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Geleitwort: Gebt mir einen Virus und ich werde die Welt aus den Angeln heben – ein philosophischer Kommentar

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Olivier Del Fabbro

Im Jahre 1982 schreibt der französische Philosoph und Soziologe Bruno Latour einen Artikel unter dem Titel »Gebt mir ein Laboratorium und ich werde die Welt aus den Angeln heben« (Latour 2006). Fast vierzig Jahre später kann analoges zur aktuellen Lage der »Welt« behauptet werden, die durch das wilde Treiben von einem ihrer Bewohner, des neuartigen Coronavirus, betroffen ist.

In den Science and Technology Studies ist Bruno Latour bekannt als Mitbegründer der Akteur-Netzwerk-Theorie, die davon ausgeht, dass jegliche Realitätsform strukturiert ist durch das Verhalten von Akteuren, die in Interaktion zusammen sogenannte Netzwerke bilden. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Akteure und Netzwerke technisch, natürlich, menschlich oder sozial sind. Was zählt, ist einzig und alleine, was Akteure tun. Latour wollte die »Welt aus den Angeln heben«, indem er zeigt, dass kleine Akteure, wie zum Beispiel die von Louis Pasteur erforschten Mikroben Ende des 19. Jahrhunderts, unser gängiges Verhältnis von Innen und Außen, Mikro- und Makrostruktur hinterfragen. Das heißt, erstens wurden die von Pasteur erforschten Mikroben samt Laboratorium nach außen in die Gesellschaft transportiert, indem Pasteur seine Experimente vor den Augen der Öffentlichkeit demonstrierte. Zweitens, und wichtiger für unseren Kontext, wollte Latour zeigen, inwiefern es Pasteur gelang, mit Hilfe seiner Mikroben gesamte Diskurse und politische Maßnahmen zu beeinflussen. Winzig kleine Mikroorganismen werden zu Akteuren, die makroskopische Netzwerke wie Politik, Journalismus und Medizin beeinflussen und gar lenken (Latour 2011; Sarasin et al. 2007).

Ist Latours Geschichte nicht passend, um sie auf die Folgen des neuartigen Coronavirus-Ausbruchs projizieren zu können? Wir müssen nur ein Wort durch ein anderes ersetzen: das Laboratorium durch das Virus. Während Pasteur noch darum bemüht war, ersteres nach außen an die Öffentlichkeit zu tragen, gewinnt das Coronavirus ganz ohne Petrischale und Wissenschaftler in weißen Kitteln an Prominenz und Mächtigkeit. Wer ab jetzt noch als Philosoph an der sogenannten »agency« nicht-menschlicher Akteure zweifelt, muss hinter dem Mond leben. Denn nicht nur verbreitet das Virus sich biologisch rasch, es hebelt zugleich die Wissenschaft, Politik, Wirtschaft, das Soziale, ja fast möchte man sagen: »das Leben an sich«, zumindest das menschliche, aus. Dass letzteres passiert, ist eine Tragik der Natur, eine Katastrophe, das Traurigste schlechthin. Dass aber alles andere auf der Kippe steht, ist selbstverschuldete Unmündigkeit von Einzelnen und Gesellschaften, denen es schwerfällt, aus der Geschichte zu lernen.

Die in Krisenzeiten von ganz oben vorgegeben sozialen Verhaltensregeln unterscheiden sich je nach Land nur graduell, aber sie zielen alle auf das gleiche ab: Ansteckungen zu vermindern. Was am Leben gehalten werden muss, ist aber nicht nur das Leben selbst, sondern auch das Leben des Gesundheitssystems. Betten und Beatmungsgeräte müssen bereitgestellt werden können, die Notaufnahme darf nicht überlastet werden, Kliniken dürfen nicht selbst zu Infektionsherden werden, und so weiter. Schließlich gibt es ja auch noch »normale« Kranke, die einer Behandlung bedürfen. Doch wen gilt es nun zu retten: das Gesundheitssystem oder das Individuum, oder beides? Aber Moment mal: Sollte das erste nicht für letzteres da sein? Seit wann müssen denn Individuen das Gesundheitssystem am Leben halten? Dass immer noch Menschen unsicher sind, mit welcher Krankheit man sich in die Notaufnahme begibt und mit welcher man besser beim Hausarzt aufgehoben ist, kommt leider häufig vor; auch schon vor Corona-Zeiten. Doch liegt das Problem wirklich bei diesen Menschen? Handelt es sich hier um die gleiche Problematik wie beim Toilettenpapier? Hamstern bis zum geht nicht mehr, und wenn es hart auf hart kommt und der Staat und die Einkaufsläden Menschen im Stich lassen, dann ist wenigstens noch Toilettenpapier da, um sich vor Gewalt, Chaos und Elend zu schützen. Alle diejenigen, die zu Beginn der Ausgangssperren versucht haben, Toilettenpapier zu kaufen, weil sie eigentlich ganz »normal« weiter konsumiert haben und nur wie immer das gekauft haben, was nötig war, wissen, dass es hier nicht um eine zynische Übertragung geht, sondern die tatsächliche Realität im Supermarkt. Wer also nicht sozialdarwinistisch, sondern nüchtern und vernünftig agiert, hat scheinbar das Nachsehen.

Doch ist die Instabilität des Gesundheitssystems wirklich mit einem fahrlässig übertriebenen Einkauf von Toilettenpapier vergleichbar und auf den fälschlicherweise in der Notaufnahme gelandeten Kranken zurückführbar? Wohl kaum: Es hat eher etwas mit der Krisensituation zu tun, in der sich das unvorbereitete Gesundheitswesen befindet. Wir werden darauf zurückkommen.

Unmündigkeit und insbesondere Misswirtschaft gilt auch für das Auslagern von Produktionsstätten jeglicher Waren ins Ausland, unter anderem von Antibiotika, die seit geraumer Zeit nicht mehr in Europa, sondern in China produziert werden (Salz 2020). Werden Arbeit und Produktion hier lahmgelegt, wird auch die Lieferkette an Antibiotika unterbrochen. Klingt einfach und logisch, ist aber fatal, wenn Quarantäne im Produktionsland angesagt ist. Das alles ist sogar derart einsichtig, dass der französische Präsident Emmanuel Macron sich in seiner ersten Krisenrede an die Nation teils eines sozialistischen, teils eines martialischen Vokabulars bemächtigt hat, um den Franzosen seinen Beistand zu offenbaren (Wiegel 2020). War das jetzt Zynismus oder wirklich so gemeint? Wir nehmen es mal so hin.

Während Macron zum Teil-Sozialisten mutiert, verteilt der amerikanische Präsident Hilfsschecks und treibt das Staatsdefizit der USA in noch exorbitantere Höhen. Hatten wir das nicht schon mal? Richtig, in den 1920er Jahren, vor allem in Deutschland. Die Konsequenzen der damaligen Weltwirtschaftskrise in einer Hyperinflation ist den meisten wahrscheinlich präsent, auch wenn fast alle derjenigen, die sie miterleben mussten, nicht mehr unter uns sind. In solchen Kistenzeiten täte es wohl gut, ein paar selbsterlebte Anekdoten als Warnung zu erhalten.

Wenn man Superreiche, egal ob Privatperson oder Betrieb, nicht zur Steuerkasse bittet, ist man in Krisenzeiten von deren Güte abhängig. Ob die Spende von 100 Millionen US-Dollar von Amazon-CEO Jeff Bezos zynisch zu verstehen ist, weiß wohl schlussendlich nur er selbst. Die Summe klingt erstmal nach viel, repräsentiert aber nur 0,1 % von Bezos’ Gesamtvermögen, das 123 Milliarden US-Dollar beträgt (Neate 2020).

Welche langfristigen Konsequenzen der Ausbruch haben wird, weiß keiner so richtig. Auch nicht in den USA, einem Land, in dem die die nach kurzer Zeit wieder ausgesetzte Gesundheitsversicherungspflicht immer noch für heftige Grabenkämpfe zwischen Demokraten und Republikanern sorgt und das durch die Opioidkrise sowieso schon am Anschlag ist (Schmitt-Sausen 2018). Die USA sind das erste westliche Land, das seit dem Zweiten Weltkrieg eine sinkende Lebenserwartung zu verzeichnen hat (von Lutteroti 2019). Hatte Donald Trump bezüglich der Opioidkrise nicht den medizinischen Notstand ausgerufen? Und jetzt mit Corona schon wieder? Ein Notstand des Notstands sozusagen. Auch in dem so stark von Corona betroffenen Italien kriechen die Reichen aus ihren Löchern. Silvio Berlusconi und die Agnellis spenden vor allem an ihre geliebten Regionen, der Lombardei und dem Piemont. Die anderen kriegen weniger oder gar nichts. Es muss ja gehamstert werden in Zeiten der Quarantäne.

Gerade einer der Superreichen aus dem Silicon Valley hat es vorausgesagt: Bill Gates. In einem TED-Vortrag spricht er von der zukünftigen Gefahr der Viren und die Möglichkeiten, Pläne und Strategien, nach denen sich Staaten organisieren sollten, um bei Ausbruch zusammenarbeiten zu können und vielseitig und flexibel auf eine pandemische Ausbreitung zu reagieren (Gates 2015). Doch ist wirklich irgendetwas im Gesundheitssystem der USA, in Europa oder bei der WHO in dieser Richtung passiert? Wohl zu wenig.

Krankenbetten bereitstellen, Strategien und Pläne logistisch austüfteln, Personal mobilisieren, Ausnahmezustand ausrufen. Wir befinden uns aktuell also im Krieg. Dieser Wortgebrauch taucht immer wieder auf: bei Macron in seiner bereits erwähnten Krisenrede zur Nation; auch Donald Trump spricht vom Kriegszustand und identifiziert das Virus zugleich als »chinesisch« – als könne ein Virus eine Nationalität haben (Bennett und Berenson 2020). Sogar im Vatikan steht Kriegsmetaphorik auf dem Programm. Denn auch Papst Franziskus spricht in einer Sendung auf dem italienischen Sender Rai Uno von Ärzten und Krankenpflegern, die wie Soldaten an der Front sterben (Rai Uno 2020). Im JAMA – Journal of the American Medical Association – einem renommierten Medizinjournal, kommen die sogenannten Soldaten, sprich Ärzte, von der Front, das ist hier die Situation in den Kliniken, direkt zu Wort, um Berichterstattung zu leisten (JAMA 2020). In der Tat hat man seit dem Ausbruch des Virus logistisch auf Hochtouren gearbeitet, es wird medizinisch gerungen und gekämpft. Frontberichte fassen zusammen, mit welchen Strategien das medizinische Personal den Feind zu besiegen versucht hat und wie es zuging, als Patienten zu retten waren oder verloren gegeben werden mussten.

Vor einigen Jahren hatte Bruno Latour diesbezüglich wiederum den richtigen Riecher. In seinem Buch »Face à Gaïa« beschreibt er nämlich, wie der Klimawandel die menschlichen und nichtmenschlichen Bewohner des Planeten Erde in einen Hobbesschen Naturzustand des Krieges katapultiert (Latour 2015). Die momentane Coronakrise zeigt, dass es nicht einmal des Klimawandels bedarf, um im Naturzustand des Krieges zu sein. Wer die Zusammenhänge von Latours Akteuren bezüglich Ökosystem und Coronavirus mit eigenen Augen sehen will, muss nur nach Venedig schauen (Spary 2020). Durch den Ausnahmezustand ist die Lagunenstadt mittlerweile frei von Motorbooten und das Wasser kristallklar wie nie. Wo vorher verschmutztes dunkles Wasser und darin schwimmende leere Dosen von Touristen vorzufinden waren, sieht man jetzt bis auf den Grund. Sogar die noch wenig übriggebliebenen Bewohner der Stadt sind verblüfft, was alles möglich ist. Doch trotz möglicher positiver Konsequenzen der Coronakrise für das Ökosystem müssen die Wissenschaftler, die in Zeiten Pasteurs noch derart damit beschäftigt waren, ihre Funde in die Welt hinauszutragen, erstmal einen Impfstoff finden. Jetzt müssen sie also nicht mehr um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit ringen. Vielmehr warten alle wie gebannt auf das nächste Heilmittel. Denn sie sind, neben Ärzten und Pflegern, unsere neuen Helden im Kampf gegen die Natur. Die alten Soldaten kämpfen dabei nicht mehr an erster Front, sie werden sozusagen eingezogen, um Sozialarbeit zu leisten.

Es gibt nicht viel, was man in Zeiten einer Pandemie und angesichts des Eingeschlossenseins in den eigenen vier Wänden mit Partner, Kindern oder Spielkonsole tun kann. Abwarten, Tee trinken und sich an die Regeln halten. Was bei Handlungsohnmacht aber manchmal helfen kann, ist ein Perspektivenwechsel, nicht nur um die jetzige Situation psychisch zu meistern, sondern auch um die so ungewisse Zukunft adäquater gestalten zu können.

»Wenn du deinen Feind und auch dich kennst, brauchst du nicht die Ergebnisse von einhundert Kämpfen zu fürchten […]« (Sun Tzu 2007, S. 30), schreibt der chinesische General Sun Tzu in seinem berühmten Text über die Kunst des Krieges. Als die USA in Vietnam einmarschierten, mussten sie sich schnell eingestehen, dass sie den Ablauf des Krieges auch aufgrund der sogenannten asymmetrischen Kriegsführung des Gegners völlig falsch eingeschätzt hatten (Marlantes 2011). Die Großmacht USA musste sich aufgrund der vietnamesischen Strategie des Guerillakrieges schließlich geschlagen geben. Entgegen Sun Tzus Empfehlung kannten die USA ihren Feind also scheinbar nicht gut genug; nicht, weil sie nicht wussten, wer er ist, sondern weil sie seine Strategie unterschätzt hatten. In der aktuellen COVID-19-Situation, und noch bevor sich die Mehrheit der Menschen in Quarantäne wiederfand, scheint es hingegen genau umgekehrt. Man hatte – und hat immer noch – alle strategischen Mittel und das nötige Fachwissen, das Virus potentiell zu bekämpfen, aber man wusste gar nicht, wer der Feind ist. Bruno Latour und Bill Gates haben es vorgemacht, aber keiner hat wirklich hingehört. Jetzt erhalten die Texte von Latour und der Vortrag von Gates plötzlich neue Relevanz.

Das zeigt, dass, um wirklich zu realisieren, wo man steht, nicht nur ein radikaler Perspektivenwechsel zu vollziehen ist, eine kopernikanische Wende, sondern auch, dass es erst einmal buchstäblich am eigenen Leibe weh tun muss. Im Gegensatz zur Aussage Latours geht es in diesem Perspektivenwechsel nicht mehr darum, die Welt aus den Angeln zu heben, sondern sich einzugestehen, dass die Welt dank aller Akteure sich selbst aus den Angeln heben kann.

COVID-19 - Ein Virus nimmt Einfluss auf unsere Psyche

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