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Heimatbesuch

Rolf Silber

»D

e Maa«, sagt der Mann hinter mir in einer exzellenten Mischung aus Südhessisch und kleinen Einsprengseln des Mainfränkischen, »de Maa iss doch’ n scheene Fluß.« Was zweifelsohne wahr ist. Schließlich fahren wir gerade, sehr früh am Morgen, in einem flachen Fischernachen, unter freundlichem Brummen eines kleinen Außenbordmotors, eben jenen schönen Main hinunter.

Wir, das sind der Sprechende, der das Boot steuert, Mitglied der örtlichen Fischerinnung, dazu mein Kameramann mit seinem Gerät, außerdem der Eigentümer des Nachens, der letzte professionelle Mainfischer, der vorne im Boot zwischen seinen Netzen sitzt. Wir sollen eine kleine Dokumentation drehen, über eine lokale Tour. Und ich habe leichtsinniger Weise das Thema »Von Seligenstadt nach Frankfurt« vorgeschlagen. Vielleicht, weil ich selbst schon lange in der Main-Metropole lebe und ausgerechnet in Seligenstadt geboren bin, deren apartes Häuserprofil gerade an uns vorbeigleitet. Fast als würden nicht wir uns auf dem Fluss bewegen, sondern mächtige Kulissenschieber die Stadt vor unseren Augen entlang ziehen.

»Als Nostalgiker bin ich ja ungeeignet«, denke ich noch einige Minuten zuvor, aber nun, nun hat sie mich gekitzelt, die Nostalgie. Die ersten drei Jahre eines Lebens sind bekanntlich von Wundern, Schrecken und Missverständnissen geprägt, und hier ist es nicht anders. »Da bist Du geboren«, hat der Vater mal gesagt und zum großen, steinernen Wasserturm der Stadt, nahe des Bahnhofs, hochgedeutet. Und so in meinen kindlichen Kopf die Vorstellung eingepflanzt, als eine Art Kaulquappe in dem riesigen Tank im Inneren des Turms zur Welt gekommen zu sein. Natürlich war das darunter liegende Krankenhaus gemeint, aber trotzdem. Das Bild hat sich nie verloren und behielt immer etwas märchenhaft Berührendes: Ich, der Seligenstädter Aquamann. Aber der Turm repräsentiert eben auch Schrecken. Immer noch im Stande des frühkindlichen Verzaubertseins, hat man mich kleine Kaulquappe im dortigen Krankenhaus zweimal operiert. Was unter rabiater Chloroformbetäubung stattfand. Wer das noch kennt, weiß, man erinnert sich weniger gerne daran. Vielleicht deshalb ist die Erinnerung an Seligenstadt bisweilen zwiespältig, wofür die Stadt gar nichts kann.

Wenig später, auf dem Fluss, wird dieser Gedanke vertrieben sein, als der Fischer sich über die Absurditäten des Naturschutzes beschwert und mit anklagendem Zeigefinger auf ein Spalier von - selbstverständlich extrem naturgeschützten - Graureihern am Ufer deuten wird, die dort seelenruhig sitzen. Um ihre Rolle als wesentliche und nervtötende Beutefeinde der Mainfischer zu erfüllen. Sehr elegante Vögel, ohne Frage, aber der Hauch dieses im Krankenhaus gezeugten Gefühls, selbst eine Kaulquappe zu sein, lässt mich die Tiere plötzlich sehr skeptisch beäugen. Fressen Graureiher auch Kleinstamphibien im Quappenstadium als Beilage zum Fisch?

Jetzt aber Blick zurück auf die Basilika, die von der aufgehenden Sonne befeuert wird und auf die Fähre, die hinter uns den Fluss quert. Die Fähre, für mich auf immer verbunden mit damals noch erlaubten Ausflügen zum sogenannten Bergwerksee, wo wir unter strengen Kommandos des Vaters ein Wunderwerk der Zeltbaukunst errichteten. Der wunderlichste Aspekt des einfach über ein Trägergestell gespannten Tuches bestand darin, dass es uns bei Gewitterstürmen nicht sofort wegflog.

Man konnte sich als familiäres Fünferpack darunter quetschen und warten, bis das Regenwasser durch versehentliche Berührung des Stoffs von Innen doch durchkam, was den Kommandanten von Zelt und Familie zum Schreien veranlasste, woraufhin ich, noch ein schreckhaftes Kleinkind, mich versehentlich auf den Picknickkorb mit den gekochten Eiern setzte. Was den Vater zu einem noch größeren Tobsuchtsanfall verleitete, durch den er nun selbst die Zeltwand berührte. Wodurch noch mehr Wasser eindrang. Mir als geträumter Kaulquappe nicht unbedingt nur unangenehm, aber der Familienausflug war in mehrfacher Hinsicht ins Wasser gefallen. Aber: Ich hatte eine erste Vorstellung, wie aus kleinem Anlass große burleske Szenen entstehen können. Perfekte Schulung, wenn man später Komödien machen wollte.

Nun hat mich die Nostalgie voll erwischt. Durch meine Erinnerung fahren rote Schienenbusse zum Weihnachtsmarkt nach Hanau, Spaziergänge durch die Altstadt zum angeblich besten Eiscafé nördlich der Alpen und vage Bilder von einer Zeit, in der sowohl das berühmte örtliche, nur alle vier Jahre ausgerichtete Geleitsfest und Karneval gemeinsam stattfanden. Wenn kleine Jungs beim Anblick von Kostümparaden Telleraugen kriegen sollen, dann ist Seligenstadt der ideale Ort dafür. Fanfarenklänge zwischen Fachwerkbauten, das Stampfen der Pferde, der Jubel der Menge und darüber liegt der Maischegeruch aus den örtlichen Brauereien. Ich will ja schon immer einen historischen Film machen, auch wenn man mich nicht lässt. Vielleicht findet sich ja hier der Grund für mein leider durch frappante Senderblindheit und Mittelknappheit frustriertes Sehnen. Mal die Damen und Herren vom TV nach Seligenstadt einladen?

Wenig später mache ich wieder Telleraugen, als ich dem Fischer zuschaue, wie er in einem Bogen des Flusses, die Stadt hinter uns immer noch sichtbar, zum ersten Mal seine Netze in weitem Schwung auswirft. Klischeeverdacht und einfachste Selbstverständlichkeit zugleich. Mein Kameramann ist begeistert, und weil wir damals noch mit Film drehen schnurrt sein Gerät begeistert und schlürft die Bilder ein. Aber: Keine Beute im Netz. Vorerst.

Schon bereiten wir uns darauf vor, belehrt zu werden, dass nur der Fischreiher daran schuld sein könnte. Aber nein: »De Fisch steht halt aafach wo er will, de Fisch«, brummt der Herr von Netz und Nachen. Frühmorgendliche Philosophieunterrichtung. Seligenstädter können mit gelegentlichen Misserfolgen gut umgehen. Weiß ich von mir selbst. Die Kaulquappe in mir fühlt sich jetzt aber wohl, ja fast wohlig, hier draußen auf dem ruhigen Wasser, und erinnert sich des Spruchs: »De Maa iss doch’n scheene Fluss.« Ja, stimmt. Hier, nahe der Stadt, sowieso.

Seligenstädter Einladung

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