seine beste Darstellung findet sich in Tulsa von Larry Clark, seinen fotografischen Memoiren über Jugendliche in den frühen sechziger Jahren, die sich lieber mit Speed zu Tode spritzen, als so zu werden, wie sie bereits aussahen: Charley Starkweathers und Caril Fugates aus Tulsa, Oklahoma. Nihilismus kann in der Kunst zwar eine Stimme, aber niemals Befriedigung finden. »Wir spielen hier nicht Theater, Larry«, sagte einer seiner Nadelkumpane zu ihm, als er einmal ein Foto zu viel geschossen hatte. »Das ist das beschissene echte Leben.« »Andere glaubten also, es sei kein Theater«, erinnerte sich Clark Jahre später, »ich schon« – obwohl er mitgemacht und einen Selbstauslöser benutzt hatte, um zu fotografieren, wie das Blut an seinem Arm runterlief.

Nihilismus bedeutet, die Welt in ihren eigenen selbstverzehrenden Impuls einzuschließen; die Negation als Tat macht jedem klar, dass die Welt nicht so ist, wie sie zu sein scheint … doch nur wenn diese Tat derart weitgreifend angelegt ist, dass sie die Möglichkeit offenlässt, die Welt könnte ein Nichts sein, Nihilismus wie Schöpfung könnten sich dieses plötzlich leeren Terrains bemächtigen. Ganz gleich wie viele Menschen der Nihilist (oder die Nihilistin) töten mag, sie bleiben immer Solipsisten: Keiner existiert außer dem Handelnden, und nur die Motive des Handelnden sind real. Wenn der Nihilist den Abzug betätigt, den Gashahn aufdreht, Feuer legt, die Ader trifft, endet die Welt. Negation ist immer politisch: Sie setzt die Existenz anderer Menschen voraus, ja ruft sie erst ins Leben. Dennoch sind die Werkzeuge, die zu benutzen der Negationist sich offenbar gezwungen sieht – echte oder symbolische Gewalt, Blasphemie, Ausschweifung, Verächtlichmachung, Verspottung – auch die des Nihilisten. Als Negation ließ sich »Anarchy in the U.K.« in Interviews rational übersetzen: Da er zu beweisen versucht, dass die Welt nicht so ist, wie sie zu sein scheint, erkennt der Negationist, dass die Welt für andere so ist, wie sie zu sein scheint. Doch als »Holidays in the Sun«, die vierte und letzte Single der Sex Pistols, im Oktober 1977 auf den Markt kam, wurden solche »Übersetzungen« weder angeboten, noch waren sie möglich.

Lipstick Traces

Подняться наверх