Читать книгу Pandemie - Группа авторов - Страница 29

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»Das soll es auch noch eine Weile bleiben, deshalb habe ich es ausgezogen. Wenn ich im Zoo auf Beutezug gehe, darf ich nicht wie eine aus der Gosse aussehen, sonst schmeißen sie mich raus.«

»… Lösegeld. Is ja nich so, als hätten wir was zu verschenken, oder?«

Lenina hörte, was Tis sagte und wusste, dass die Männer am Grill über sie sprachen. Mit einem Mal wurde ihr warm. Der Gedanke, dass man sie hier als Geisel festhalten könnte, um Geld zu erpressen, war ihr nicht gekommen, aber abwegig erschien er ihr nicht. Was hieß da nicht abwegig? Von irgendetwas mussten diese Leute ja leben. Sicher reichten die paar angenagten Teile, die sie aus Mülleimern erbeuteten, nicht aus, um satt zu werden. Womöglich setzten sie den Blinden in Fußgängerzonen und ließen ihn betteln. Vielleicht klauten sie, ganz sicher plünderten sie auch die Container hinter den Lebensmittelläden. Reichte das? Hasen erbeuteten sie unter Garantie nicht jeden Tag. Ob sie wohl auch Ratten und Tauben aßen? Lenina merkte, dass sie nichts über diese Leute wusste, rein gar nichts. Es kam ihr seltsam vor, denn es handelte sich um Menschen wie sie, die noch dazu in derselben Stadt lebten. Wie konnte es sein, dass sie ihr bisher nie aufgefallen waren? Lief sie so blind durch die Gegend oder kreuzten sich ihre Wege einfach nicht?

Die beiden Griller zerlegten die Hasen und verteilten die Stücke an alle. Während des Essens herrschte eine gefräßige Stille. Als Anti sich die fettigen Hände an seiner Hose abrieb, schüttelte es Lenina und um dieses Gefühl nicht nach außen auszustrahlen, fragte sie: »Gegen was bist du eigentlich, Anti?«

Der Angesprochene musste offensichtlich erst über diese Frage nachdenken, denn er ging wortlos zum See und zog ein paar Flaschen Bier heraus, die sie dort zum Kühlen versenkt hatten. Er bot jedem eine an – die bis auf Lenina auch von allen angenommen wurden – und setzte sich ihr gegenüber. Er nahm einen tiefen Schluck, rülpste laut und provokant und antwortete: »Ich bin gegen alles!«

Lenina schüttelte den Kopf und fasste nach: »Wie gegen alles? Geht das?«

»Klar, geht das. Ich bin gegen alles, was die Politik macht.«

»Na ja, das sind Leute, die ihr gewählt habt.«

»Nee! Ich gehe schon lange nicht mehr wählen.«

»Dann darfst du dich auch nicht beschweren«, meinte Lenina mit unschwer zu erkennender Missbilligung.

Anti sah sie gönnerhaft an und das konnte Lenina leiden wie Hausarrest. »Was?«, fragte sie.

»Bringen sie euch das in der Schule bei? Demokratie, Wahlrecht, Mitbestimmung?«

Lenina nickte. »Natürlich wird das gelehrt, aber nicht nur Lehrer sprechen darüber, auch Eltern, Journalisten und alle anderen auch. Wer sein Wahlrecht nicht ausübt, der darf nicht mosern.«

»Wer will es mir denn verbieten? Du etwa?«

»Ich kann und will dir gar nichts verbieten, aber ich finde es nicht richtig, auf der einen Seite zu schimpfen und nichts gegen die angeprangerten Zustände zu unternehmen.«

»Ach, Mädchen, was glaubst denn du, was einer wie ich ausrichten kann. Überlege dir bitte mal, was eine Stimme von all den Millionen Stimmberechtigten ändern kann«, hier ließ er Lenina Zeit für eine Antwort, aber die blieb sie ihm schuldig. »Nichts, rein gar nichts! Das ist wie ein Tropfen im Ozean. Wir haben keine Lobby. Wir haben keine Politiker, die sich für uns einsetzen, denen geht es am Arsch vorbei, wenn wir im Winter erfrieren …« Lenina unterbrach ihn: »Das stimmt doch gar nicht! Jedes Jahr heißt es aufs Neue, man würde euch Container hinstellen, die ihr nicht nutzt.« Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust. Der Mann sollte nicht denken, sie wisse überhaupt nichts über sie. Gut, ihre Kenntnisse hielten sich in den Grenzen dessen, was die Zeitungen ab und zu berichteten, aber das musste sie dem ja nicht auf die Nase binden.

»Weißt du, mit was für Auflagen das verbunden ist?«, fragte Anti, der seine Wut nicht verbergen konnte.

»Was?«

»Der Einzug in die Container.«

»Nein.«

»Dann schwätz hier nicht dumm rum!« Anti stand vor Zorn bebend auf und stampfte davon.

Hilflos sah Lenina Eve an und fragte: »Warum reagiert er so gereizt? Er hätte mir ja sagen können, was es für Auflagen gibt.«

»Wolf. Es geht um Wolf, unseren Hund. Anti hat ihn vor Jahren angeschleppt, da war er mehr tot als lebendig. Er hat ihn gepflegt und aufgepäppelt. Wir dachten nicht, dass er lernen würde, auf drei Beinen zu laufen, aber du hast ja gesehen, dass es sehr gut klappt. Er dürfte ihn nicht mit in die Unterkunft nehmen und er würde es niemals übers Herz bringen, ihn sich selbst zu überlassen. Außerdem müssen wir uns alle registrieren lassen, und das geht bei mir zum Beispiel nicht.«

Lenina hörte gespannt zu. So langsam kamen ihr die Lebensgeschichten dieser Leute so interessant vor wie ein spannender Roman. »Warum geht das bei dir nicht?«

»Ich bin ein zweites Kind …« Eve schien ihren Gedanken nachzuhängen und gab Lenina damit die Gelegenheit sich über das Gesagte zu wundern, denn eigentlich gab es keine zweiten Kinder. Es herrschte eine strikte Ein-Kind-Politik. Der Planet durfte nicht weiter in seiner Existenz bedroht werden, indem immer mehr Menschen auf ihm herumkrabbelten und nach Nahrung und Wasser verlangten. Die Maßnahmen galten schon so lange Lenina denken konnte. Sie schluckte, bevor sie nachfragte: »Was soll das heißen? Hatten deine Eltern eine Ausnahmegenehmigung?«

»Nein, die hatten sie nicht, sonst hätten sie mich wohl nicht in den Müll geworfen.« Eve stand auf und stampfte ebenfalls davon. Lenina kam sich dumm und unbeholfen vor. Sie blickte die alte Frau an. »Ich mache alles falsch, dabei interessiert es mich wirklich.«

»Es liegt nicht an dir, Kindchen. Die beiden werden durch die Fragen an eine schmerzhafte Vergangenheit erinnert. Ich erzähle dir, wie das damals war …«

Sie erzählte Lenina, wie sie auf der Suche nach Verwertbarem die Mülltonnen durchwühlte und durch ein leises Wimmern auf eine bestimmte Tonne aufmerksam wurde. Zuerst dachte sie, sie hätte sich getäuscht und der Deckel hätte sich im Wind bewegt und damit das Geräusch verursacht, aber dann war dieses Wimmern lauter geworden, als sie den Deckel zurückschob. Im ersten Moment sah die Tonne aus wie alle anderen. Mom schichtete den Müll vorsichtig um und sah in blitzeblaue Kinderaugen, die sie groß anblickten. Dieser Blick traf sie mitten ins Herz und sie nahm das Bündel schnell an sich. Sie ahnte, dass jemand ein zweites Kind hatte entsorgen wollte und eilte mit ihm davon. In der Gruppe, die damals noch viel größer war, stieß sie zuerst auf Ablehnung, aber jeder, den dieses hübsche Mädchen anlächelte, liebte es sofort wie sein eigenes Kind und so zogen sie es gemeinsam groß.

»… wir nannten sie Eve, weil sie für uns nicht das entsorgte zweite Kind, sondern unser erstes Mädchen war. Wir lieben sie, aber sie hat keine Papiere, mit denen sie sich ausweisen könnte und keiner von uns weiß, was man mit Menschen anstellt, die es eigentlich nicht geben dürfte.«

»Was sollte man schon mit ihnen anstellen? Man würde ihr wahrscheinlich Papiere ausstellen.«

»Na, Kindchen, da wäre ich mir nicht so sicher. Wenn du deinen Ausweis verlieren solltest, bekommst du garantiert einen neuen, aber Eve … Auf der Straße wird gemunkelt, dass diese Menschen – sofern sie denn tatsächlich so dumm sind, sich an den Staat zu wenden – auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Ob man sie in Arbeitslager steckt, für Auslandsdienste einteilt, oder tötet weiß ich nicht, aber ich will es auch lieber nicht herausfinden.«

Lenina wollte heftig widersprechen, aber die Worte blieben ihr im Hals stecken. Was, wenn diese Gerüchte stimmten? Konnte es sein, dass Menschen spurlos verschwanden, dass sie vom Staat beseitigt wurden? Durfte sie solche Gedanken überhaupt zulassen? Es brodelte regelrecht in ihr. Kein Mensch, erst recht nicht, die vom Volk gewählten Politiker, hatte das Recht, andere Menschen zu töten! Beim besten Willen konnte sie sich nicht vorstellen, dass die normalen Leute davon wussten. Ihre Eltern ahnten sicher nichts davon, oder? Nein! Das hätte sie auf jeden Fall mitbekommen. Wenn das stimmte, was auf der Straße gemunkelt wurde, dann musste die Öffentlichkeit davon erfahren, aber bevor man mit solchen Gerüchten hausieren ging, mussten sie auf ihren Wahrheitsgehalt untersucht werden. Und das konnte sie nicht, erst recht nicht ganz alleine, aber wer konnte ihr helfen? Wem konnte sie so abstruse Gedanken anvertrauen, ohne befürchten zu müssen, für verrückt gehalten zu werden? Sie überlegte fieberhaft. Ihre Eltern? Nein, nie im Leben würden die auch nur in Erwägung ziehen, darüber nachzudenken, geschweige denn, Nachforschungen anstellen. Auch in ihrer Verwandtschaft oder unter ihren Freunden kam ihr niemand in den Sinn, den sie hätte um Hilfe bitten können. Ihre Lehrer hätten sie womöglich gleich in eine Zwangsjacke stecken lassen. Einfacher schien es ihr, den Gedanken erst gar nicht zuzulassen. Wenn es wahr wäre, hätte man nicht längst davon gehört? Gäbe es nicht Untersuchungen? Müssten nicht alle Reporter hinter dieser Story her sein? Wahrscheinlich handelte es sich wirklich nur um ein Gerücht. Sie blickt die Alte an und sah sie lächeln. »Was?«, fragte sie.

»Ich weiß genau, was du gerade gedacht hast. Es ist bequemer, nicht darüber nachzudenken, nicht wahr?«

Lenina fühlte sich ertappt. Konnte die alte Frau so einfach in ihren Zügen lesen? Was musste sie dann nur von ihr halten? Garantiert hielt sie sie für eine kleine dumme Göre.

»Mach dir keinen Kopf. Du handelst nicht anders als 99 Prozent der Bevölkerung. Wenn man den Kopf in den Sand steckt, sieht man nichts. Wenn man nichts sieht, besteht kein Handlungsbedarf. Viel angenehmer, als aktiv zu werden, sich womöglich selbst in Gefahr zu begeben …«

»Wieso in Gefahr begeben?«

»Du denkst nicht im Ernst, dass die Politik untätig zusehen würde, wenn Geheimnisse aufgedeckt werden? Wenn Unruhe gestiftet würde?«

»Wenn die Zeitungen darüber berichten …«

»Dazu müsste irgendjemand denen erst einmal eine Story liefern, die hieb- und stichfest ist. Wenn das der Fall wäre, könnte vielleicht ein Umdenken stattfinden, aber eine Garantie gibt es nicht. Ich glaube, viele Leute ahnen, was in diesem und anderen Ländern tagtäglich passiert, aber sie schieben es von sich. Es betrifft sie nicht. Ihnen geht es gut, was sollen sie sich mit den Problemen anderer belasten?«

Lenina wusste, dass die Alte recht hatte. Sie malte sich aus, wie sie ihren Eltern von den Gerüchten berichten würde und ahnte, dass diese es als dummes Gerede abtun würden, ohne einen echten Gedanken daran zu verschwenden, ob es stimmen könnte. Konnte eine ganze Gesellschaft so ignorant sein? War sie es nicht selbst gewesen? Hatte sie sich nicht angestellt wie ein unmündiges Kind? Sich blind auf ihre Eltern zu verlassen, ohne einen Credit nur im Gefolge zu existieren, sich eine heile Welt vorgaukeln, all das sprach dafür. Dabei war sie fünfzehn Jahre alt, in der Pubertät und nicht dumm. Sie ging auf eins der besten Gymnasien und wurde angehalten zu philosophieren. Ja, abstrakte Gedanken durfte, nein sollte, sie sich machen, über ein Leben im Weltall nachdenken, sowohl Klassiker als auch moderne Literatur lesen, nur über die Realität, die sie umgab, hatte sie sich nie einen Kopf gemacht. Sie hatte ihre Welt, ihr Dasein, einfach als gegeben hingenommen. Jeder tat es! Konnte sie das als Entschuldigung gelten lassen? Nein, denn dann wären die Mitläufer im Naziregime auch nicht schuldig gewesen. Es gab keine Entschuldigung für ein »Nicht-sehen-wollen«. Sie war drauf und dran, nach einem Bier zu fragen, denn es schien ihr einfacher, die Erkenntnisse des Tages benebelt zu ertragen, aber das würde die Gefahr bergen, alles zu verwaschen. Benebelt würde ihr alles nicht mehr so schlimm erscheinen und dann war es nur noch ein kleiner Schritt zum Vergessen und Verdrängen. Das wollte sie nicht.

Eve kehrte zurück, fischte sich ein neues Bier und nahm ihr gegenüber Platz. Lenina räusperte sich und sagte: »Es tut mir leid.«

»Was tut dir leid?«, fragte Eve.

»Dass deine Eltern dich loswerden wollten.«

»Kannst du ja nichts für.«

»Ich weiß, aber es ist schrecklich. Ein Glück, dass Mom dich gefunden hat.«

»An manchen Tagen bin ich mir nicht sicher, ob das ein Glück war.«

»Doch! Sonst wärst du gestorben.«

»Na und? Wen kümmert’s?«

»Deine Familie hier und mich.« Lenina merkte, dass Eve sich wieder aufregen wollte und sah Mom um Bestätigung heischend an.

»Natürlich kümmert es uns und sie weiß das auch«, antwortete Mom.

»Ich würde dir gerne helfen, aber ich weiß nicht, wie.«

»Lass stecken« sagte Eve und winkte ab.

»Nein im Ernst. Du hast mir doch auch geholfen, da ist es nur recht und …«

»Du kannst nichts für mich tun. Du findest nicht mal nach Hause. Lass gut sein. Ich wüsste auch nicht, was du für mich tun könntest.«

Mom räusperte sich. »Ihre Eltern könnten sich dafür stark machen, dass du einen Ausweis bekommst.«

»Wozu soll das gut sein?«

»Mit Ausweis könntest du dir eine Arbeit suchen und eine Wohnung, du könntest etwas aus deinem Leben machen.«

»Ach Mom! Das ist pures Wunschdenken. Ohne Schulabschluss und Ausbildung bekomme ich nie einen Job.«

»Na, dann sollen ihre Eltern dafür sorgen, dass du zur Schule gehen kannst.« So schnell wollte Mom sich offensichtlich nicht geschlagen geben.

»Ich glaube, du überschätzt die Möglichkeiten, die ihre Eltern haben. Ich würde sagen, unterste Oberschicht, oder?« Sie blickte Lenina an. Der stieg die Röte ins Gesicht und sie fragte sich, woher Eve das wissen konnte. Sie nickte und antwortete: »Ja, meine Eltern müssen beide arbeiten, um den Lebensstandard zu halten, aber mein Vater ist in der Stadtverwaltung tätig. Vielleicht kennt er jemanden, der jemanden kennt?«

»Ach, hört doch beide auf zu träumen!«, schimpfte Eve, schmiss die leere Flasche weg und legte sich mit dem Rücken zu den beiden Frauen hin. Mom nahm das zum Anlass, sich ebenfalls langzumachen. Sie stopfte sich ein paar Kleidungsstücke unter den Kopf und nuschelte: »Gute Nacht zusammen.«

Niemand antwortete ihr. Lenina gingen so viele Dinge im Kopf herum, dass sie fürchtete, die halbe Nacht wach zu liegen, dazu kam noch die ungewohnte Situation und die Angst, ob nicht Tis oder Anti noch auf dumme Gedanken kommen würden. Der Blinde kippte zur Seite und schnarchte leise vor sich hin. Garantiert würde sie kein Auge zutun …

Der Gesang einer Amsel weckte Lenina aus wirren Träumen, die sie schnell vergessen wollte. Einen Moment brauchte sie, um sich zu erinnern, wo sie sich befand. Kaum, dass sie die Gestalten um sich herum einordnen konnte, setzte Betriebsamkeit ein. Wasser wurde gekocht und Kaffee aufgebrüht. Alle erfreuten sich offensichtlich bester Laune. Eve bekam von Mom Credits für die Bahn, denn sie schienen sich alle einig darüber zu sein, dass Leninas Eltern zumindest ihre Auslagen ersetzen würden.

Am Zoo angekommen, sah Lenina ihre Eltern sofort, allerdings befanden sie sich in Gesellschaft von Polizisten. Mist, das stellte ein Problem dar, denn Eve würde sicher nicht einfach Hallo sagen und sich von der Polizei befragen lassen. Sie musste dafür sorgen, dass die Polizei abzog. »Warte hier!«, befahl sie Eve.

Eve nickte und blieb zurück.

»Lenina! Da bist du ja!«, schrie ihre Mutter und rannte auf sie zu. »Wo warst du nur? Wir haben uns solche Sorgen gemacht.« Lenina dachte, sie müsste gleich ersticken, so sehr drückte ihre Mutter sie an sich, und gleich darauf wurde der Druck noch einmal erhöht als ihr Vater sie erreichte.

»Mein Augapfel! Was bin ich froh, dich zu sehen. Gottlob ist dir nichts passiert.« Mit dem Satz löste er seine Umklammerung, trat einen Schritt zurück, zog seine Frau ebenfalls zurück und musterte seine Tochter. »Dir ist doch nichts passiert, oder?«

Lenina schüttelte den Kopf und antwortete: »Nein, ich bin okay.«

Inzwischen waren die Polizisten herangeeilt und zückten ihre Blöcke. »Möchten Sie immer noch eine Anzeige aufgeben? Sie ist ja wieder da.«

»Wo warst du denn die ganze Nacht?«, fragte ihr Vater und verfolgte Leninas Blick, der abwechselnd auf den beiden Polizisten ruhte. Er verstand.

»Meine Herren, vielen Dank, dass sie gekommen sind, aber nun, da unsere Tochter wohlbehalten wieder aufgetaucht ist, brauchen wir Sie nicht mehr.«

Der eine Polizist steckte seinen Block ein und machte sich direkt auf den Weg zum Einsatzfahrzeug und der andere sah Lenina misstrauisch an. »Wenn die junge Dame eine Aussage machen möchte … Wir sind im fünften Distrikt.« Damit schob er ihr eine Visitenkarte zu und folgte seinem Kollegen.

Leninas Mutter wurden die Knie weich und sie bat um eine kurze Rast auf einer Bank. Lenina winkte Eve herbei und berichtete, wo sie die Nacht verbracht hatte.

»Ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Wie kann ich das gutmachen?«, fragte Leninas Vater und holte seine Geldbörse aus der Gesäßtasche. Lenina hielt seinen Arm fest und verlangte: »Wir nehmen Eve mit zu uns.«

»Aber, Kindchen, das geht doch nicht«, warf ihre Mutter ein.

»Warum denn nicht? Das Gästezimmer steht das ganze Jahr über leer, da kann sie schlafen. Wir geben ihr alles, was wir nicht mehr brauchen …«

»Hey! Vielleicht fragt ihr mich mal? Ich will eure Almosen nicht.«

»Papa! Du kannst ihr einen Ausweis besorgen, oder?« Ihr Vater musste sich einfach für Eve einsetzen.

»Na, so einfach, wie du dir das vorstellst, ist das nicht. Ich hab noch nie erlebt, dass so etwas geschehen wäre.« Er machte sich aus Leninas Umklammerung frei und zählte das Geld in seiner Börse. Ein dickes Bündel hielt er Eve hin. Sie nahm es an und bedankte sich. Beide Parteien standen im Begriff sich zu verabschieden, als Lenina fassungslos meinte: »Papa! Du willst doch Eve nicht einfach so gehen lassen? Sie lebt auf der Straße. Sie hat keinen Ausweis. Sie ist womöglich in Gefahr. Was, wenn sie angehalten wird?«

»Deine neue Freundin lebt ihr ganzes Leben auf der Straße. Sie weiß sich zu behaupten. Außerdem kannst du nicht einfach über ihren Kopf entscheiden, und ich kann auch nicht mehr für sie tun.«

Tränen der Enttäuschung liefen über Leninas Wangen. Ihr Vater, der sonst immer alles konnte, sollte hier nicht helfen können? »Du willst ihr nicht helfen!«, schrie sie. »Sie haben doch recht. Ihr Schicksal interessiert kein Schwein! Gut, dann gehe ich eben mit ihr zurück.« Demonstrativ machte Lenina einen Schritt auf Eve zu. Eve schien diese Entwicklung nicht ganz geheuer zu sein, denn sie versuchte einzulenken: »Hör mal, Lenina, dein Vater hat mir einen Haufen Credits gegeben. Damit bin ich zufrieden. Ich will ja gar nicht in deine etepete Welt. Auf der Straße kenne ich mich aus. Lass gut sein. Geh nach Hause.«

»Aber ich will, dass du in Sicherheit bist! Du hast mich letzte Nacht beschützt. Ich will nicht wissen, was passiert wäre, wenn du mich nicht aufgegabelt hättest. Da kann ich nicht zulassen, dass du mit Credits abgespeist wirst. Ich will, dass du in Sicherheit bist! Und das geht nun mal nur, wenn du einen Ausweis bekommst. Und mein Vater arbeitet auf dem Amt. Der muss einen Weg kennen.«

Leninas Vater bemerkte, dass sie langsam Aufmerksamkeit erregten. Immer mehr Passanten blickten in ihre Richtung. Er brauchte Zeit. Die konnte er gewinnen, wenn er zum Schein auf Leninas Wünsche einging.

»Gut, junge Dame, möchten Sie uns begleiten?«, fragte er daher.

Eve hatte über die Jahre feine Antennen ausgebildet. Im ersten Moment kam ihr der Mann nicht weiter gefährlich vor, aber während des Gespräches hatte zuerst ihr Magen angefangen zu grummeln, dann stellten sich die Nacken- und Armhärchen auf und unter den Achseln sammelte sich Schweiß. Um nichts auf der Welt würde sie mit diesen Leuten gehen, besonders nicht, wenn niemand wusste, wo sie zu finden wäre. »Nein, tut mir leid, meine Familie wartet auf mich. Ich möchte nicht, dass die sich solche Sorgen machen.« Auf dem Absatz machte sie kehrt und hoffte, dass sich nicht doch noch die Hand des Mannes auf ihre Schulter legen würde.

Abends im elterlichen Bett sagte Leninas Mutter: »Lange können wir Lenina nun nicht mehr vor der Realität schützen. Nach dieser Nacht wird sie anfangen, Fragen zu stellen. Was willst du ihr sagen, wenn sie fragt, an welcher Stelle im Amt du arbeitest?«

»Ganz einfach: Müllbeseitigung.«

Gleich morgen würde er einen Trupp losschicken und die ganze Sippe hochnehmen, die seiner Tochter solche Flausen in den Kopf gesetzt hatte.

Er ahnte nicht, dass die sich längst einen anderen Platz gesucht hatten.

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