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Gutenachtgeschichte für Maria Carolina Barbara Frischmuth

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Für eine Kröte war sie eigentlich zu groß, dafür konnte sie sprechen. Sie saß auf dem ehemaligen Wickeltisch, der jetzt eine Kommode war, genau an der Stelle, an der der Schein der Nachttischlampe sich im Dunkeln verlor.

„Ich hoffe, du hast nicht wieder darauf bestanden, daß die Tür einen Spaltbreit offen bleibt …“

Die Kröte wuchs noch ein wenig. Maria Carolina blinzelte in Richtung Tür. Der Spaltbreit hatte sich zu einem Spalteng zusammengezogen, den man gar nicht mehr bemerkte.

„Ich hasse es nämlich, wenn hier plötzlich jemand steht, ohne daß man die Tür gehen hört.“ Die Kröte zog die Lider über ihre goldfarbenen Augen und verschwamm in der blaugrauen Luft des Kinderzimmers.

„Bist du noch da?“ Maria Carolina richtete sich auf und schnupperte. Es roch ein bißchen nach den großen grünen Blättern, aus denen man sich Hüte machen konnte, und ein bißchen nach See.

„Warum sagst du denn nichts?“ Immer wenn Maria Carolina die Kröte aus den Augen verloren hatte, fürchtete sie, sie könnte von der Kommode gefallen und gegen die Wand geknallt sein und würde sich womöglich in einen Prinzen verwandeln. Der würde dann am Ende noch wollen, daß sie besser auf ihre Kleider achtgebe. Die Augen der Kröte sandten wieder goldenes Licht aus.

„Natürlich bin ich noch da. Ich versuche nur, mich zu erinnern.“

Und die Goldpunkte verloschen aufs Neue.

„An das, was du mir versprochen hast?“

Es blieb still.

„He!“ rief Maria Carolina und schlüpfte aus dem Bett.

„Wenn du dich nicht erinnerst, erinnere ich dich.“

„Pst!“ machte die Kröte und ließ ihre Augen mehrmals aufleuchten.

„Gleich hab’ ich es … pst!“

Maria Carolina konnte es nicht erwarten. „Wir wollten …“

„Sag’ ich doch, daß wir wollten.“

„Wir wollten zu einem Abenteuer!“

Die Kröte lächelte von einem Ende ihres breiten Maules bis zum andern.

„Richtig. Na, dann komm!“

Die Kröte wußte genau, wo ein Boot lag, das sich losketten ließ. Sie zog Maria Carolina zu sich auf die Ruderbank. „Hilf mir“, quakte sie. Sie war jetzt viel kleiner, und es sah so aus, als würde Maria Carolina rudern müssen. Zum Glück schien die Sonne, und die Wellen hielten ihren Mittagsschlaf. Nur um das Boot herum tummelten sich ein paar von ihnen, aber selbst die ließen sich bald wieder faul zurückfallen.

Maria Carolina hatte noch nie gerudert, dennoch glitten sie zügig über den See.

„Geht doch ganz einfach.“ Maria Carolina war so stolz, daß sie etwas sagen mußte.

„Am Anfang geht immer alles ganz einfach“, stellte die Kröte gewichtig fest, streckte eines ihrer Beinchen weg und zog es gleich wieder an sich.

„Was meinst du damit?“

„Na, zum Beispiel: Fliegen fliegen! Da weiß man, woran man ist.“

Maria Carolina überlegte. Es gab ein paar Fliegen, die das Boot begleiteten. Eine war sogar so frech, sich auf ihre Stirn zu setzen, und als Maria Carolina sie mit dem Arm wegscheuchte, flog die Fliege aufs Wasser hinaus.

„Oder: Fische fischen!“ fuhr die Kröte fort.

In diesem Augenblick war ein Fisch aus dem Wasser gehüpft und hatte sich die Fliege aus der Luft gefischt.

„Du verstehst? Aber es wird immer komplizierter.“

Die Kröte schloß die Augen und schien nach weiteren Beispielen zu suchen.

„Und Ruder rudern“, sagte sie plötzlich und war froh, daß das Nachdenken geholfen hatte.

„Gar nicht wahr!“ Maria Carolina besah sich ihre Hände, die bereits kleine rote Schwielen hatten. „Ich rudere.“

„Sag’ ich ja, daß es nicht so einfach ist.“

Das Boot landete, und die Kieselsteine knirschten unter seinem hölzernen Kiel. Maria Carolina und die Kröte kletterten die Uferböschung hinauf und gelangten auf einen Weg, der hinter Bäumen verschwand.

„Und wie kommt man zu einem Abenteuer?“ fragte Maria Carolina, der das alles schon zu lange dauerte.

„Man muß es anziehen!“ Die Kröte reckte die Nasenlöcher in die Luft und schaute in alle vier Himmelsrichtungen.

„Das heißt, man geht mitten auf dem Weg,

damit einen jeder sehen kann.“

Gesagt, getan. Maria Carolina stapfte mitten auf dem Weg dahin, und die Kröte watschelte neben ihr her. Und als sie auf diese Weise ein gutes Stück hinter sich gebracht hatten, wurde Maria Carolina ungeduldig. Gerade als sie fragen wollte, wie lange es denn noch dauern würde, bis sie ein Abenteuer angezogen hätten, wo sie doch so mitten auf dem Weg gingen, wie sie mittener gar nicht gehen konnten, machte die Kröte wieder „pst!“ und blieb stehen. Schon von weitem war zu sehen, wie sich die Grashalme und die kleineren Büsche am Rande des Weges bewegten. Und dann war auch noch eine Stimme zu hören. Die Stimme klang zuerst nur wie ein Zischen, aber wenn man sich daran gewöhnt hatte, merkte man, daß es sich um eine Art Singsang handelte:

„Sön und saurig ist die Seit

Sonne seint und Snee, der sneit.

Sieben Swerge, sieben Sachen

Lassen keine Seit sum Snarchen.“

„Na, was habe ich dir gesagt“, flüsterte die Kröte und räusperte sich dann. Der Singsang verstummte, und das Gras hörte für einen Augenblick auf zu rascheln.

„Ich seh’ euch, seht ihr mich auch?“ fragte die Stimme ein wenig schüchtern.

„Wir sehen dich nicht.“ Die Kröte klang vertrauenerweckend. „Nur wenn du dich zeigst, werden wir dich sehen.“

Einen Augenblick blieb es still. Dann hörten sie wieder die Stimme: „Ich seige mich, wenn ihr sagt, daß ihr Sudel seid, auch wenn ihr sonstwie heißt.“

Die Kröte dachte kurz nach. „In Ordnung“, sagte sie.

„Wir sind aber keine Sudel“, flüsterte Maria Carolina aufgeregt.

„Wer weiß…“ Die Kröte klang, als wisse sie mehr, als sie sagen wollte. Das Gras bewegte sich wieder ein wenig.

„In Ordnung was?“

Dann war es still, bis die Stimme fragte: „Seid ihr nun Sudel oder sonst wer, die keine Sudel sind?“

Die Kröte seufzte. „Auf die eine oder andere Weise sind wir doch alle Sudel.“

Ein leises, zischendes Kichern erklang, und ein Wesen kam aus dem Unterholz auf den Weg gehurtelt. Es war größer als die Kröte und kleiner als Maria Carolina. Und dazu pelzig, pummelig und ein bißchen popelig. Was das heißen soll? Hm! Mit Verlaub, das Wesen wirkte nicht besonders sauber. An seinem Pelz hafteten angetrocknete Krümel, Strohhalme und Disteln, und seine Ohren … hm, hm! Man sah es zwar nur, wenn das Wesen sie spitzte, aber hin und wieder spitzte es sie eben.

Kurz vor Maria Carolina und der Kröte blieb es stehen, fuhr sich mit den Fingern durch den leicht verfilzten Schopf, neigte ein wenig den Kopf und sagte höflich seinen Namen: „Sudel-Sors!“ Dabei fielen ihm die Ohren verschmitzt ins Gesicht. „Maria Carolina“, erwiderte Maria Carolina, getraute sich aber nicht, ihre Hand auszustrecken, und die Kröte fügte locker hinzu: „Mich wirst du ja wohl kennen?!“

Der Sudel hatte sein Händchen ausgestreckt, da ihm aber Maria Carolina nicht entgegenkam, betätschelte er ihr Kleid. „Sieht so sön aus, sss …!“

Maria Carolina bemerkte, daß die Hand des Sudels, die auf dem Rücken bepelzt war, ein hübsches Muster auf ihr Kleid gedrückt hatte. Ein dunkelviolettes Fingermuster, wenn man es genau betrachtete.

Der Sudel hatte übrigens eine Tragtasche umhängen, die voll mit Heidelbeeren war. „Und?“ fragte der Sudel, nachdem er sein dunkelviolettes Fingermuster auf Maria Carolinas weißem Kleid wohlgefällig betrachtet hatte. „Wie saut’s aus? Seid ihr sonstwo su Besuch oder kommt ihr su uns? Jetzt sind sowieso alle su Hause.“ Die Kröte warf Maria Carolina einen „Hab’ ich dir’s nicht gesagt?“ – Blick zu und meinte obenhin: „Eigentlich wollten wir nur sehen, was hinter dem Hügel steckt. Aber wenn wir nicht stören, kommen wir gerne zu Besuch.“ Sudel-Sors wurde plötzlich ganz aufgeregt, er zappelte sogar ein wenig.

„Sudel“, rief er, „die Sudel stecken hinter dem Hügel. Sweihundertswansig Sritt, und wir sind da.“

„Na, wenn es weiter nichts ist“, erwiderte die Kröte und setzte sich in Bewegung, während Sudel-Sors voraushopste und Maria Carolina neugierig hinterdreintappte.

„Wie nehmen wir ihn?“ fragte die Kröte, als sie am Fuß des Hügels standen. Ehrlich gesagt, sie war ziemlich gehfaul und überlegte immer, wie sie ein paar Schritte einsparen könnte. „Sräg von der Seite“, lispelte Sudel-Sors und bog wieder ins Unterholz. Da sie alle drei nicht besonders groß waren, fanden sie leicht einen Weg durchs Gestrüpp. Es war angenehm kühl unter den Blättern, und Maria Carolina hatte sich ein Büschel Sauerampfer abgepflückt, an dem sie kaute und kaute, auch wenn es ihr das Gesicht zusammenzog.

Der Hügel war nur eine Art Kegel, der einen langen Schatten warf. Als sie ihn fast zur Hälfte umrundet hatten, standen sie vor einem Bach, der in eine abschüssige Steinrinne lief.

„Sind son da“, zirpte Sudel-Sors, setzte sich in die Rinne, und die Kröte und Maria Carolina machten es auch so.

„Swups!“ schrie Sudel-Sors, und schon rutschten sie und rutschten immer schneller, bis sie mit einem großen Platsch in einem Tümpel landeten. Auf dem moorigen Grund wuchsen riesige Pflanzen, die mit ihren großen Blüten aus dem Wasser ragten. Es waren prachtvolle Aronstäbe, die wie Zauberstöcke aussahen.

Prustend und kichernd überschlugen sich alle drei im Wasser, und Maria Carolina war so ausgelassen, daß Sudel-Sors sie tümpelte, damit sie nicht so laut quietschte. Sie hatten den Grund mit ihrem Getobe so sehr aufgewirbelt, daß das Wasser ganz schwarz geworden war, und als sie endlich ans Ufer kletterten, starrte ihnen der Tümpel wie das rabenfarbene Auge des Waldes aufgebracht nach.

Kaum waren sie ein paar Schritte gegangen, als sich vor ihnen eine Lichtung auftat, auf der nichts wuchs, und die aus blankem Waldboden bestand, so als trample ständig jemand darauf herum. Sudel-Sors nahm seine Tragtasche ab und begann sich zu wälzen, daß es nur so seine Art hatte.

Maria Carolina und die Kröte machten es ihm begeistert nach. Es staubte wie aus tausend Bovisten, und sie kutzten und niesten um die Wette. Als Sudel-Sors sich wieder aufgerichtet hatte, murmelte er etwas von Fellpflege, doch vorerst sah er noch aus wie ein frisch panierter Hühnerhaxen.

Der Dreck klebte in Schichten an seinem feuchten Fell. Maria Carolina aber sah aus wie eine gewuzelte Mohnnudel. Nur die Kröte, an der nichts haftengeblieben war, machte einen einigermaßen geputzten Eindruck.

Plötzlich erfüllte ein vielstimmiges Gezischel die Luft, und von überall her kamen Sudel auf sie zu. Maria Carolina blickte an sich hinunter und schämte sich ein bißchen. Vor allem vor der freundlichen alten Sudeline, die ihr gerade entgegenkam. Sie versuchte es mit Reiben, aber da rieb sie den Schmutz nur noch tiefer in ihr Kleid.

„Nicht so snell. Nach siebenhundert Sekunden süttelst du dich, und alles ist sehr sauber“, flüsterte Sudel-Sors. Dann deutete er auf die Sudeline und sagte: „Sie ist die Sudel-Mutter, und sie simpft sehr selten.“ Diesmal streckte Maria Carolina sogleich die Hand aus, um die der Sudel-Mutter zu drücken, und als sie sie wieder losließ, war sie weiß bestäubt. Offenbar war die Sudel-Mutter gerade vom Backen gekommen.

„Sön, daß ihr su uns saut“, rief sie laut, wahrscheinlich hörte sie schon schlecht. „Snell su Tisch. Ich sneide nur noch Snittlauch in die Soße!“ Auch die anderen Sudel hopsten näher, um den Besuch zu begrüßen. Und da alle sehr hungrig waren, nahmen sie sich die Worte der Sudel-Mutter sogleich zu Herzen. Sudel essen gerne, aber was noch erstaunlicher ist, sie kochen auch gern. Jeder und jede rührte oder knetete etwas, fütterte ein Feuerchen oder rührte ein Breichen.

Und als dann alle Sudel um den gefällten Baumstamm herumsaßen, auf dem gedeckt war, rückte jeder die Speise, die er selber zubereitet hatte, besonders ins Licht. Dabei konnte man das ohnehin an Händen und Lippen erkennen, mit denen solange gekostet worden war, bis die Sache den rechten Pfiff hatte. Und die Heidelbeeren, die Sudel-Sors gepflückt und dann im Tümpel gespült hatte, zierten so manches Schüsselchen.

Der Himmel weiß, wie sie so rasch dahin gekommen waren.

Maria Carolina ließ es sich nicht zweimal sagen und griff ordentlich zu. Mit den Fingern, versteht sich. Die Sudel behaupteten, dazu hätten sie sie nämlich, zum Kochen und zum Essen. Und Sudel-Sors zeigte ihr, wie er aus seiner Hand einen Löffel oder eine Gabel formte.

Es schmeckte köstlich, und man durfte patzen, soviel man wollte. Niemand sagte „Wisch dir den Mund!“, und wenn einen ein vertrockneter Krümel juckte, kratzte man sich an der Rinde des Baumstammes, und schon fiel er ab. Als sie dann mit dicken Bäuchen aufstanden, schüttelte sich Sudel-Sors so heftig, daß seine Ohren schlackerten, und siehe da, mit einemmal glänzte sein Fell, als hätte man es gebürstet. Maria Carolina schüttelte sich ebenfalls, aber leider tat sich gar nichts. Ihr Kleid blieb so verschmiert wie zuvor.

„Süttle dich so, sau!“ Und Sudel-Sors schüttelte sich Maria Carolina noch einmal vor. Es half nichts. Sie hatte eben doch keinen Sudelpelz, der das alles mit sich machen ließ. Ihr Kleid blieb schwarz gepunktet, und ihr Gesicht? Zum Glück konnte sie ihr Gesicht nicht sehen. Nur die Kröte bemerkte gelassen: „In gewisser Weise sind wir alle Sudel. Es steht nur nicht jedem gleich gut!“ Daß Sudel gerne essen und kochen, wissen wir schon. Dazu kommt noch daß sie auch gerne tanzen. Und ehe Maria Carolina es sich versah, wurde sie an den Händen gefaßt – ein Sudel links, ein Sudel rechts –, und schon wirbelte sie mit den Sudeln im Kreis herum, daß der Kröte allein vom Zuschauen schwindelig wurde.

Und sie tanzten und tanzten … bis Maria Carolina beim Pfeifen des Wasserkessels die Augen öffnete. Die Kröte nickte zum Abschied vom ehemaligen Wickeltisch herüber und zog sich dann allmählich in die Wand zurück. Maria Carolina aber schloß noch einmal die Augen. Da wurde der Spalteng wieder zum Spaltbreit, und Maria Carolinas Mutter kam herein. Sie machte sich am Wäschekorb zu schaffen, das merkte Maria Carolina sofort, obwohl sie nur ein klein wenig blinzelte.

Da trat ihre Mutter ans Fenster und hielt eines von Maria Carolinas Kleidern ans Licht. „So ein Sudel!“ sagte sie und schüttelte den Kopf, während sie das Kleid zusammenknüllte, um es in die Waschmaschine zu stecken. „Ein Sudel?“ dachte Maria Carolina, „hast du eine Ahnung?!“ Und da es ohnehin Zeit zum Aufstehen war, begann sie fröhlich vor sich hin zu summen:

„Sön und saurig ist die Seit,

Sonne seint und Snee, der sneit.

Sieben Swerge, sieben Sachen

Lassen keine Seit sum Snarchen.“

Der Text folgt der 1. Auflage Wien: J&V. Dachs Verlag 1994.

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