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KARL KRAUS (1874 – 1936)
ОглавлениеKarl Kraus kommt am 28. April 1874 in Gitschin, Böhmen (heute Jicin/Tschechien) als Sohn des Papierfabrikanten Jakob Kraus und seiner Frau Ernestine geb. Kantor zur Welt. 1877 zieht die Familie nach Wien, wo Kraus ein Studium der Rechtswissenschaften beginnt.
1897 gelingt ihm mit der Veröffentlichung der Satire »Die demolirte Litteratur« der erste Publikumserfolg. 1899 gründet er die satirische Zeitschrift »Die Fackel«, die bis kurz vor seinem Tod 1936 in unregelmäßigen Abständen erscheint. Hierin werden von 1915 bis 1919 Teile des monumentalen Epos »Die letzten Tage der Menschheit« veröffentlicht. Darüber hinaus hält Kraus 700 öffentliche Lesungen, übersetzt Shakespeare-Sonette und liest im Rundfunk in Berlin. 1952 erscheint posthum sein Werk über die Machtübernahme Hitlers »Dritte Walpurgisnacht«.
Karl Kraus polarisiert durch seine Person und seine Werke. Daher hat er auch kaum Verbindungen zu der kleinen, aber einflussreichen Zeitschrift »Weltbühne«, die u. a. Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky in Berlin herausgeben. Kraus stirbt unverheiratet am 12. Juni 1936 in seiner Wohnung in Wien.
KARL KRAUS
DIE LETZTEN TAGE DER MENSCHHEIT
EPILOG
Die letzte Nacht
Schlachtfeld. Trichter. Rauchwolken. Sternlose Nacht. Der Horizont ist eine Flammenwand. Leichen. Sterbende. Männer und Frauen mit Gasmasken tauchen auf.
EIN STERBENDER SOLDAT
schreiend
Hauptmann, hol her das Standgericht!
Ich sterb’ für keinen Kaiser nicht!
Hauptmann, du bist des Kaisers Wicht!
Bin tot ich, salutier’ ich nicht!
Wenn ich bei meinem Herren wohn’,
ist unter mir des Kaisers Thron,
und hab’ für sein Geheiß nur Hohn!
Wo ist mein Dorf? Dort spielt mein Sohn.
Wenn ich in meinem Herrn entschlief, kommt an mein letzter
Feldpostbrief.
Es rief, es rief, es rief, es rief!
Oh, wie ist meine Liebe tief!
Hauptmann, du bist nicht bei Verstand,
daß du mich hast hieher gesandt.
Im Feuer ist mein Herz verbrannt.
Ich sterbe für kein Vaterland!
Ihr zwingt mich nicht, ihr zwingt mich nicht! Seht, wie der Tod
die Fessel bricht!
So stellt den Tod vors Standgericht!
Ich sterb’, doch für den Kaiser nicht!
WEIBLICHE GASMASKE
nähert sich
Soviel ich seh’, fiel hier ein Mann mit Gottes Willen.
Auch unsereins hat seine Pflicht hier zu erfüllen.
In dieser ernsten Zeit gibts keinen Zeitvertreib.
Das Kleid ist nicht der Mann, doch ist’s auch nicht das Weib.
In Not und Tod und Kot gibt es die gleichen Rechte.
Wo kein Geschlecht, gereicht’s zur Ehre dem Geschlechte.
Zwei Soldaten und ein Maulesel mit Gasmasken, 1917
Der erste Einsatz von chemischen Kampfstoffen im Ersten Weltkrieg fand im August 1914 durch französische Truppen statt, die Xylylbromid, ein Tränengas, gegen deutsche Truppen anwandten. Das anschließende weitere Ausprobieren anderer chemischer Stoffe führte zu einer Verschärfung des Gaskrieges. Der erste schwerwiegende Einsatz fand am 22. April 1915 bei Ypern statt, als deutsche Truppen 150 Tonnen Chlorgas gegen die französischen Schützengräben einsetzten: Das Ergebnis waren ca. 5.000 Tote und 10.000 Verletzte. Die grausamen Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg – ca. 90.000 Menschen starben, bis zu eine Million wurde verletzt – führten dazu, dass im Zweiten Weltkrieg in Europa keine chemischen Kampfstoffe eingesetzt wurden.
MÄNNLICHE GASMASKE
stellt sich gegenüber
Nur daß dein Gesicht
sich an meines gewöhne!
Ich kenne dich nicht,
du Maske, du schöne!
Erfüllt von dem Grauen,
erfüllend die Pflicht,
sollen wir uns nicht schauen,
wir kennen uns nicht.
Uns gilt nur die Sache,
hier gilt es zu kämpfen,
es droht uns die Rache
mit giftigen Dämpfen.
Der Himmel spuckt Flammen,
verzischend im Blute.
So gehn wir zusammen
auf diese Redoute.
Fernes Trommelfeuer
WEIBLICHE GASMASKE
Gesicht und Geschlecht
verbietet die Pflicht.
Wir haben kein Recht
auf Geschlecht und Gesicht.
Das Leben verbracht
zwischen Leichen und Larven –
mir tönt diese Nacht
wie Hörner und Harfen!
BEIDE
Arm in Arm
Wir haben kein Recht auf Geschlecht und Gesicht.
Gesicht und Geschlecht verbietet die Pflicht.
Sie verschwinden.
Zwei Generale auf der Flucht, in einem Automobil
GENERAL
(Sprechgesang)
Da kann man nicht weiter,
die Erde hat Risse,
da gibts spanische Reiter
und sonst Hindernisse.
Die Schlacht hat nunmehr
eine Wendung genommen,
wir sind bis hieher
nach vorne gekommen.
In unsere Jahr’
da is nicht zu spaßen,
wir sind in Gefahr,
das Leben zu lassen.
Nicht wanken und weichen
die Mannschaften ziert.
Fahren S’ über die Leichen,
sonst sind wir petschiert!
Was hat denn der eine,
der hat keinen Kopf,
dem fehlen die Beine,
und am Rock fehlt a Knopf!
Das is ein Skandal,
da werd’ ich leicht schiech,
Sie toter Korpral,
adjustieren Sie sich!
Das is doch zuwider,
da krieg’ ich ein’ Pik,
ah, da legst di nieder –
hörn S’, jetzt is doch Krieg!
Der hört nicht. Herstellt!
Sie, was machen S’ denn dort
mir san doch im Feld!
Sie gehn zum Rapport!
Das is doch verboten,
die Wirtschaft hier vorn!
Fahren S’ über die Toten,
sonst sind wir verlorn!
Sie fahren ab. Es tagt.
Zwei Kriegsberichterstatter im Automobil, sie steigen aus. Breeches, Feldstecher, Kodak
ERSTER KRIEGSBERICHTERSTATTER
Ich finde es gut,
hier stehen zu bleiben.
Ich habe den Mut,
diese Schlacht zu beschreiben.
ZWEITER KRIEGSBERICHTERSTATTER
Ja, hier wie mir scheint
kann noch etwas geschehn.
Der Punkt ist vom Feind
sehr gut eingesehn.
DER ERSTE
Hier liegen die Helden,
hier ist es bewegt,
und wenn wir es melden,
es Aufsehn erregt.
DER ZWEITE
Es imponiert ja doch allen,
authentisch mit Bildern,
ist einer gefallen,
die Stimmung zu schildern.
DER ERSTE
Wir sind gern informiert
von besonderen Seiten.
Was mich intressiert,
sind die Einzelheiten.
Er tritt an einen sterbenden Soldaten heran.
DER ZWEITE
Sie, machen S’ zum End
ein verklärtes Gesicht!
Ich brauch’ den Moment,
wo das Aug Ihnen bricht.
DER ERSTE
Sie sind doch gescheit –
solang Sie am Leben,
ist hinreichend Zeit,
eine Schilderung zu geben.
DER ZWEITE
Was haben Sie empfunden,
was haben Sie sich gedacht,
wir brauchen die letzten Stunden,
wie war denn die Schlacht?
DER ERSTE
Schaun S’, das wird goutiert auf Details ich schon spitz’, und Ihr Heldentod wird eine schöne Notiz.
DER ZWEITE
Dieses Detail schon allein hat
für das Blatt seinen Reiz,
und der Chef gibt mich ein
für das Eiserne Kreuz.
DER STERBENDE
Geschwinde – geschwinde –
seht, wie ich – mich – winde –
verbinde, Herr Doktor –
verbinde, verbinde!
Seit so vielen Stunden –
mit so vielen Wunden –
sie bluten, sie bluten –
sie sind nicht verbunden.
Nur noch wenig Minuten –
laßt mich doch nicht verbluten –
verbindet geschwinde,
ihr müsset euch sputen.
So seht doch – wie mir schon –
der Atem – entschwindet –
geschwinde – Herr Doktor –
verbindet, verbindet!
DER ERSTE KRIEGSBERICHTERSTATTER
Der erzählt nichts – zu peinlich!
Der wird immer verstockter.
Er hält mich wahrscheinlich
für einen Dokter!
DER ZWEITE
Krieg ist Krieg – hör’n S’, ich hust’,
unsere Pflicht hier ist schwer,
über Ihre zerschossene Brust
sag’ ich nur c’est la guerre.
DER ERSTE
Denn Wunden verbinden, das hab’ ich nicht studiert, aber für Eindrücke finden wer’n wir honoriert.
DER ZWEITE
Die Stimmung zu melden, das ist unser Brot.
Einen schweigsamen Helden, den schweigen wir tot.
Wenden sich zur Abfahrt.
DER STERBENDE
Mein Weib – ach – ich – bitt –
das ist – eine Qual –
so – nehmen S’ mich mit –
bis zum – nächsten – Spital!
DER ERSTE KRIEGSBERICHTERSTATTER
Das ist doch gediegen –
was der von mir will!
So bleiben Sie doch liegen
und halten Sie still!
DER ZWEITE
Für einen Gemeinen
ist das eine Ehr’!
Ihr Bild wird erscheinen,
was wollen Sie mehr!
DER ERSTE
Wenn ich Ihnen garantier’,
es erscheint ein Bericht!
Ich war vor dem Tod hier,
so schaun S’ mir ins Gesicht!
DER ZWEITE
Er sagt nichts darauf.
Ich glaub’, es wird gehn.
So nehm’ ich ihn auf
man wird doch da sehn.
Er photographiert.
DER ERSTE
So sein S’ doch nicht fad,
es soll stimmungsvoll sein.
Uns fehlt der Kurat,
Sie sind leider allein.
DER ZWEITE
Das wär’ ein Effekt,
dem Abonnenten zu zeigen, den Priester direkt
über den Helden sich neigen!
DER ERSTE
Wir sind doch intim, er tät’s mir zu Liebe,
weil ja schließlich auch ihm eine Reklam dabei bliebe.
DER ZWEITE
Wo man ihn ja einmal braucht,
ist er natürlich beim Teufel.
Das ist trostlos … Es raucht!
Nur ein Blindgänger, kein Zweifel!
DER ERSTE
Geh’ mr! Hier is stier,
hier is doch nix los.
Gehn wir ins Pressequartier
vor dem Gegenstoß.
DER ZWEITE
Der würde mich nicht
im geringsten tuschieren,
ich kann bloß bei dem Licht
nicht photographieren.
DER ERSTE
Sie, hier wie mir scheint
kann noch was geschehn,
der Punkt ist vom Feind
zu gut eingesehn!
DER ZWEITE
Es lohnt nicht zu bleiben.
Bin ich ein Held?
Also was soll man schreiben?
Ein Erlebnis im Feld!
Sie fahren ab
Ein Feldwebel jagt mit dem Revolver einen Zug vor sich her
FELDWEBEL
Marsch! Ich wer’ euch lehrn hier herumtachiniern!
Fürs Vaterland stirbts, oder ich laß euch krepiern!
Was glaubts denn, i wer’s euch schon einigeignen!
Jetzt schießts auf den Feind, oder ich schieß auf die Eignen!
Sie verschwinden.
EIN ERBLINDETER
tastet sich kriechend vorwärts
So, Mutter, Dank! So fühl’ ich deine Hand.
Oh, sie befreit von Nacht und Vaterland!
Ich atme Wald und heimatliches Glück.
Wie führst du mich in deinen Schoß zurück.
Nun ist der Donner dieser Nacht verrollt.
Ich weiß es nicht, was sie von mir gewollt.
O Mutter, wie dein guter Morgen thaut!
Schon bin ich da, wo Gottes Auge blaut.
Er stirbt
DIE KRIEGSBERICHTERSTATTERIN
erscheint
Hier ist er, das Suchen hat sich gelohnt,
hier find’ ich den einfachen Mann an der Front!
EIN VERWUNDETER
tastet sich kriechend vorwärts
Fluch, Kaiser, dir! Ich spüre deine Hand,
an ihr ist Gift und Nacht und Vaterland!
Sie riecht nach Pest und allem Untergang.
Dein Blick ist Galgen und dein Bart der Strang!
Dein Lachen Lüge und dein Hochmut Haß,
dein Zorn ist deiner Kleinheit Übermaß,
der alle Grenze, alles Maß verrückt,
um groß zu sein, wenn er die Welt zerstückt.
Vom Rhein erschüttert ward sie bis zum Ganges
durch einen Heldenspieler zweiten Ranges!
Der alten Welt warst du doch kein Erhalter,
gabst du ihr Plunder aus dem Mittelalter.
Verödet wurde ihre Phantasie
von einem ritterlichen Weltkommis!
Nahmst ihr das Blut aus ihren besten Adern
mit deinen Meer- und Luft- und Wortgeschwadern.
Nie würde sie aus Dreck und Feuer geboren!
Mit deinem Gott hast du die Schlacht verloren!
Die offenbarte Welt, so aufgemacht,
von deinem Wahn um ihren Sinn gebracht,
so zugemacht, ist sie nur Fertigware,
mit der der Teufel zu der Hölle fahre!
Von Gottes Zorn und nicht von seinen Gnaden,
regierst du sie zu Rauch und Schwefelschwaden.
Rüstzeug des Herrn! Wir werden ihn erst preisen,
wirft er dich endlich zu dem alten Eisen!
Komm her und sieh, wie sich ein Stern gebiert,
wenn man die Zeit mit Munition regiert!
Laß deinen Kanzler, deine Diplomaten
durch dieses Meer von Blut und Tränen waten!
Fluch, Kaiser, dir und Fluch auch deiner Brut,
hinreichend Blut, ertränk sie in der Flut!
Ich sterbe, einer deutschen Mutter Sohn.
Doch zeug’ ich gegen dich vor Gottes Thron!
Er stirbt.
QUELLE: Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog, 17. bis 23. Tausend (einschließlich der Aktausgabe); Verlag Die Fackel, Wien/Leipzig [1922]