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EINFÜHRUNG

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Geschichte ist immer auch erfahrene Geschichte, sei es durch unmittelbares Erleben oder durch Vermittlung von Eltern und Großeltern. So verbinden mich mit dem zurückliegenden Jahrhundert eigene Erfahrungen und Begegnungen mit Persönlichkeiten, die mich zur Herausgabe dieses Geschichten-Buches veranlasst haben.

Meine persönlichen und familiären Bezüge zu der im Buch sich widerspiegelnden Geschichte sind vielfältig. Väterlicherseits stammt meine Familie aus dem Baltikum/​Kurland, dem heutigen Lettland. Mein Vater (1913 – 1993) hat mit seinem Leben fast das ganze letzte Jahrhundert abgedeckt. Meine Mutter (1923 – 2012), aus einer niedersächsischen Familie stammend, gehörte zu der Generation, deren Jugend in die schwierigen Jahre 1933 bis 1945 fiel. Für beide galt sinngemäß, was Alexander Kluge in seinem Beitrag »Reden über das eigene Land: Deutschland« 1983 schreibt: » … und wenn ich jetzt an konkrete Menschen denke, …, bitte ich Sie, an einen Menschen zu denken, der 1932 arbeitet. Er widmet seine Zeit hauptsächlich der Arbeit, er verausgabt sich, und er muss auch Hoffnung haben, weil der Mensch nur so sein Können einsetzt. … Und jetzt wird er in einen Krieg geführt; das war nicht in seinem Sinn, aber er ist in diesem Krieg, und jetzt verausgabt er nochmals für den Endsieg seine Kräfte. Und ich kann nicht verächtlich von ihm sprechen, nachdem der Krieg zu Ende ist und alles in Trümmern liegt und alle Hoffnungen eigentlich zerstört sind, und ich frage Sie: Wer zählt diese Inflation und diese Währungswechsel, die in der Verausgabung von Hoffnung und Vertrauen ihren Kern haben?«

Bei der Auswahl der Texte aus dem deutschsprachigen Raum habe ich mich von dem Gefühl leiten lassen, das Ricarda Huch beseelte, als sie 1946 ihren Aufruf »Für die Märtyrer der Freiheit« schrieb: »Wie wir der Luft bedürfen, um zu atmen, des Lichtes, um zu sehen, so bedürfen wir edler Menschen, um zu leben. Sie reißen uns aus dem Sumpf des Alltäglichen, sie entzünden uns zum Kampf gegen das Schlechte, sie nähren in uns den Glauben an das Göttliche im Menschen«. Dieses Lesebuch möchte die Geschichte Deutschlands im letzten Jahrhundert aus der Sicht der Menschen spiegeln, die um und unter der wechselvollen Geschichte litten.

Stefan Zweig schreibt in »Die Welt von Gestern – Erinnerungen eines Europäers« zu den Ereignissen bis zum Zweiten Weltkrieg: »Jeder von uns, auch der Kleinste und Geringste, ist in seiner innersten Existenz aufgewühlt worden von den fast pausenlosen vulkanischen Erschütterungen unserer europäischen Erde«. Um wie viel mehr trifft dies auch auf die Nachkriegszeit zu, in der die Landkarte Europas erneut radikal verändert wurde. Nationales und hegemoniales Denken des 19. Jahrhunderts bestimmten die Verhandlungen des Versailler Vertrages, der mit seinen willkürlichen Grenzziehungen und der Schaffung neuer Staaten zu keiner Befriedung, sondern maßgeblich zum Ausbruch eines noch schlimmeren Weltkriegs führte. Und auch der Waffenstillstand 1945 führte nicht zu einer Befriedung Europas und der Welt, sondern zu seiner Teilung und dem Kalten Krieg zwischen dem freien Westen und der Sowjetdiktatur mit ihren Satelliten. Die Berlinkrise 1948, der 17. Juni 1953, der Ungarnaufstand 1956 und der Prager Frühling 1968 drohten Europa zu einem erneuten Krieg zu entflammen. Und kaum ruhten die Waffen in Europa, da gingen die Kriege in Indochina, Korea und Vietnam weiter, um nur die bekannteren Kriegsschauplätze zu nennen.

Dass Deutschland von 1945 bis 1989 in einen freiheitlichen Staat und eine kommunistische Diktatur geteilt war, erscheint der Generation nach 1989 fast so fremd wie die Geschichte des »Dritten Reiches«. Und doch ist diese friedliche Revolution in Deutschland, die den Eisernen Vorhang zerriss, ein eigentlich unfassbares Ereignis. Erst mit der Wiedervereinigung hat Deutschland 1990 auch seine völkerrechtliche Souveränität erlangt. Die Überwindung der Teilung Deutschlands war zugleich die Überwindung der Teilung Europas. Aus dem Europa der zwölf von 1989 ist heute ein Europa der 28 Staaten geworden. Weitere Länder vor allem aus Mittel- und Osteuropa sowie die Türkei – als einziges nichtchristliches Land – stehen in der Warteschlange.

Haben wir in Europa aus den Erfahrungen des letzten Jahrhunderts genug gelernt, um unsere europäische und globale Zukunft in Frieden und Freiheit zu gestalten, oder schreiben wir erneut das Jahr 1914? Haben wir wirklich verstanden, dass durch die amerikanische Entwicklung der Atombombe und ihren ersten und bisher einzigen Einsatz 1945 in Hiroshima und Nagasaki ein atomares Wettrüsten begann, dessen Bedrohung durch die Verbreitung von Atomwaffen ständig zunimmt? Die Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union 2012 ist hoffentlich ein gutes Zeichen dafür, dass die Länder Europas aus ihrer Geschichte gelernt haben.

Dieses Buch möge einen Beitrag dazu leisten, die europäische Geschichte des letzten Jahrhunderts zu verstehen – nicht mit den Augen des »wissenden« Historikers, sondern mit den Augen derer, die die jeweilige Zeit miterlebt und durchlitten haben. Schon meine Generation (Jg. 1957) hat von den existentiellen Nöten der Eltern- und Großelterngeneration nicht mehr viel mitbekommen. Uns fehlt schlichtweg das Verständnis für die extremen sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Umstände, die die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmten. In Europa leben wir heute in einer Zeit, in der Krieg, Hunger, Terror fast ausschließlich nur noch in Film und Medien vermittelt werden. Zum Glück. Doch das darf uns nicht dazu verleiten, über Menschen zu richten, die diesen Schrecken ausgesetzt waren und trotzdem ihr Leben leben mussten –, und sollte anregen zu kritischer Sicht heutiger Ereignisse und ihrer Protagonisten. Die Lektüren zu diesem Buch haben mich zutiefst dankbar dafür gemacht, nach den Grauen des Zweiten Weltkrieges in Freiheit und Rechtsstaatlichkeit aufgewachsen zu sein. Wenn der Leser dieses Buches diese Dankbarkeit spürt, hat das Buch seinen Sinn erfüllt.

Mein Dank gilt all jenen, die mich durch ihre konstruktiven Gedanken und Anregungen zu diesem Buch ermutigt und mir bei der Umsetzung geholfen haben.

Gevinon von Medem

im April 2014

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