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BERTHA VON SUTTNER (1843 – 1914)

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Bertha von Suttner wird am 9. Juni 1843 als Tochter des Grafen Franz Michael und der Gräfin Sophie Wilhelmine Kinsky geb. von Körner in Prag geboren. 1873 wird sie, weil das Kinsky-Vermögen aufgebraucht ist, Erzieherin der Töchter des Freiherrn von Suttner. Dort lernt sie dessen Sohn Arthur, er ist sieben Jahre jünger als sie, kennen, den sie 1876 heiratet. 1878 beginnt sie zu schreiben. In »Inventarium der Seele« (1883) wird bereits die Frage nach der Berechtigung des Krieges behandelt. Der 1889 erschienene Antikriegs-Roman »Die Waffen nieder« begründet ihren Ruhm als Pazifistin. 1892 begegnet sie Alfred Nobel, der mit ihr zusammen den Plan eines Friedenspreises, des späteren Friedensnobelpreises, entwickelt. 1899 nimmt sie als einzige Frau und Nichtregierungsvertreterin an der 1. Haager Friedenskonferenz teil, die durch das sogenannte Zarenmanifest von Zar Niklaus II. initiiert worden war. 1906 wird ihr der Friedensnobelpreis verliehen.

Die zweite Haager Friedenskonferenz 1907 ist für sie keine »Friedenskonferenz«, sondern eine »Kriegsgebrauchskonferenz«. Bertha von Suttner stirbt am 21. Juni 1914 kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges, dessen Ausbruch sie drohend vorausgeahnt hatte.

BERTHA VON SUTTNER

DIE ERSTE HAAGER FRIEDENSKONFERENZ

Im Jahre 1900 habe ich ein umfangreiches Buch1 erscheinen lassen, in welchem ich alle Erlebnisse meines Haager Aufenthaltes, alle Berichte über die Verhandlungen, die Texte der wichtigsten Reden und den Wortlaut der verschiedenen Konventionen zusammengefaßt habe. Auf diese Publikation verweise ich jene, die über den Charakter, den Verlauf und die direkten Ergebnisse jener historischen Versammlung detaillierten Bericht zu erhalten wünschen; hier werde ich nur die persönlichen Erinnerungen jener Tage fixieren; die Eintragungen in mein Privatjournal, die ich für jenes Buch als Material herangezogen und ausgeführt habe, werde ich hier in ihrer Originalform abschreiben, natürlich mit Ausschluß des Allzuprivaten, daher Uninteressanten.

Dabei werden sich wohl auch Verhandlungstexte und weltpolitische Betrachtungen einstellen; denn wenn ich die Geschichte meines Lebens treulich wiedergebe, so gebührt diesen Dingen ein breiter Raum. Sie waren ja nicht zur zufälligen Stickerei, sondern zum Gewebe selbst meiner Existenz geworden. Was in der Friedenssache dafür oder dagegen in der Welt geschah – und namentlich was in jenen Haager Tagen geschah, die doch im Namen jener Sache einberufen worden –, das war mir nicht Erfahrung, es war mir Erlebnis.

16. Mai. Ankunft im Haag. Die Stadt in Frühlingszauber getaucht. Heller Sonnenschein. Fliederdüfte in der kühlen Luft. Unsere Zimmer im Hotel bereit. Neun Uhr abends. Wir sitzen noch im Speisesaal. Der Korrespondent des »Neuen Wiener Tagblatt« läßt sich melden. Nehme ihn an, und er setzt sich zu unserem Tisch. Mit großer Heiterkeit beginnt er die Unterhaltung:

»Habe eben mit dem Vertreter einer Großmacht gesprochen: Man ist sich ja so ziemlich im klaren über die voraussichtlichen Ergebnisse … Erweiterung der Genfer Konvention … «

»Das wäre – wenn weiter nichts erreicht würde – ein arger Betrug an den Hoffnungen der Völker und auch eine Enttäuschung für den Zaren, dessen Wünsche sich auf das Schiedsgericht –«

Der Korrespondent unterbricht mich lachend: »Darüber ist auch gesprochen worden … nun, das ist einfach kindisch … die Staaten würden einem Spruch, der ihnen nicht behagt, nicht Folge leisten.«

»Der Fall ist noch kein einziges Mal vorgekommen.«

»Weil bisher nur über Kleinigkeiten Schiedssprüche gefällt wurden – handelt es sich aber um vitale Fragen … «

Also immer wieder die alten Argumente. Ich hörte sie schon ordentlich kommen, die »vitale Frage«, obwohl keiner recht weiß, was er sich dabei denkt. Was sollen denn diese »Lebens«angelegenheiten sein, die sich am besten durch hunderttausendfaches Totschlagen fördern lassen?

18. Mai. Der 18. Mai 1899! Daß es ein weltgeschichtliches Datum ist, das ich da niederschreibe, von dieser Ueberzeugung bin ich tief durchdrungen. Es ist das erstemal, seitdem Geschichte geschrieben wird, daß die Vertreter der Regierungen zusammenkommen, um die Mittel zu suchen, der Welt »dauernden, wahrhaften Frieden zu sichern«. Ob diese Mittel in der heute zu eröffnenden Konferenz schon gefunden werden oder nicht, das entscheidet nicht über die Größe des Ereignisses. In dem Suchen liegt die neue Richtung!

19. Mai. Der gestrige Tag verlief so: Des Morgens Gottesdienst in der russischen Kapelle zur Feier des Geburtstags des Zaren. Der Meine und ich sind dazu eingeladen. Es sind – der Raum ist klein – kaum hundert Menschen anwesend, die Herren in Galauniform, die Damen in lichter Toilette. – Das Hochamt beginnt. Andächtig und ehrfürchtig, alle stehend, folgen ihm die Versammelten. Mir ist, als sollte ich nicht für Nikolaus II. beten, sondern an ihn die Bitte richten: O du Kühner, bleibe stark! Laß den Undank und die Tücke und den Stumpfsinn der Welt nicht störend und lähmend zu dir dringen – wenn man dein Werk auch verkleinern, mißdeuten, vielleicht auch verhindern wollte – bleibe stark!

Der Pope reicht das Kreuz zum Kusse: die Messe ist aus. Jetzt werden Begrüßungen und Vorstellungen getauscht. Lerne die Frau des Ministers Beaufort kennen.

Fahrt zur Eröffnung. Strahlender Sonnenschein. Wie zu einem fröhlichen Prater- oder Bois-Korso fahren die zahlreichen Wagen durch die Alleen nach dem »Haus im Busch«. Am Gittertor leistet eine militärische Ehrenwache die Ehrenbezeugungen. Ich bin die einzige Frau, welcher der Zutritt gewährt wird.

Was ich hier empfand … es war wie die Erfüllung eines hochfliegenden Traumes. »Friedenskonferenz«! Zehn Jahre lang ist das Wort und die Sache verlacht worden – ihre Teilnehmer, machtlose Privatleute, gelten als »Utopisten« (beliebteste, höfliche Umschreibung für »verrückte Käuze«) –, jetzt versammeln sich auf den Ruf des gewaltigsten Kriegsherrn die Abgesandten aller Machthaber, und ihre Versammlung führt denselben Namen: »Friedenskonferenz«.

Aus der Eröffnungsrede des Ministers Beaufort notiert:

Durch seine Initiative hat der Kaiser von Rußland den von seinem Vorgänger Alexander I. ausgedrückten Wunsch erfüllen wollen, daß alle Herrscher Europas sich untereinander verständigen, um als Brüder zu leben und sich gegenseitig in ihren Bedürfnissen zu unterstützen.

Mir scheint, Nikolaus II. hat mehr gewollt; nicht um die Bedürfnisse aller Herrscher, sondern vielmehr aller Völker handelt es sich da. Die Rüstungen lasten auf den Völkern, nicht auf den Herrschern. Das sogenannte dynastische Interesse liegt eher in militärischem Pomp und dem Prestige der kriegerischen Gewaltfülle.

Und weiter; Beaufort:

Die Aufgabe der Konferenz ist, nach Mitteln zu suchen, um den unaufhörlichen Rüstungen ein Ziel zu setzen und die schwere Not, welche die Völker bedrückt, zu beendigen. Der Tag des Zusammentritts dieser Konferenz wird einer der hervorragendsten Tage in der Geschichte des endenden Jahrhunderts sein.

Nach Beauforts Rede wird Botschafter Staal zum Präsidenten der Konferenz erwählt.

Dann folgen die anderen Ernennungen – das Ganze dauert nur eine halbe Stunde – es sollte ja nur eine Eröffnungszeremonie sein. Die erste Sitzung wird für den 20. angesetzt und zugleich erklärt, daß zu den Verhandlungen die Journalisten nicht zugelassen würden. (Leider!)

19. Mai. Bloch angekommen. Begrüßen uns als alte Freunde. Ein Sechziger, mit kurzgestutztem grauem Bart, heiterem und sanftem Gesichtsausdruck, mit ungezwungenem, elegantem Auftreten, durchaus natürlicher, einfacher Sprechweise. Ich frage ihn aus über die Aufnahme seines Buches von seiten des Zaren. Bloch erzählt, und die im Salon anwesenden Pazifisten und Publizisten lauschen mit Interesse:

»Ja, der Zar hat das Werk eingehend studiert. Als er mich in Audienz empfing, lagen auf den Tischen die Karten und Tabellen des Buches ausgebreitet, und er ließ sich alle die Ziffern und Diagramme genau erklären. Ich erklärte – bis zur Müdigkeit, aber Nikolaus II. wurde nicht müde. Immer wieder stellte er neue Fragen oder streute Bemerkungen ein, die von seiner tiefen Anteilnahme, von seinem Interesse Zeugnis gaben. Also so würde ein nächster Krieg sich gestalten … das wären die Folgen? … «

Das Kriegsministerium, dem ein Exemplar vorgelegt werden mußte, hat dem Kaiser Rapport erstattet und für Autorisation der Veröffentlichung gestimmt. In der Begründung hieß es: »ein so umfangreiches, fachmännisch-technisch gehaltenes Buch wird nicht viel gelesen werden, ist daher weit weniger gefährlich als der Suttnersche Roman ›Die Waffen nieder.‹ Da die Zensur diesen freigelassen, so mag viel eher Blochs ›Krieg der Zukunft‹ passieren.«

Abends Rout bei Beaufort. So wie alle Routs in Hof- oder Diplomatenkreisen und doch so ganz anders! Etwas Neues ist in die Welt getreten – nämlich das offizielle Verhandeln des Themas »Weltfriede«, und das gibt notwendigerweise (ist es doch die Raison d’être des hiesigen Empfanges) den allgemeinen Gesprächsstoff ab. Eine Frage, die sehr allgemein als Anknüpfung der Unterhaltung benutzt wird, ist diese:

»Was erwarten Sie von der Konferenz?«

Auch an mich wurde diese Frage öfters gestellt, oder auch diese:

»Sind Sie nicht glücklich, Ihre Hoffnungen so verwirklicht zu sehen?«

»Ja, sehr glücklich, « konnte ich wahrheitsgetreu antworten; »daß so viel und dieses so bald geschehen werde, hatte ich nicht einmal gehofft.«

Auf die andere Frage mußte ich erwidern, daß ich von dieser ersten Konferenz nur erwarte, daß sie ein Anfang, ein erster Schritt, ein gelegter Grundstein sein werde.

Ich werde mit dem größten Teil der Anwesenden bekannt – auch mit dem Gesandten von China (der zugleich Botschafter am russischen Hofe ist) und seiner Frau. »In Petersburg habe ich viel von Ihnen sprechen gehört, « sagt mir Yang-Yü durch seinen Dolmetscher Lu Tseng-Tsiang, »so erzählte mir Graf Murawjew von seiner Unterredung mit Ihnen.«

Die junge Gattin des Delegierten von China trägt ihr Landeskostüm: gestickte seidene Gewänder, auf dem Kopfe eine kleine Mütze, zu beiden Seiten der Schläfen Papierblumen. Sie ist eine hübsche junge Frau, doch ganz von dem Typus, den man auf dem chinesischen Porzellan findet; dabei so stark geschminkt, daß das Gesicht einer unbeweglichen, emaillierten Maske gleicht. Sie ist sehr freundlich und schüttelt allen, die ihr vorgestellt werden, kräftig die Hand. Sie ist von ihrem Sohne, einem Jungen von zwölf bis dreizehn Jahren, begleitet, der Englisch und Französisch spricht und ihre Konversation verdolmetscht.

20. Mai. Wieder Visitentournee. Durch die Straßen vom Haag fährt es sich eigentlich immer wie durch Parkanlagen. Nicht nur im »Bosch«, wo das der Konferenz überlassene »Huis« steht, überall ragen die alten Baumriesen, überall leuchten die grünen Rasenplätze und überall tönt jetzt zu dieser blütenreichen Maienzeit liebliches Vogelgezwitscher. Fast jedes Haus hat einen Garten, und Zinshäuser sieht man nicht; im Villenstil oder wie kleine Schlößchen gebaut, so ist jedes Haus nur das Heim einer Familie. Natürlich gilt dies von dem vornehmen Viertel, das um das königliche Palais herumliegt und das von den Plätzen, wo die ersten Hotels (Vieux Doelen u. s. w.) stehen, bis nach Scheveningen führt.

Unser Salon ist stets mit Besuchern gefüllt und vom frühen Morgen an Interviewer; heute unter anderen die Redakteure von »Frankfurter Zeitung«, »Echo de Paris« und »Black and White«.

Aus Paris die Nachricht, daß bei Frédéric Passy die Operation so böse Folgen gehabt, daß nicht nur unerträgliche Schmerzen sich einstellten, sondern sogar das Leben des Patienten in Gefahr schwebt. Große Bestürzung in unserem ganzen Kreise. Von den lebenden Friedenskämpfern ist Frédéric Passy allen, die ihn und sein Werk kennen, unstreitig der geliebteste und verehrteste.

Bei der heutigen ersten Plenarsitzung soll Herr von Staal bei seiner Ansprache die Ziele und die Richtung definieren, welche sein kaiserlicher Auftraggeber der Konferenz gegeben wünscht. Wie bedauerlich, daß der Presse der Zutritt verwehrt ist. Die Rede des Präsidenten müßte heute noch an alle Blätter der Welt telegraphiert werden.

21. Mai. Pfingstsonntag. Dr. Trueblood aus Boston angekommen. Er erzählt, daß er mit Bestimmtheit wisse, die amerikanische Regierung habe ihrem Delegierten einen ganz ausgearbeiteten Schiedsgerichtsplan mitgegeben.

Ein Bildhauer aus Berlin, Löher ist sein Name, zeigt uns das Modell zu einem Friedensdenkmal, das er gern in der Pariser Ausstellung von 1900 aufstellen wollte. So wird von immer mehr Seiten, in immer zahlreicheren Formen dem neuen Ideal gehuldigt.

Daneben freilich, wie eingewurzelt, wie mächtig ist noch das alte Ideal – dasjenige des Krieges – ringsum verbreitet – bis in die hiesige Konferenz herein: man lese nur Professor Stengels Broschüre … Und was auch zu fürchten ist: Ideen schreiten langsam, Ereignisse schnell. Wenn ein Fall wie Faschoda, wenn der Streit in Transvaal plötzlich zu einem Konflikt führt, während die Konferenz noch tagt, wie würde dies ihre theoretische Arbeit zerstören!

22. Mai. Ein neuerliches »Wiedersehen« mit einem alten Bekannten, den ich nie gesehen: Charles Richet besucht uns und bringt Grüße von unserem armen Passy. Es ist Hoffnung vorhanden, daß er genese, aber nicht, daß er hierherkomme. Richet zeigt sich als großer Enthusiast unserer Sache.

Ich wollte ihn zum Gabelfrühstück zurückhalten, er ist aber mit d’Estournelles beim französischen Gesandten eingeladen. Indessen erhalten wir eine Einladung zu einem Gabelfrühstück, das Frau Grete Moscheles dem amerikanischen Delegationschef und Botschafter in Berlin Andrew D. White gibt.

Was uns D. White mitteilte, erfüllte die Anwesenden mit lebhafter Genugtuung:

»Ich begehe keine Indiskretion«, sagte er beim Dessert, »wenn ich erzähle, daß wir schon in der ersten Sitzung der Schiedsgerichtskommission einen vollständigen Plan zu einem internationalen Tribunal vorlegen werden – und dies im Auftrag der amerikanischen Regierung. Noch darf ich die Details nicht geben – aber die Sache selbst wird und soll kein Geheimnis bleiben.«

23. Mai. Jetzt kennt man trotz verschlossener Türen die Eröffnungsrede Staals. Ein englisches Blatt brachte den Wortlaut. Ich notiere daraus die besonders bedeutungsvollen Stellen:

Der Name »Friedenskonferenz«, welchen der Instinkt der Völker, die Entscheidung der Regierungen vorwegnehmend, unserer Zusammenkunft gegeben hat, bezeichnet so recht den Hauptgegenstand unserer Bestrebungen; die »Friedenskonferenz« darf der ihr anvertrauten Mission nicht untreu werden, sie muß ein greifbares Resultat hervorbringen, welches die ganze Welt vertrauensvoll von ihr erwartet.

… Es sei mir erlaubt zu sagen, daß die Diplomatie, einem allgemeinen Entwicklungsgange folgend, nicht mehr wie einst eine Kunst ist, in welcher die persönliche Geschicklichkeit die Hauptrolle spielt, sondern im Begriffe steht, eine Wissenschaft zu werden, mit fixen Regeln zur Schlichtung internationaler Konflikte. Das ist heute das ideale Ziel, das sie vor Augen haben muß, und unzweifelhaft wird es ein großer Fortschritt sein, wenn es der Diplomatie schon hier gelingt, einige jener Regeln festzusetzen.

Daher werden wir uns auch in ganz besonderer Weise bemühen, die Anwendung des Schiedsgerichtes sowie der Mediation und der guten Dienste zu verallgemeinern und zu kodifizieren. Diese Ideen bilden sozusagen das innerste Wesen unserer Aufgabe, den allgemeinen Zweck unserer Mühen, nämlich, die internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel zu lösen.

… Die Nationen haben ein glühendes Verlangen nach Frieden, und wir sind es der Menschheit schuldig und den Regierungen, die uns hier mit ihrer Vollmacht betraut haben, wir sind es uns selber schuldig, ersprießliche Arbeit zu vollbringen, indem wir die Anwendungsweise einiger der friedensichernden Mittel feststellen. Unter diesen Mitteln stehen voran: Schiedsgericht und Vermittlungsdienste.

Charles Richet und sein Sohn frühstücken bei uns. Ein Wort Richets macht mir tiefen Eindruck: »Von allen Seiten müssen wir hören, die Zeit sei noch nicht da, unsere Ideale auszuführen. Mag sein – aber ganz sicher ist die gegenwärtige Zeit da, um ihnen vorzuarbeiten.«

Nachmittag Besuch bei Frau von Okoliczany. Die Gesandtin – geborene Fürstin Lobanow – hat den Ruf, eine blendende Beauté gewesen zu sein. Ist noch immer schön. Gestalt, Schultern, Arme von statuenhafter Linienharmonie. Das weiße Cachemire-tea-gown, in dem sie uns empfing, hat offene Aermel, die den zarten, runden Arm frei lassen. Hände haben bekanntlich Physiognomien; die schönen Hände Frau von Okoliczanys begleiten ihre lebhafte Sprache mit – man könnte sagen – lebhaftem Mienenspiel, und die Armbewegungen reden mit.

Ein Besucher kommt hinzu: Graf Konstantin Nigra. Sollte man es für möglich halten, daß dieser schlanke, hochgewachsene Mann mit dem dichten, leichtgelockten, noch immer blonden Kopfhaar, mit dem regelmäßigen, nur geringe Altersspuren aufweisenden Gesicht schon siebzig Jahre alt ist?

Selbstverständlich wird auch von der Konferenz und ihren Zielen gesprochen. Graf Nigra macht den Eindruck, von der Größe der Aufgabe durchdrungen zu sein und Hoffnungen an die Ergebnisse zu knüpfen.

Natürlich ist es Pflicht, nicht nur diplomatische, sondern beinahe Anstandspflicht, so zu reden. Man wird doch nicht an offiziellen – noch dazu geheimen – Beratungen teilnehmen und im Salon darüber geringschätzig schwatzen. Nur dem Freiherrn von Stengel war es zugefallen, zu einer Konferenz entsendet zu werden, deren Ziel er kurz vorher als »Duselei« verkündet hatte … aber von diplomatischer Selbstverständlichkeit abgesehen: man fühlt, was aufrichtig und überzeugt gesprochen wird, und ich habe den Eindruck: Graf Nigra wird ernste, eifrige Mitarbeit leisten.

25. Mai. Eine Karte wird mir gebracht: The earl of Aberdeen. Mit Lady Isabel Aberdeen, die dem kommenden internationalen Frauenkongreß in London vorsitzen wird, stehe ich seit einiger Zeit in Korrespondenz.

Der Lord, gewesener Gouverneur von Kanada – noch ein junger Mann von großem schlankem Wuchs, mit kurzem schwarzem Vollbart –, bringt mir Grüße seiner Frau. Erzählt, daß er an der großen, von Stead veranstalteten Meetingkampagne regen Anteil genommen, bei den Kundgebungsversammlungen mitgesprochen hat. Charles Richet kommt hinzu. Auch einige deutsche Zeitungskorrespondenten, die bisher von der Friedenssache nur Ablehnendes gehört und geschrieben; die namentlich von dem Grundsatze ausgehen, daß die einzige Friedensbürgschaft in den deutschen Rüstungen liegt, da alle übrigen Nationen kriegslustig seien; es war mir eine Genugtuung, daß die nun dem Franzosen und Engländer zuhören konnten, wie sie in voller Uebereinstimmung und mit den kräftigsten Argumenten für jene Sache eintraten. Dabei waren es ja keine »obskuren Schwärmer«, sondern einer der höchsten Würdenträger des Britischen Reiches und einer der berühmtesten Gelehrten an der Pariser Universität.

Nachmittags, beim Empfang der russischen Gesandtschaft, treffen wir Sir Julian Pauncefote. Aeußere Erscheinung: einundsiebzig Jahre, aber von strammer Haltung; das Haupthaar schon weiß, ebenso der Bart; dieser, nach österreichischer Art, mit ausrasiertem Kinn. Gestalt groß und schlank. Gesichtsausdruck freundlich und edel. So wie geleistete Kriegsdienste zur Verleihung eines Oberkommandos im Feldzug berechtigen, so sind hervorragende Friedenstaten die richtigen Titel zur Delegation an die hiesige Konferenz. Sir Julian hat in seiner diplomatischen Laufbahn zwei Friedenssiege zu verzeichnen:

Als Clevelands Botschaft über die Venezuelafrage die Welt erschütterte und überall verkündet wurde, der Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und England sei unvermeidlich, damals war er Botschafter in Washington. Wäre statt seiner ein Chamberlain auf diesem Posten gewesen, so wäre es vielleicht zum Losschlagen gekommen. Sir Julian wußte die Angelegenheit mit solcher Ruhe und Versöhnlichkeit zu leiten, daß sie mit dem Schiedsgericht geendet hat, das heute – unter dem Vorsitz des Professors von Martens – in Paris die Sache verhandelt. Zweitens ist Sir Julian derjenige, der den bekannten Schiedsgerichtsvertrag zwischen Amerika und Großbritannien (der erste solche Vertrag, der jemals aufgesetzt wurde) am 11. Januar 1899 mit dem amerikanischen Staatssekretär Olney unterzeichnet hat. Daß die Ratifikation des Vertrags nachher an der fehlenden (durch drei Stimmen fehlenden) Zweidrittelmehrheit scheiterte, dafür ist er nicht verantwortlich.

Wie neulich Mr. White, so teilt uns diesmal Sir Julian mit, daß seine Delegation mit einem bestimmten Vorschlag in der dritten (der Schiedsgerichts-) Kommission hervortreten würde. Er hegt die besten Hoffnungen auf ein positives Ergebnis. Ich bringe das Gespräch auf den englisch-amerikanischen, wirkungslos gebliebenen Vertrag. Er antwortet, daß man die Sache jedenfalls wieder aufnehmen werde:

»Was auf den ersten Wurf nicht gelingt, my dear Baroness, gelingt auf den zweiten oder dritten.«

Abends Rout bei der Obersthofmeisterin der Königin. Werde wieder mit vielen, darunter auch exotischen Größen bekannt gemacht. Nur von der deutschen Delegation erweist mir niemand die Ehre, sich zu nähern. Graf Münster behandelt mich als Luft. Als Professor Stengel in seiner Broschüre von den »komischen Personen« der Friedensbewegung sprach, vor deren groteskem Benehmen und Ideen er nicht genug warnen konnte, hat er offenbar auch mich daruntergezählt.

26. Mai. Bloch faßt den Entschluß, vor geladenem Publikum eine Reihe von Vorträgen zu halten. Kein anderer Ort und keine andere Gelegenheit eignet sich so gut zur Darstellung der Utopie des Krieges. Besonders für militärische Delegierte müßten die dokumentierten und ziffernbelegten Tatsachen und Schlüsse von Interesse sein, die diese Vorträge enthalten werden. Der Meine und ich sind behilflich in den Vorbereitungen, fahren mit ihm Säle besichtigen, Bestellungen machen u. s. w.

Besuch des Korrespondenten der »Frankfurter Zeitung«. Kommt eben von Herrn von Stengel. Dieser hat den Interviewer versichert, daß er nur gegen die Auswüchse der Friedensbewegung (nun ja, die komischen Personen) protestiert hat, daß er jedoch als Delegierter sein möglichstes tun werde, die Sache zu fördern. Desto besser!

Die Korrespondenten des »Figaro« und »Echo de Paris« interviewen mich; Mr. Leveson Gower, Sekretär der britischen Botschaft, verlangt im Auftrag der »North American Review« einen Artikel über die Bewegung für das Juliheft.

Um drei Uhr im Hotel Vieux Doelen zu tun. Treffe da Stead. »Endlich sehe ich Sie, « rief ich, »gerade von Ihnen, der Sie mit den Delegierten auf so gutem Fuße sind, erwarte ich immer Nachricht und –«

»Und die sollen Sie auch haben. Heute wichtiger und glücklicher, als Sie hoffen konnten. Hier ist eine Kopie des Berichtes, den ich eben an die englischen Blätter gesandt – lesen Sie und freuen Sie sich mit mir. Die Konferenz hat ein wunderschönes Stück Arbeit gemacht.«

Hier ein Auszug des Berichtes:

Plenarversammlung vom 25. Mai.

Auf der Tagesordnung der Gegenstand der dritten Kommission, nämlich: »Friedliche Schlichtung internationaler Konflikte.«

Als Grundlage zu den Verhandlungen legt Herr von Staal die russischen Vorschläge auf den Tisch. Es ist ein aus 18 Artikeln bestehendes Dokument, das den Titel führt: »Elemente zur Ausarbeitung einer zwischen den an der Konferenz teilnehmenden Mächten abzuschließenden Konvention.« Diese Elemente sind:

1. Gute Dienste und Vermittlung.

2. Internationales Schiedsgericht.

3. Internationale Untersuchungskommission.

Ehe die Diskussion über die Artikel beginnt, erhebt sich Sir Julian Pauncefote im Namen seiner Regierung und beantragt, daß dem russischen Plane noch ein Zusatzartikel beigefügt werde, nämlich: Die Errichtung eines ständigen Schiedsgerichtstribunals.

Mit kurzer, aber sehr eindrucksvoller Rede begründet der englische Delegierte diesen Antrag. Er verweist auf die Argumente, die in der »Adresse an die Regierungen« seines Kollegen Descamps enthalten sind.2

Die Worte und die positive Tat des Chefs der englischen Delegierten bringen sichtlich tiefen Eindruck hervor. Als er geendet, herrscht feierliche Stille. Viele der Mitglieder schauen einander mit hellem Staunen an – manche unter ihnen mögen da zum erstenmal empfinden, daß es sich um ernste Dinge handle, vorgebracht von praktischen Staatsmännern, die es redlich meinen.

Noch größer ist die Ueberraschung, als nun Herr von Staal erklärt, daß auch die russische Regierung einen Plan – in 26 Artikeln – für die Errichtung eines permanenten Schiedsgerichtshofes in Bereitschaft habe.

Nun rückt Mr. A. White mit dem amerikanischen Antrag hervor. In dessen Einleitung heißt es:

»Der Antrag zeigt den ernsten Wunsch des Präsidenten der Vereinigten Staaten, daß ein ständiges internationales Tribunal zur schiedsrichterlichen Schlichtung der Streitigkeiten zwischen den Völkern errichtet werde, und zeigt die Bereitwilligkeit des Präsidenten, bei dieser Einsetzung behilflich zu sein.«

Wie radikal dieser Vorschlag gemeint war, erhellt aus den Artikeln III und IV:

Art. III. Das Tribunal hat in Permanenz zu bestehen, stets bereit, alle sich bietenden Fälle zu übernehmen.

Art. IV. Alle Streitfragen jeglicher Art3 sollen bei gegenseitigem Uebereinkommen zur Entscheidung unterbreitet werden, und jede solche Unterbreitung muß von der Verpflichtung begleitet sein, daß man sich dem Schiedsgerichte fügen werde.

Ein schönes Stück Arbeit in der Tat. Hier sind also gleich zu Anfang positive, konkrete Pläne, im Namen von vier Regierungen, zur Behandlung und zur Beschlußfassung vorgelegt.

Wie schade, daß nicht auch aus Oesterreich, Deutschland und Frankreich solche Initiativen gekommen!

Schade auch, daß die Berichte über diese Sitzung samt den genauen Texten der Anträge nicht sofort in alle Weltgegenden hinaustelegraphiert und von sämtlichen Blättern gebracht und kommentiert werden, damit der Welt das Verständnis der großen Interessen aufdämmere, die hier auf dem Spiele stehen, und sie Zeugin und Richterin sein könne über die Art und Weise, wie – und von wem diese Interessen hier vertreten werden.

QUELLE: Bertha von Suttner: Memoiren, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart/​Leipzig 1909, S. 440 – 455.

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