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Katharina Schüller

Jenseits der Daten

oder wie Data Literacy die Selbstbestimmung stärkt

Daten in der Krise

Die enorme Bedeutung von Daten und Statistik zur Unterstützung schwieriger politischer Entscheidungen zeigte sich selten so deutlich wie in der Corona-Krise. Dringend benötigen wir Handlungs- und Steuerungswissen, das sich aus einem stetigen Fluss qualitativ hochwertiger und vertrauenswürdiger Daten und Statistiken speist. Daten seien das zentrale Mittel zur Entscheidungsfindung unter Unsicherheit, erklärte die United Nations Statistics Division schon im Jahr 2017 im »Cape Town Global Action Plan for Sustainable Development«: »Qualitativ hochwertige und aktuelle Daten sind von entscheidender Bedeutung, um Regierungen, internationale Organisationen, die Zivilgesellschaft, den Privatsektor und die breite Öffentlichkeit in die Lage zu versetzen, fundierte Entscheidungen zu treffen und die Rechenschaftspflicht der Vertretungsorgane zu gewährleisten.« 1

Doch obgleich Daten im Zeitalter der Digitalisierung sprudeln wie das viel beschworene »Öl des 21. Jahrhunderts«, ist noch lange nicht garantiert, dass sie auch nutzbar sind. Oftmals laufen wir Gefahr, in einem Ozean von nutzlosen Daten und deren Derivaten zu ertrinken: Daten, die aus nicht repräsentativen Erhebungen stammen; Kennzahlen und Visualisierungen, die eine scheinbare Sicherheit suggerieren, statt zum vernünftigen Umgang mit Unsicherheit zu motivieren; Analysen, die wahlweise dramatisieren oder verharmlosen, aber selten zwischen Fakten und Interpretationen differenzieren.

Gute Daten und die Kompetenz, mit ihrer Hilfe kluge Entscheidungen zu treffen, sind in einer globalisierten und digitalisierten Gesellschaft mit ihren hochkomplexen Herausforderungen unverzichtbar für nachhaltige Entwicklung und soziale Teilhabe. Um Daten in Steuerungswissen zu transformieren, müssen sie bereinigt, verknüpft, analysiert, kontextualisiert und interpretiert werden. Die dazu nötige Kompetenz ist das, was wir unter Data Literacy verstehen.

Veränderung der Bedeutung von Data Literacy

Das Arbeitspapier 37 des Hochschulforums Digitalisierung nennt Data Literacy eine »zentrale Kompetenz für die Digitalisierung und die globale Wissensgesellschaft in allen Sektoren und Disziplinen«.2 Dass ausgerechnet die Corona-Krise den Wert von Data Literacy so deutlich machen würde und so viele Menschen dafür begeistern würde, sich selbst an der Analyse von Daten zu versuchen, hätte sich wohl niemand träumen lassen. Auch wenn der Anlass ein unerfreulicher ist, so liegt hierin eine große Chance.

Gerade zu Beginn der Krise standen Datenexpert*innen vor einer großen Herausforderung. Von ihnen wurde erwartet, Zahlen zu analysieren und Prognosen daraus zu erstellen, aber die Corona-Fallzahlen waren dafür nicht geeignet, weil sie zu wenige Informationen enthielten, etwa über die mögliche Dunkelziffer. Der Knackpunkt war und ist, dass die Fallzahlen erheblich davon abhängen, wie getestet wird. Dies geschieht nach wie vor nicht einheitlich auf Grundlage einer repräsentativen Auswahl von Testpersonen, sondern nach regional wie international verschiedenen Strategien, die sich im Zeitverlauf auch noch verändert haben. Das hatte mit der Verfügbarkeit von Tests zu tun, war aber auch eine Kostenfrage. Die registrierten Fallzahlen erlauben somit keine belastbaren und zeitlich beziehungsweise räumlich vergleichbaren Aussagen über die Gesamtsituation.

Ein möglicher Weg der Stellungnahme als Experte wäre die ehrliche und transparente Kommunikation des Mangels an gesichertem Wissen. Aber das birgt die Gefahr, dass zahlreiche Rezipienten die Botschaft empfangen, dass die Modellrechnungen falsch sind (weil die Wahrscheinlichkeit, dass es genauso abläuft wie im Modell, praktisch null beträgt), und daraus ableiten, dass die empfohlenen Maßnahmen wie beispielsweise Ausgangsbeschränkungen dann auch falsch sein müssen (obwohl sie wahrscheinlich notwendig und richtig waren und sind).

Das ist ein großes ethisches Dilemma. Ist es besser, bei der Wahrheit zu bleiben und zu hoffen, dass Experten trotzdem geglaubt wird bei der Interpretation von Unsicherheit? Oder sollte man mehr Sicherheit suggerieren, um das Richtige zu erreichen, auch wenn man im strengen Sinne nicht »beweisen« kann, dass es richtig ist?

In einer Krisenphase wie der jetzigen, in der mit unvollständigen Daten Szenariorechnungen erstellt werden, ist Data Literacy eine Schlüsselkompetenz. Mit der zunehmenden Bedeutung von Datenkompetenzen in nahezu allen Disziplinen wächst und vereinheitlicht sich an deutschen Hochschulen die Auffassung davon, was unter Data Literacy zu verstehen ist. Bei der Beförderung eines solchen gemeinsamen Verständnisses setzt der Stifterverband seit knapp zwei Jahren nicht nur in Deutschland Maßstäbe durch viel beachtete Publikationen zur fächerübergreifenden Etablierung von Data Literacy Education. Im Zentrum steht der Data-Literacy-Kompetenzrahmen des Hochschulforums Digitalisierung, der in seiner aktuellen englischsprachigen Fassung den Forschungsstand für die internationale Lehre zugänglich macht.

Wenn Daten als Ausgangsbasis für Wissens- beziehungsweise Wertschöpfung und somit als Grundlage für bessere Entscheidungen verstanden werden, dann ist Data Literacy »das Cluster aller effizienten Verhaltensweisen und Einstellungen für die effektive Durchführung sämtlicher Prozessschritte zur Wertschöpfung beziehungsweise Entscheidungsfindung aus Daten.« 3 Dieser Prozess der Wissensschöpfung umfasst mehrere Schritte: (A) Datenkultur etablieren – (B) Daten bereitstellen – (C) Daten auswerten – (D) Ergebnisse interpretieren – (E) Daten interpretieren – (F) Handeln ableiten. Data Literacy ist weit mehr ein breites und tiefes Detailwissen über sich laufend verändernde Methoden und Technologien. Datenethik, Motivation und Werthaltung spielen eine zentrale Rolle, um zukünftig mit Daten erfolgreich und souverän umgehen zu können.

In der Corona-Krise zeigte sich deutlich das Risiko einer (zu) starken Fokussierung auf technische Aspekte der Datenanalyse. Mit teilweise äußerst komplexen Algorithmen wurden Fallzahlen aus den Monaten März, Mai und August zu Kurvenverläufen und Kennziffern verrechnet. Dass sich die Auswahlkriterien für die Stichprobenziehung, also die getesteten Bevölkerungsgruppen, laufend veränderten, fand praktisch keine Berücksichtigung. Eine Aufschlüsselung der durchgeführten und positiven Tests nach Anlass und Subgruppen sowie nach Testwiederholungen an denselben Personen blieb weitgehend aus. Die Ergebnisse der Datenanalysen wurden von zahlreichen Medien unmittelbar zu Trends mit teilweise täglichen Richtungswechseln erklärt und dabei mit einer Bedeutung aufgeladen, die in den Daten höchstens ansatzweise enthalten war. Dies im Blick zu behalten ist wesentliches Element des Interpretierens von Daten (nicht: Ergebnissen).

Data Literacy umfasst hier, dass genau verstanden werden muss, wie ein Datum entsteht und welcher räumliche, zeitliche und sachliche Bezug daraus resultiert, um die aufbereiteten Informationen zielgerichtet und handlungsleitend interpretieren zu können. Als im Mai 2020 die Debatte über regional unterschiedliche Lockerungsstrategien in Deutschland geführt wurde, sollten Kenngrößen wie die Reproduktionszahl R und die 7-Tage-Inzidenz dafür die Entscheidungsgrundlage liefern. Doch derartige Kenngrößen, die sich erst mit erheblichem Zeitverzug berechnen lassen und noch dazu auf Daten beruhen, die alles andere als präzise Aussagen erlauben, können Entscheidungen nicht im Voraus stützen. Sie liefern kein Steuerungswissen, sondern ähneln eher dem Autofahren mit Blick in den Rückspiegel. Solange die Straße gerade verläuft, mag das noch angehen, aber nicht, wenn die Straße – bildlich gesprochen – durch die ergriffenen Maßnahmen verändert wird.

Handlungs- und Steuerungswissen erfordert die Interpretation von Daten und ihre Einbindung in einen Kontext. Den Gedanken, dass Wissen aus Daten erst entsteht, formuliert die deutsche Bundesregierung in ihrem Eckpunktepapier zur Datenstrategie folgendermaßen: »Im digitalen Zeitalter sind Daten eine Schlüsselressource für gesellschaftlichen Wohlstand und Teilhabe, für eine prosperierende Wirtschaft und den Schutz von Umwelt und Klima, für den wissenschaftlichen Fortschritt und für staatliches Handeln. Die Fähigkeit, Daten verantwortungsvoll und selbstbestimmt zu nutzen, zu verknüpfen und auszuwerten, ist gleichermaßen Grundlage für technologische Innovation, für das Generieren von Wissen und für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.« 4 Die Nähe dieser Formulierung zur hier verwendeten Definition von Data Literacy ist unverkennbar.

Haltung als Kompetenzdimension

In einer als lebensbedrohlich wahrgenommenen Krise verschieben sich Maßstäbe. Im Zusammenhang mit Daten wiegt das Schutzbedürfnis der Gesellschaft unter Umständen schwerer als das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Auch Grundregeln guter wissenschaftlicher Praxis geraten auf den Prüfstand. Dies gilt insbesondere dort, wo der bisherige Konsens – so er denn existiert – nicht kodifiziert ist, etwa weil die Chancen und Risiken neuer Technologien wie Big Data in Zusammenhang mit künstlicher Intelligenz bei weitem nicht erschöpfend verstanden sind. Selbst wenn sich alle darüber einig sind, dass es etwas wie Datenethik braucht, bleibt diffus, wie eine solche Datenethik im konkreten Fall zu operationalisieren sein könnte.

So kommt es beispielsweise zu Diskussionen darüber, ob Mobilfunkdaten zur Überwachung von Corona-Infizierten genutzt werden dürfen, aber auch über die Zulässigkeit einer Corona-App. Während in China eine rigorose Überwachung der Bevölkerung mithilfe von Kameras, fiebermessenden Sensoren und einer verpflichtenden App wohl maßgeblich zur raschen Eindämmung der ersten Pandemie-Welle beitrug, schien ein derartiger Ansatz in Europa ein nicht durchsetzbarer Eingriff in die verfassungsrechtlich garantierten Freiheitsrechte des Individuums. Dass die Abwägung individueller Freiheitsrechte und des gesellschaftlichen Schutzbedürfnisses jedoch keineswegs zu klaren und zeitlich unveränderlichen Ergebnissen führt, belegen die durchaus scharf geführten Debatten über die Registrierungspflicht beim Besuch von Gaststätten oder einen möglichen Immunitätsausweis.

Gleichfalls bezweifelt kaum jemand, dass wissenschaftliche Datenerhebung und -auswertung einen zugrunde liegenden Wertekanon benötigt. Darunter fallen der Verzicht auf unnötige Studien, das wissenschaftlich integre und korrekte Arbeiten und die Interpretation der Ergebnisse unabhängig von persönlichen Vorlieben oder Wünschen. Dem entgegen stehen politische und gesellschaftliche Erwartungen in einer Krise, etwa wenn recht offensichtlich Ergebnisse generiert werden sollen, die bereits getroffene politische Entscheidungen im Nachhinein rechtfertigen. Dem entgegenzutreten erfordert ein hohes Maß an datenethischer Kompetenz.

Dies lässt sich illustrieren an zwei umstrittenen Studien, die hierzulande nicht nur in Fachkreisen, sondern auch in Publikums- und sozialen Medien zahlreich kommentiert wurden. Ein besonders problematisches Beispiel stellt der Zwischenbericht der sogenannten »Heinsberg-Studie« dar, die unter Leitung des Virologen Hendrik Streeck der Universität Bonn in Gangelt im Landkreis Heinsberg (Nordrhein-Westfalen) durchgeführt wurde.5

Sein grundsätzlich sehr lobenswerter Ansatz, eine repräsentative Studie in Angriff zu nehmen, um die Prävalenz der Erkrankung im Hotspot Gangelt systematisch zu erheben, wurde durch die Begleitung einer PR-Agentur erheblich beeinträchtigt. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass detaillierte Formulierungen zur Kommunikation der Studienergebnisse bereits im Vorfeld von der Agentur erstellt worden waren, mutmaßlich um politische Entscheidungen des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten zu legitimieren.6 Einige der Ergebnisse konnten wertvolle Informationen liefern, etwa die empirische Bestätigung der Letalität von Covid-19, mit der eine Hochrechnung auf die damalige Prävalenz in Deutschland zumindest annähernd möglich gewesen wäre. Dieser Aspekt ging weitgehend unter, weil die Empörung über die Instrumentalisierung der Wissenschaft zu politischen Zwecken eine sachliche Bewertung der Ergebnisse fast unmöglich machte.

Wenige Wochen später inszenierte eine große deutsche Boulevardzeitung einen »Wissenschaftler-Streit« um die Studie des Virologen Christian Drosten zur Viruslast und der damit verbundenen Infektiosität unterschiedlicher Altersgruppen. Der Preprint der Studie 7 wurde teils scharf kritisiert, weil die verwendeten Analysemethoden nicht optimal geeignet waren, um die Ausgangsfrage nach einer möglicherweise geringeren Infektiosität von Kindern zu beantworten. Dass verschiedene Analysemethoden zu verschiedenen Ergebnissen führen konnten, hat die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Studie eindrucksvoll bewiesen.

Ein methodisches Kernproblem war die Tatsache, dass sehr wenige Testergebnisse von Kindern vorlagen und deshalb durchaus relevante Differenzen zwischen den Gruppen nicht nachgewiesen werden konnten. Die fehlende statistische Signifikanz führte Drosten zunächst als Beweis für das Nichtvorhandensein eines Unterschieds und damit als Argument gegen die Öffnung von Kindergärten und Schulen an. Diese Interpretation wurde zu Recht kritisiert, und die Studienautoren zogen in der folgenden Überarbeitung entsprechend vorsichtigere Schlüsse. Das Beispiel verdeutlicht die Problematik, dass nicht nur Studien mit zu großen Stichproben ethisch fragwürdig sein können, wenn unnötig viele Patienten durch noch nicht ausreichend erprobte Medikamente und Untersuchungen belastet werden. Auch zu kleine Stichproben können ethische Probleme aufwerfen, denn wenn aufgrund der mangelnden Fallzahl relevante Effekte nicht nachgewiesen werden können, obwohl sie existieren, erlaubt das Ergebnis keine Aussage.

Data Literacy durch Diversity und Interdisziplinarität

Die deutsche Bundesregierung hat in ihrem Eckpunktepapier zur Datenstrategie als eines von vier zentralen Handlungsfeldern die Erhöhung der Datenkompetenz und die Etablierung einer Datenkultur definiert. Dafür bietet die Corona-Krise eine große Chance, weil aus dem Bewusstsein der Notwendigkeit heraus zunehmend Menschen und Institutionen zusammenarbeiten, die bisher kaum Berührungspunkte aufwiesen. Dieser interdisziplinäre Ansatz ist der größte Hebel, um Datenkompetenz aufzubauen. Denn der Prozess, in dem aus Daten Wissen geschaffen wird, erfordert zuerst die »Übersetzung« einer fachlichen oder gesellschaftlichen Fragestellung in ein Datenmodell. Hierzu gehört zunächst die Festlegung, was eine solche Fragestellung alles umfasst.

Streeck schreibt in seinem Abschlussbericht zur »Heinsberg-Studie«: »Epidemiologische Modellierung ist dringend nötig, um die angemessensten Vorbeugungs- und Kontrollstrategien zu entwickeln, mit denen die Pandemie bekämpft und der Kollateralschaden für die Gesellschaft minimiert werden kann.« 8

Offensichtlich ist die Krise also kein rein medizinisches oder epidemiologisches Problem, sondern auch ein gesellschaftliches. Sie ist ein ökonomisches Problem, ein psychosoziales, sie ist ein Bildungsproblem, vielleicht darüber hinaus sogar eine ökologische Chance. Aber »du kannst nicht managen, was du nicht messen kannst«, heißt es. Um alle Dimensionen der Krise zu messen, müssen sie überhaupt als relevant erkannt werden. Dazu können interdisziplinäre Programme an Hochschulen zur Etablierung von Data Literacy Education einen wertvollen Beitrag leisten. In Deutschland beispielsweise fördert das bundesweite Data Literacy Education Netzwerk, an dem der Stifterverband maßgeblich beteiligt ist, seit Herbst 2019 die teilnehmenden Hochschulen bei der Entwicklung und Umsetzung von Good Practices und Data-Literacy-Curricula 9.

Corona bietet die Chance, zukünftige Krisen besser zu messen und zu managen, wenn mehr Vielfalt in den Gremien, die sich mit derart großen Problemen befassen, geschaffen wird.

Es sollten zukünftig verstärkt Menschen in die Expertenräte eingebunden sein, die die Diversität der Perspektiven abbilden. Dabei geht es sicher nicht ausschließlich um die Perspektive von Frauen, aber es fällt auf, wie wenige Frauen in entscheidenden Positionen vertreten sind und an den Strategien zur Bewältigung der Krise mitarbeiten. Dies wiederum spiegelt sich in den Daten, die als Grundlage für Entscheidungen zur Verfügung stehen.

Das Statistische Bundesamt Destatis veröffentlicht alle zwei Wochen ein umfangreiches Dossier mit Statistiken zur Covid-19-Pandemie. Elf Seiten der Ausgabe vom 8. Juni 2020 10 zeigen Statistiken zu den Fall- und Todeszahlen und zur Gesundheitsversorgung. 28 Seiten befassen sich mit Konjunktur, Wirtschaft und Arbeitsmarkt, weitere 15 mit Branchen und Unternehmen. Auf ganzen zwei Seiten geht es um Bildung, was sich beschränkt auf die Darstellung von Tabellen zur Anzahl von Schülern, Lehrern und Kita-Kindern in den einzelnen Bundesländern. Eine einzige Seite beschäftigt sich mit dem Thema Umwelt, und sie wird zu einem Viertel eingenommen von einem Bild der Luftqualität-App des Umweltbundesamtes.

Es ist nichts darüber zu erfahren, wie sich die Schulschließung auf Kinder und Familien auswirkt, insbesondere auf diejenigen aus benachteiligten Verhältnissen. Offen bleibt, was Kurzarbeit und Kündigungen für Menschen unterschiedlichen Geschlechts, unterschiedlicher Qualifikationen und unterschiedlicher Einkommensgruppen bedeutet. Genauso wenig wird thematisiert, ob die Schere zwischen den Hochqualifizierten und denjenigen in prekären Beschäftigungsverhältnissen weiter auseinandergeht oder wie stark das Armutsrisiko steigt für diejenigen, die zuvor schon gerade so über die Runden kamen, jetzt und später, wenn sie in Rente gehen. Schließlich fehlen Zahlen zur Zunahme häuslicher Gewalt, psychischer Erkrankungen und von Suiziden.

Viele Fragen bleiben offen. Denn die Daten, die für eine Antwort benötigt würden, sind in anderen Datenbanken verborgen oder werden gar nicht erst erhoben. Dabei liefert zumindest die Bundesagentur für Arbeit in der monatlich aktualisierten Zeitreihe der gemeldeten Stellen recht klare Hinweise darauf, dass die Jobchancen für Geringqualifizierte sowie in typischen »Frauenberufen« in den Frühjahrsmonaten 2020 deutlich gesunken sind.11 Statistikprofessor Ulrich Rendtel von der FU Berlin sagte in einem Interview: 12 »Menschen im unteren Einkommensdrittel verzeichnen stärkere Einkommenseinbußen durch Kurzzeitarbeit – sozialpolitisch ist das natürlich hochrelevant.« Rendtel ist einer derjenigen, die die Zusammenarbeit zwischen dem Robert Koch-Institut (RKI) und dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) koordiniert und vorangetrieben haben, um eine repräsentative Panelstudie zu möglichst vielen Aspekten der Corona-Krise zu ermöglichen.

In der verstärkten Förderung der Kooperation zwischen staatlichen Einrichtungen und privaten Partnern liegt die zweite große Chance zur Erhöhung von Data Literacy. Trotz der mittlerweile ausgebauten Testkapazitäten gibt es in Deutschland voraussichtlich erst ab September 2020 eine repräsentative Panelstichprobe für die Gesamtbevölkerung. Selbst für eine Institution wie das RKI scheint diese Aufgabe alleine zu groß, und erst in Kooperation mit dem SOEP am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung Berlin (DIW) und der Universität Bielefeld wird sie lösbar.

Offenbar braucht es gemeinsame Anstrengungen von öffentlicher Hand, Universitäten und privaten Forschungseinrichtungen, um hohe Daten- und Forschungsqualität mit Agilität und der Fähigkeit zur schnellen Datenbeschaffung zusammenzubringen. Genau diese Mischung wird zukünftig benötigt, weil die großen Herausforderungen unserer Zeit – nicht nur Pandemien, sondern auch Migrationsbewegungen, Finanzkrisen, Klimaveränderung, wirtschaftliche Verflechtungen – nur noch von großen interdisziplinären Teams bewältigt werden können.

DIE KRISE LEHRT SCHMERZLICH, DASS NICHT JEDE ENTSCHEIDUNG DURCH DATEN »VORAUSBERECHNET« WERDEN KANN. DATA LITERACY IST DARUM VIELMEHR DIE FÄHIGKEIT, MIT UNSICHERHEIT UMZUGEHEN UND DIE VERANTWORTUNG FÜR ENTSCHEIDUNGEN NICHT AN DATEN UND ALGORITHMEN ZU DELEGIEREN.AUSBLICK: DATA LITERACY OHNE GRENZEN

Dies alles führt zu der klaren Erkenntnis, dass derartige Krisen nicht mehr von einzelnen Disziplinen und auch nicht in nationalen Alleingängen gelöst werden können. Das gilt umso stärker, als Daten heute eine unverzichtbare Grundlage möglicher Lösungsstrategien sind. Es braucht ein koordiniertes internationales Vorgehen über Institutionen und Disziplinen hinweg, und das gilt insbesondere für die Frage, mit welchen Daten eine Krise gemessen und gemanagt werden kann. Nur so entstehen verlässliche, vergleichbare Informationen.

Blickt man in die europäische Vergleichstabelle zu den Corona-Fallzahlen im Destatis-Dossier,13 so erscheint Belgien als das mit Abstand am stärksten betroffene Land. Über 84 Todesfälle auf 100 000 Einwohner weist die Statistik aus, erheblich mehr als in Italien und Spanien (56 beziehungsweise 58) und Deutschland (10). Das liegt aber vor allem daran, dass die belgischen Behörden auch Verdachtsfälle als Corona-Tote zählen. Genauso wenig sind Fallzahlen international vergleichbar.

Deswegen hat sich die Federation of European National Statistical Societies (FENStatS) mit einer eigens geschaffenen Covid-19-Arbeitsgruppe die Harmonisierung der entsprechenden Statistiken zum Ziel gesetzt.14 Knapp 30 Experten aus 17 Ländern und unterschiedlichen Arbeitsgebieten arbeiten seit Juni 2020 an Vorschlägen, wie zukünftig Daten zum Krisenmanagement besser erhoben und analysiert werden können. Denn nur mit informationsreichen, zuverlässigen, zeitnahen und relevanten Daten lassen sich belastbare Indikatoren für die Anfälligkeitsrisiken und Anpassungskosten der Gesellschaft entwickeln.

Es braucht eine Zusammenarbeit über Grenzen hinweg – Grenzen zwischen Nationen, Grenzen zwischen öffentlicher Hand und privaten Institutionen, Grenzen zwischen unterschiedlichen Gruppen Betroffener, Grenzen zwischen Fachdisziplinen. Nur so wird es zu schaffen sein, große Risiken für unsere Gesellschaft zukünftig schneller und in allen Dimensionen zu verstehen. Hochschulen nehmen hierbei eine Schlüsselposition ein.

Damit sie diese Position kompetent ausfüllen können, fördert das Data Literacy Education Netzwerk in Deutschland den fachlichen Austausch, Peer-to-Peer-Formate sowie kollegiale Beratung. So können die beteiligten Hochschulen von ihren Erfahrungen wechselseitig profitieren und sich so bei der Umsetzung ihrer Data-Literacy-Programme unterstützen.

Das kann dazu führen, dass Daten verstärkt als »Open Data« geteilt werden, damit möglichst viele damit arbeiten und forschen können. Oder dass neue Datenquellen genutzt werden wie in den experimentellen Daten von Destatis. So zeigt etwa die tägliche Auswertung von Lkw-Maut-Daten,15 dass hieraus ein hoch aktueller und zugleich verlässlicher Konjunkturindikator berechnet werden kann.

Damit ist es aber nicht genug. Data Literacy darf nicht an den Grenzen der akademisch gebildeten Bevölkerung enden.

Das Eckpunktepapier der Bundesregierung kündigt die Prüfung und Initiierung von »Maßnahmen und Instrumenten zur Erhöhung der Datenkompetenz im Sinne einer umfangreichen Data Literacy in allen formalen und non-formalen Bildungsbereichen« an.16 Die Konferenz der Kantonalen Ärztegesellschaften der Schweiz hat im Juli 2020 einen »Appell für eine dringliche nationale Datenkompetenz-Kampagne« lanciert, der die »Schaffung und Förderung von niederschwellig zugänglichem Schulungsmaterial und Ausbildungsprogrammen für das lebenslange Lernen, allenfalls beginnend im Kindergarten« fordert.17

Bemerkenswert ist deshalb die Initiative des Deutschen Volkshochschul-Verbandes (DVV), eine innovative Lern-App zum Thema Data Literacy zu entwickeln.18 Das Projekt wird durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. Im Kontext von Gesundheit, Smart City, Mobilität, Umwelt, Wirtschaft und Energie sollen die Anwendungsmöglichkeiten aktueller Technologien wie etwa Big Data, Internet of Things und künstliche Intelligenz spielerisch vermittelt werden.

Datenbasiertes Entscheiden als Spiel? Womöglich wird genau dieser Ansatz funktionieren, um möglichst viele Menschen in Deutschland an einen souveränen Umgang mit Daten heranzuführen, denn spielen heißt: gewinnen und manchmal auch verlieren.

Data Literacy ist eben nicht die Fähigkeit, durch möglichst viele Daten und möglichst komplexe Analysemethoden eine Illusion von Sicherheit zu schaffen. Die Krise lehrt schmerzlich, dass nicht jede Entscheidung durch Daten »vorausberechnet« werden kann. Data Literacy ist darum vielmehr die Fähigkeit, mit Unsicherheit umzugehen und die Verantwortung für Entscheidungen nicht an Daten und Algorithmen zu delegieren. Das wäre Statistical beziehungsweise Data Literacy, wie sie der englische Schriftsteller Herbert George Wells sinngemäß vor über hundert Jahren als eine der drei Kernkompetenzen des mündigen Bürgers in einer modernen technologischen Welt gefordert hat: die Fähigkeit zum vernünftigen Umgang mit Risiken und Unsicherheit.19

Anmerkungen

1 United Nations Statistics Division: »Cape Town Global Action Plan for Sustainable Development«. Online: https://unstats.un.org/sdgs/hlg/Cape-Town-Global- https://unstats.un.org/sdgs/hlg/Cape-Town-Global-Action-Plan/Action-Plan/. Zugriff: 01.09.2020.

2 Jens Heidrich et al.: Future Skills – Ansätze zur Vermittlung von Data Literacy in der Hochschulbildung. Hochschulforum Digitalisierung, Nummer 37, Berlin 2018, S. 14.

3 Katharina Schüller et al.: Future Skills – ein Framework für Data Literacy. Hochschulforum Digitalisierung, Nummer 47, Berlin 2019, S. 26.

4 Deutsche Bundesregierung: »Eckpunkte einer Datenstrategie der Bundesregierung«. Online: https://www.bundesregierung.de/resource/blob/997532/1693626/e617eb58f3464ed13b8ded65c7d3d5a1/2019-11-18-pdf-datenstrategie-data.pdf, S. 1. Zugriff: 01.09.2020.

5 Hendrik Streeck et al.: »Vorläufiges Ergebnis und Schlussfolgerungen der COVID-19 Case-Cluster-Study (Gemeinde Gangelt)«. Online: https://www.land.nrw/sites/default/files/asset/document/zwischenergebnis_covid19_case_study_gangelt_0.pdf. Zugriff: 01.09.2020.

6 Thomas Steinmann: »Corona-Studie: der Plan hinter dem ›Heinsberg-Protokoll‹«. Online: https://www.capital.de/wirtschaft-politik/corona-studie-der-plan-hinter-dem-heinsberg-protokoll. Zugriff: 01.09.2020.

7 Terry C. Jones et al.: »An analysis of SARS-CoV-2 viral load by patient age«. Online: https://zoonosen.charite.de/fileadmin/user_upload/microsites/m_cc05/virologie-ccm/dateien_upload/Weitere_Dateien/analysis-of-SARS-CoV-2-viral-load-by-patient-age.pdf. Zugriff: 01.09.2020.

8 Hendrik Streeck et al.: »Infection fatality rate of SARS-CoV-2 infection in a German community with a super-spreading event«. Online: https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.05.04.20090076v2.full.pdf, S. 3. Zugriff: 01.09.2020.

9 Stifterverband: »Data Literacy Education«. Online: https://www.stifterverband.org/data-literacy-education. Zugriff: 01.09.2020.

10 Statistisches Bundesamt (Destatis): »Dossier: Statistiken zur COVID-19-Pandemie« 5. Wiesbaden 2020.

11 Bundesagentur für Arbeit: »Gemeldete Arbeitsstellen – Deutschland, West/Ost, Länder, Kreise, Regionaldirektionen und Agenturen für Arbeit (Monatszahlen)«. Online: https://statistik.arbeitsagentur.de/nn_1751878/SiteGlobals/Forms/Rubrikensuche/Rubrikensuche_Form.html?view=processForm&resourceId=210368&input_=&pageLocale=de&topicId=1601172&year_month=aktuell&year_month.GROUP=1&search=Suchen. Zugriff: 01.09.2020.

12 Ulrich Rendtel, Leon Holly: »Coronavirus-Pandemie im Fokus der Statistik«. Online: https://www.fu-berlin.de/campusleben/forschen/2020/200711-statistik-interview/index.html. Zugriff: 01.09.2020.

13 Statistisches Bundesamt (Destatis): »Dossier: Statistiken zur COVID-19-Pandemie« 5. Wiesbaden 2020, S. 4.

14 Federation of European National Statistical Societies: »FENStatS News«. Online: https://www.fenstats.eu/news/COVID-19_WG. Zugriff: 01.09.2020.

15 Statistisches Bundesamt (Destatis): »Lkw-Maut-Fahrleistungsindex«. Online: https://www.destatis.de/DE/Service/EXDAT/Datensaetze/lkw-maut-artikel.html. Zugriff: 01.09.2020.

16 Deutsche Bundesregierung: »Eckpunkte einer Datenstrategie der Bundesregierung«. Online: https://www.bundesregierung.de/resource/blob/997532/1693626/e617eb58f3464ed13b8ded65c7d3d5a1/2019-11-18-pdf-datenstrategie-data.pdf, S. 4. Zugriff: 01.09.2020.

17 Monique Lehky-Hagen et al.: »Appell für eine dringliche nationale Datenkompetenz-Kampagne«. Online: https://www.kka-ccm.ch/fileadmin/user_upload/0_Home/AppellDataLiteracy_DE_Juli_24_2020.pdf. Zugriff: 01.09.2020.

18 DVV e.V.: »Ausschreibung: Autor*innen für die Erstellung von Übungen im Bereich der digitalen Grundbildung (Digital Literacy/Data Literacy)«. Online: https://www.volkshochschule.de/verbandswelt/ausschreibungen/ausschreibung-autoren-digitale-grundbildung.php. Zugriff: 01.09.2020.

19 James W. Tankard Jr.: »The H.G. Wells Quote on Statistics: A Question of Accuracy«. In: Historia Mathematica 6. Amsterdam 1979, S. 30–33.

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