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Sanddünen und Skorpione:

Mit Kleinkindern durch Afrika

von Jürgen Heup

Urlaubsform: Reisen mit einem selbst umgebauten Wohnmobil

Beteiligte: Jürgen (41), Esther (36), Hella (3), Freya (1) und Tarifa (10 Hundejahre)

Dauer: 3 Monate

Reisedistanz: Berlin-Genua, Fähre nach Tanger, Marokko Rundreise und wieder zurück, machen zusammen 7.500 gefahrene Kilometer

Stationen: Berlin, Genua, Fähre nach Tanger, Martil, Chefchaouen, Sidi Chahed, Fes, Alt Ayach, Ksar Madid, Erg Chebi, Oued Ziz, Goulmima, Todra-Schlucht, Dades-Tal, Kelaat M´Gouna, Quarzazate, Tazenakht, Agadir, Sidi Ifni, Plage Blanche, Tiznit, Qued Massa, Marrakesh, Essouira, Lalla Fatma, Qualidia, Moulay Bousselham, Asilah, Tanger, Genua, Berlin.

Reiseverkehrsmittel: siebeneinhalb Tonnen schwerer Allrad-Lastwagen mit Wohnaufbau, fahrbar mit der alten Führerscheinklasse 3, Fähre.

Kosten: Alles zusammen 5.500 Euro

Vorbereitungszeit: 3 Monate

Reiseapotheke: Hepatitis-A-Impfung, ein Breitbandantibiotikum, Loperamid gegen Durchfall, Fieberzäpfchen, Globuli aus Esthers Plazenta in unterschiedlichen Potenzen, Sonnenschutz Faktor 20 und 50

Tanger begrüßt uns mit Sturm. Regen peitscht über die schroffe Küste im Norden Marokkos. Wer bei Afrika nur an Sonne und Hitze denkt, der täuscht sich, und hat womöglich nichts Warmes zum Anziehen dabei. Ein Fehler, den wir zum Glück nicht begangen haben. In den Bergen hat es im April sogar noch geschneit. Für die Kinder ist der Wettermix okay. Hitzeschocks müssen wir jedenfalls erst einmal nicht befürchten. In Martil, einem Badeort am Mittelmeer, werden meine vier Damen aber dann doch deutlich entspannter, auch ohne Bikini-Wetter. Der grenzenlose Sandkasten zeigt seine Wirkung. Immer wieder faszinierend, wie Strand und Meer sich auf die Psyche von Menschen auswirken. Bei Esther, meiner Lebensgefährtin, kann man sich nicht sicher sein, ob sie überhaupt an Land oder doch im Wasser zur Welt kam. Die Nummer vier im von Frauen dominierten Team, die Hundedame Tarifa – wir haben sie vor zehn Jahren in der gleichnamigen südspanischen Stadt aufgelesen – springt beim Anblick von Meer und Sand wild umher, wirft sich in den Sand und scheint Heimatgefühle zu verspüren. Bei meinen beiden kleinen Frauen, der dreijährigen Hella und der einjährigen Freya, ist derselbe Effekt zu beobachten. Sie alle unterscheiden sich nur im Tempo voneinander. Hella läuft juchzend am Wasser entlang. Für Freya ist es die erste Stranderfahrung. Sie kann noch nicht laufen, kombiniert beim Krabbeln aber linkes Knie mit rechtem Fuß. Das erinnert an Spiderman mit Schlagseite, verleiht ihr aber eine höhere Geländetauglichkeit: So meistert sie die vielen verschiedenen Untergründe, die ihr hier begegnen, überwindet Sand, Steine, Gras und auch die alles andere als blitzblanken Fußböden in den Restaurants und Garküchen. Wie hieß es doch in unserem Marrokko-Reise-Führer? Mit Kindern im Krabbelalter sollte man nicht nach Marokko reisen, weil es zu unhygienisch ist. Freya ist das lebende Beispiel, dass der Satz Quatsch ist.

Nach den ersten Schnuppertagen am Meer fahren wir durchs Rifgebirge bis nach Chefchaouen. Eine Stadt, in der annähernd alle Häuser blau gestrichen sind. Irgendwo habe ich gelesen, dass die Farbe Ungeziefer fernhalten soll. Touristen zieht sie aber magisch an. Hella dürstet nach gleichaltrigen Spielgefährten: In dem Gewühle aus Touristen und Einheimischen laufen viele Kinder umher. Sie sind fasziniert von den beiden Mädchen mit den blonden Haaren. Jeder will sie bei der Hand nehmen. Auf dem Campingplatz spielt Hella den ganzen Tag mit den Töchtern einer Angestellten: „Papa? Kannst Du uns das reparieren?“ Oh Gott, ein Wrack von Dreirad. Meine guten Metallschrauben sind dafür eigentlich viel zu schade. Aber das Wunderbare ist: Ich habe Zeit, so viel Zeit, und Muße in der Sonne zu sitzen und an einem hinkenden Dreirad zu schrauben. Doch meine Künste und Materialreserven reichen nicht wirklich aus, es wieder voll in Funktion zu setzen. Hoffentlich trauere ich diesen Schrauben in der Wüste nicht noch mal nach.

Wer bei Afrika nur an Sonne denkt, der täuscht sich - und hat womöglich nichts Warmes zum Anziehen dabei.

Von Fes aus, der Stadt in Zentral-Marokko mit seiner beeindruckenden Altstadt, führt unsere Reise weiter Richtung Süden, vorbei an fruchtbaren Kornfeldern und Blumenwiesen, Zedernwälder und Olivenhainen, über den Mittleren und Hohen Atlas, hinab in von Palmen bewachsene Flusstäler. Wir passieren Oasen, Sanddünen und Vulkankegel, sehen schneebedeckte Gipfel und Almen wie in den Alpen, Schluchten und steile Felswände, die sich neben Nevadas Grand Canyon nicht zu verstecken brauchen. Wir fahren vorbei an Moscheen und Kasbahs, den alten Wehrdörfern aus quadratischen Lehmhäusern, gespickt mit kleinen Zinnen und Türmen. Hoch oben im Fahrerhaus hinter dem riesigen Lenkrad sitzend, kann ich mich nicht satt sehen. Doch spätestens der Ruf der Kinder nach Leo Lausemaus oder einer Lurchi-Geschichte sind ein deutliches Zeichen, dass es wieder Zeit ist, einen Standplatz zu suchen. Die Vorstellung, dass die Kinder während der ganzen Fahrt eingeschnürt in den Kindersitzen verharren, ist illusorisch. Unsere selbstgebastelte netzgesicherte Kinderecke im Wohnkoffer ist da Gold wert: Mal draußen Kamele bestaunen, dann wieder mit den Puppen spielen oder ein Buch gucken. An solchen Reisetagen kehren wir häufiger in eine der Garküchen in den Dörfern entlang der Strecke ein. Tajine und Couscous, die marokkanischen Spezialitäten, kommen bei allen gut an. Besser gesagt: Zum Glück haben sich alle Mägen mit der öligen Küche abgefunden. Meistens setzen wir aber auf Selbstversorgung. Vor allem das Einkaufen der Lebensmittel auf den Souks, den Wochenmärkten, ist immer wie ein kleines Abenteuer: „Papa, was hängt denn da?“ „Das ist ein Kamel, Hella.“ „Und wo sind die Beine und der Bauch?“

Dank Allrad übernachten wir meist in der Abgeschiedenheit. Unsere Standplätze taufen wir Ziegenfels, Skorpionwüste, Echoberg, Adlerkopf oder Elsatal: die Bezeichnungen sind häufig das Ergebnis kleiner Erkundungstouren, inspiriert beispielsweise durch die hungrige Ziegenherde, die uns plötzlich umringt und sogar die Arganen-Bäume erklimmt, oder durch die Skorpione, die wir scharenweise unter den Steinen finden. Zur Anschauung setzen wir das eine oder andere Exemplar in die Becherlupen. Geschickt und ungeschickt zugleich: Als Hanni Nanni auffrisst – so tauften wir zwei der Skorpione – wissen wir, dass die Tiere nicht besonders gesellig sind. Das Elsatal bringt uns Elsa, so nennen wir das Eselgerippe, dessen Schädel fortan unsere Motorhaube schmückt. Die kleinen Exkursionen werden zum festen Bestandteil unserer Reise.

Die Freundlichkeit der Marokkaner beeindruckt uns. Je abgelegener die Gegend, umso liebenswerter die Menschen. In den kleinen Dörfern am Hohen Atlas schenkt man uns Eier, Milch, Brot und Früchte. Fast schon peinlich, dass wir zum Dank nicht mehr an gebrauchten T-Shirts oder Schuhen mitgebracht haben, an denen es hier wirklich fehlt. In Goulmima am Eingang zu den drei berühmten Schluchten folgen wir das erste Mal einer Einladung und übernachten bei einer marokkanischen Familie. Wie Urlaub auf dem Bauernhof: Die Kinder sind dabei, wenn der alte Bauer Bassou seine Schafe, Hühner und Kaninchen füttert, seine Bienen zeigt oder die Getreidefelder unter den Dattelpalmen bestellt. In M´Gouna auf der Straße der Kasbahs spielen Bands im Amphitheater, tanzen und singen die Einheimischen ausgelassen und feiern die Rosenernte – Hella mittendrin. Wenn wir in Berlin mal ausgehen wollen, müssen wir schon gezielt nach einem kinderfreundlichen Restaurant suchen. In Marokko werden die beiden Mädchen nicht wie Störenfriede behandelt, sondern wandern nach Lust und Laune umher, erkunden die Küche oder sitzen auf einmal am Nachbartisch. Meist kehren sie mit Bonbon-Beute zurück. Auf den Märkten in den engen Altstadtgassen, hat man nie das Gefühl, dass sie verloren gehen könnten. Im Gegenteil, jeder scheint sich wie selbstverständlich um sie zu kümmern. Manchmal sogar etwas übertrieben. Irgendwann sind den Kindern die andauernden Bisous, die Küsschen der Einheimischen zu jeder Gelegenheit dann doch zu viel.

Es ist der Höhepunkt unserer Reise: Die Küste im äußersten Süden Marokkos. Wir tingeln von einer einsamen Bucht zur nächsten, entdecken herrliche Plätze an weiten Sandstränden. Nur wenige Fischer bauten sich hier Hütten aus Treibgut, werfen ihre Angeln ins Meer. Für uns bedeutet das immer frischen, leckeren Fisch. Ansonsten ist das einstige Hippie-Mekka, der Plage Blanche, menschenleer. Manchmal steht unser Auto nur 20 Meter von der Flutspitze entfernt. Der weiche warme Sand ist unser Wohnzimmer geworden, darüber flattert das Sonnendach im Wind. Wir richten uns wie die Robinson-Familie ein, genießen die Nacktheit im brausenden Atlantik. Wir erkunden die Sanddünen und Felsklippen, finden Schiffsgerippe oder Walknochen aber auch große Mengen an angespültem Müll. Kamele ziehen am Horizont wie eine Saurierherde vorbei, Wüstenfüchse und -hörnchen sind neugierig auf die Fremden am Strand. Wir beobachten seltene Vögel wie Fischadler oder Waldrappe. Am Abend halten uns der Sonnenuntergang, das knisternde Lagerfeuer und der Sternenhimmel in ihrem Bann. Der Hauch der völligen Freiheit umweht uns. „Jetzt einfach immer weiter fahren, immer weiter die Küste entlang“, sagt Esther, als wir über den Zeitpunkt sprechen, wann wir denn umkehren wollen, umkehren müssen. Es ist das Afrika-Virus, das sich da meldet. Wieder hat es eine erwischt.



Wüstentour mit Kleinkind: Rast in der marokkanischen Wüste, Begegnung mit Einheimischen. Bilder: Jürgen Heup

Vorteile dieser Reiseform:

 Relativ günstig: Je länger die Reise, desto geringer wirken sich etwa Fixkosten wie Fährgebühren aus und desto mehr drücken die geringen Lebenshaltungskosten in Marokko die durchschnittlichen Ausgaben pro Tag.

 Autarkie: Ein alter Lastwagen ist geräumig. Wasser, Treibstoff, Nahrungsmittel. Erst nach fünf bis sieben Tagen mussten wir wieder Frischwasser tanken und Einkaufen. Und er verleiht einem ein Gefühl von Sicherheit im Straßenverkehr. Auch marokkanische Harakiri-Fahrer halten Abstand.

 Flexibilität: Reisen mit einem Allrad-Lkw bedeutet, dass man so gut wie alle Plätze anfahren kann.

Nachteile dieser Reiseform:

 Sprit: Ein Lastwagen braucht eine Menge an Treibstoff, unser HeuBer knapp 19 Liter. Marokko ist dank Diesel-Preise um 60 Cent aber noch gut machbar.

 Strecken: Der alte HeuBer fährt zwar Spitze 105 Stundenkilometer, die Geräuschkulisse erreicht dann aber einen ähnlich hohen Dezibelbereich. Mit 80 geht’s besser, man macht aber auch weniger Strecke: Daher fuhren wir in Europa häufig nachts. Dann konnten die Kinder schlafen.

Das würde ich beim nächsten Mal anders machen:

 Mehr Zeit. Drei Monate hört sich für eine Reise zwar lang an, ist aber immer noch zu kurz.

 Wir hatten viel zu viele Windeln und Breigläschen dabei, die haben wir vor Ort einfach verschenkt.

Der ultimative Reisetipp für Marokko:

 Vor allem der Südwesten Marokkos, die Atlantik-Küste, hat uns gut gefallen: Kaum Tourismus, einfache Lebensweise, und die Temperaturen sind auch für Kinder erträglich.

 Städte wie Fes, Agadir und Marrakesch waren natürlich auch lohnenswert, sind mit Kindern aber anstrengend.

Fazit: Afrika geht auch mit Kindern.


Der Tipp der Reiseratte:

Marokko-Reisenden wird in Foren und Reisebüchern immer wieder geraten, sich möglichst früh bei den Fährgesellschaften oder Anbietern Fährtickets zu besorgen, vor allem dann, wenn sie mit größeren Wohnmobilen von Frankreich oder Italien aus verschiffen. Die Begründung: So könne man an die günstigsten Kontingente gelangen. Interessanterweise machten wir genau die gegenteilige Erfahrung. Wir hatten uns vor der Reise nur ein One-Way-Ticket gekauft. Als es dann aber doch wieder Richtung Heimat gehen musste, erkundigten wir uns im Hafen von Tanger-Med wenige Stunden vor Abfahrt der Fähre über Ticketpreise und bezahlten schließlich weniger als für unser vermeintlich günstiges Hinfahrt-Ticket, dass wir uns Monate vor unserer Abfahrt in Deutschland über einen großen Reiseanbieter gekauft hatten. Zudem erhielten wir bessere Kabinen.

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