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MENS SANA IN CORPORE SANO

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von Thomas Kolbe

Die Bettdecke summte und vibrierte. Marvin erwachte langsam. Sein Bewusstsein fand allmählich in die Welt zurück, wie ein Computer, der seine Programme hochfährt. Vielleicht bin ich auch nur eine künstliche Intelligenz in einer Simulation, dachte Marvin. Mit dem einprogrammierten Bedürfnis nach einer heißen Dusche und einer Tasse Kaffee. Egal, es wurde Zeit aufzustehen, notfalls auch in einer Simulation. Er strich mit der Hand über den Saum, um die Weckfunktion der Bettdecke abzuschalten und stieg aus dem Bett. Bevor er im Bad verschwand, startete er die Kaffeemaschine und den Syntho. Aufmerksam wartete er den MalWare-Scan und die Bestätigung der Firewall ab. Nicht bei der Kaffeemaschine natürlich, sondern bei dem Synthetisierer. Der war ständig online, damit die Gesundheitsbehörden jeden Morgen die Infos für die aktuell notwendigen Antikörper und Zytokine überspielen konnten. Man wollte ja möglichst den Tag überleben. Vor einem Jahr hatte sich so ein Scheiß-Hacker über seinen Toaster, als der gerade online war, um Brot nachzubestellen, in sein Haussystem gehackt und den Syntho umprogrammiert. Marvin hatte sich damals gleich drei der zu der Zeit umlaufenden Seuchen geholt, war vier Wochen komplett ausgeschaltet. Die Medis mussten sein komplettes Immunsystem rebooten. War ein ziemlicher Mist. Deswegen achtete er peinlich genau auf den Sicherheitsstatus seines Synthos und dass er genug Nachfüll-Kartuschen mit den notwendigen Grundsubstanzen im Haus hatte.

Als er wieder aus dem Bad kam, hatte das Gerät seine Arbeit bereits erledigt: In einer kleinen Plastikampulle hatten sich wenige Milliliter einer durchscheinenden bläulichen Flüssigkeit gesammelt. Marvin nahm die Ampulle, lud sie in seinen Injektor, setzte ihn gegen den Oberarm und drückte ab. Mit einem Zischen schoss das Gerät die Flüssigkeit in seinen Körper. Es fühlte sich an, als ob jemand einen Eiswürfel auf seine Haut gehalten hätte.

So, für diesen Tag war er gefeit gegen den ganzen lästigen bis tödlichen Mikrokosmos, der da draußen auf ihn lauerte. Er schätzte sich glücklich, solch ein Gerät daheim zu haben. Alle anderen mussten an den öffentlichen Synthos anstehen und konnten nur hoffen, sich nicht schon während der Wartezeit mit irgendetwas zu infizieren. Die täglichen Impfungen waren kostenlos, genauso wie die morgendlichen Updates für die Heimgeräte. Dieser Service kam das öffentliche Gesundheitswesen um einiges günstiger, als ständig die Leichen von denjenigen abzuholen, die es nicht mehr bis zu einer San-Station geschafft hatten. Von den volkswirtschaftlichen Folgen solcher Verluste einmal ganz abgesehen.

Marvin zog seinen Overall an. Knallorange, neueste Mode, Guantanamo Stile. Mit einem einer flachen Kette nachgebildeten Gürtel raffte er die Mitte etwas zusammen. Das Material der Kleidung war stichfest. Nicht unwichtig heutzutage, wo Spinner in den Straßen herumliefen, die Passanten willkürlich mit Injektionsnadeln stachen, um sie mit psychotropen Drogen oder gefährlicher DNA zu kontaminieren. Nur so zum Spaß. Bei den Drogen kamst du dir plötzlich erleuchtet vor oder sahst dich deinem Gott – egal, wie der gerade hieß – gegenüber. Nicht gerade lustig, sich in dieser Weise in aller Öffentlichkeit bis auf die Knochen zu blamieren, aber zumindest harmlos. Die DNA-Sonden waren dagegen übler. Transposonen, springende genetische Elemente. Früher haben sich die Dinger zufällig irgendwo ins Erbgut eingebaut und dann wieder herausgeschnitten und woanders eingebaut und so weiter. Haben mit deinem Erbgut Ping Pong gespielt. Heutzutage können die Freaks vorgeben, wo sich die Dinger einbauen. Mit Vorliebe in irgendwelche Gene, die Krankheiten auslösen. Da spielt plötzlich dein Blutdruck verrückt und wenn du das mitbekommst und dir den passenden Blutdrucksenker vom Syntho herstellen lässt, hast du plötzlich Diabetes. Kaum hast du Insulin hergestellt, hast du Osteoporose, dann bist du farbenblind, hast kein Kurzzeitgedächtnis mehr und so weiter. Zum Glück lassen die Transposonen nach einigen Tagen nach, haben sich sozusagen totgelaufen. Na besser die, als man selber.

Marvin klipste den Compi an den Gürtel und verließ die Wohnung. Bis zur Bahn waren es nur ein paar hundert Meter. Vor sich auf dem Gehweg sah Marvin einen obdachlosen Bettler sitzen. Automatisch fasste er an den Gürtel, um den Blocker zu aktivieren. Mist! Er griff ins Leere. Hatte er ihn doch in der Eile zu Hause vergessen. Egal, musste er halt zwei Meter Sicherheitsabstand zu dem Bettler halten. Das sollte ausreichen. Viele von denen hatten nämlich einen Emoter, der über modulierte Wellen bei Passanten Emotionen erzeugte. Man hatte schon Menschen gesehen, die tränenüberströmt vor einem Bettler standen, die Hand mit dem personalisierten Chip unter der Haut an der Seite der Zahlkonsole und eine Übertragung von Währungscredits nach der anderen autorisierten. Die Polizei bemerkte so etwas über die Straßen-Cams meist recht schnell und zog die Gauner aus dem Verkehr. Aber wer als Bettler geschickt vorging, stellte die Geräte nur schwach ein, sodass keiner etwas merkte und es nach reiner Mildtätigkeit aussah, wenn fast jeder Passant etwas gab. Dagegen hatte sich Marvin den Blocker angeschafft. Der neutralisierte diese Wellen. Na, heute musste Abstand reichen. Als Marvin an dem Bettler vorbeiging, sah er dessen Schild »Habe keine Bandbreite«. Innerlich lachte Marvin empört auf. Und wie funktioniert denn wohl deine Zahlkonsole ohne Netzzugang?! So schlecht kann deine Bandbreite gar nicht sein, wenn die Überweisungen klappen.

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