Читать книгу Seligenstädter Einladung - Группа авторов - Страница 12
ОглавлениеZielgerade, krumm genommen
Natalie Himmelsbach
S
eligenstadt beginnt für mich gewöhnlich am frühen Abend hinter den Autohäusern und Discountern, bevor ich zur Buchhandlung gehe. Supermarkt sagt übrigens keiner mehr, eine Folge des verlorenen Glaubens, so wenig wie Wondergirl und Supermann, an die glaubt auch keiner.
Kurz vor der evangelischen Kirche kann man umsonst parken. Am Parkdeck gegenüber ist eine vollautomatische Toilette mit der erstaunlichen Kraft zur sanitären Selbsteinsaugung dessen, der sie betritt.
Auf dem Friedhof vorne rechts hängt der goldene Mann von seinem Ausguck und schaut, wo ich nur wieder bleibe. Dahinter hohe Basiliskentürme. Wer zu lang auf Engel schaut, wird zu Stein oder blind.
Jetzt das steile Ufer die Mauer lang. Im Fluss kann man die Augen baden. Wo die Angler stehen, schaukelt im Wasser vor ihnen die angebundene Barke. Bei Tag ruhen sich hier die Enten aus, wenn ihnen vom Paddeln die grellen Füße weh tun. Abends hocken Krähen auf dem Boot herum und lärmen. Sie finden immer etwas schreiend komisch, ehe sie schlafen gehen.
Wenn sie genug haben, kreisen sie um den Turm und picken nach dem Engel auf der Spitze, aber er rückt nicht zur Seite. Sollen sie doch zu ihrem Schlafbaum fliegen: er braucht den Platz für sich und solch laute Gesellschaft schon gar nicht. Die Kirche ist nur ein paar Schritte nahe, gleich hinter dem offenen Tor in der Gartenmauer.
Heute nicht, heut wendet der Weg, entfernt mich. Keine Birne fällt vom Spalier, kein grünes Artischockenherz blüht in der Mitte des Gartens, kein Kaffee wird auf die Terrasse getragen, kein Eis auf die Hand für mich. Stattdessen wetteifern Schaufenster und Speisekarten, mich einzufangen. Niedrigpreise für Textilien, höhere für Kunsthandwerk. Sitzbuddhas verfetten für 12,99 €, dazu winzige Zenrechen und Kiesharken. Keine glückliche Katze wedelt mit der Pfote, nur der Pennerhund am Markt wittert mit sehr langer Schnauze die Streunerin. Die Bäckerei schließt. Der stille große Flötenmann verstaut das Instrument im Rucksack und trägt seine Haut vom Markte. Der Mann geht schnell. Ich folge ihm, ich möchte pünktlich sein.
Wir biegen in die Bahnhofstraße ein.
In zwei Minuten bin ich da.