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Der Letzte von der Einigkeit
ОглавлениеSie werden verstehen, dass ich nicht gerade zum Himmel emporgejubelt habe, als der vermischte Doktor mich am ersten Weihnachtstag anrief, kurz nach 22 Uhr, und mir eröffnete, ich müsse am nächsten Morgen im Krankenhaus zu Esens einen Steuermann namens Leiss besuchen, der sich mit seinem Küstenmotorschiff zwischen Langeoog und Baltrum ein tolles Stück geleistet habe. Der vermischte Doktor macht die Seiten »Unterhaltung und Vermischtes« bei unserer Zeitung. »Vermischtes« bedeutet Mord und Totschlag. Das kennen Sie ja. Deshalb heißt er so. »Der Kahn ist bei Windstärke 9 gekentert«, sagte er, »heute Mittag, heißt, glaube ich, Einigkeit. Der Kapitän und der Junge sind über Bord gegangen. Steuermann Leiss hatte Freiwache und wurde im Logis eingeschlossen. Nach drei Stunden hat die See den Kahn auf eine Sandbank vor Langeoog geworfen. Dann ist ein Hubschrauber von der Bundeswehr gekommen, hat den Mann herausgeholt und nach Esens ins Krankenhaus gebracht. Direkt vor die Haustür. Und nun sehen Sie mal zu, wie Sie die Sache in den Griff kriegen. Da sitzt nämlich Musik drin. Wenn Sie sich heranhalten, können Sie mir Ihren Bericht bis 18 Uhr auf den Schreibtisch legen. Mit Bild. Alles klar?«
Natürlich war alles klar. Was sollte ich machen? Dabei war gar nichts klar.
Übrigens: Nadolny ist mein Name. Bastian Nadolny. Wir wollten am zweiten Weihnachtstag nach Lübeck, Lille und ich.
Als wir am anderen Morgen losfuhren, waren die Straßen leer. Trotzdem musste ich aufpassen, weil die Sturmstöße den Wagen wegdrückten. Mit Lille zu fahren ist wie Geburtstag haben. Sie benimmt sich genau so, wie eine Frau sich benehmen muss, wenn sie mit einem Mann im Auto fährt. Macht es mit ihrem bloßen Dasitzen schon festlich. Sie nennt mich Bass, wegen Bastian und wegen meiner tiefen Stimme. Aber das gehört nicht hierher. Was hierher gehört, ist Folgendes: Im Krankenhaus von Esens sagte die Schwester mir, den Steuermann habe seine Frau gerade weggeholt.
»Lebendig?«, fragte ich.
Es habe so ausgesehen. Woher ich käme? Aus Bremen? Dann müsse ich ihnen begegnet sein. In einem kleinen Volkswagen. Vor zwei Stunden.
»Adresse?«, sagte ich.
Sie hatte die Adresse wahrhaftig da: Bremen, Kleine Meinkenstraße 17.
»Wissen Sie was, Schwester?«, sagte ich.
»Nein«, sagte sie.
»Ich wohne in der Sonnenstraße«, sagte ich. »Wenn ich um die Ecke biege, habe ich die Kleine Meinkenstraße gerade vor meiner Nase. Stattdessen fahre ich am heiligen zweiten Weihnachtstag geschlagene zwei Stunden durch Regen, Sturm und Dreck hierher. Zum Weinen. Warum ist er denn nicht hier geblieben?«
»Sowie er seine Stimme wieder fühlte, hat er mit seiner Frau telefoniert und nicht eher Ruhe gelassen, bis sie versprochen hat, ihn wieder nach Hause zu holen. Ich wünsche Ihnen eine gute Fahrt.«
Kurz vor 15 Uhr bogen wir in die Kleine Meinkenstraße ein. Nummer 17 war ein kleines, schmales Haus. Ehe wir klingeln konnten, wurde die Wohnungstür geöffnet. Ein Herr verabschiedete sich von Frau Leiss: »Ich habe ihn zwar erst einmal krankgeschrieben, aber Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Auf jeden Fall sehe ich morgen früh noch einmal herein.« Der Arzt also. Wir ließen ihn vorbei und wandten uns Frau Leiss zu, die uns mit betonter Zurückhaltung musterte.
Steuermann Leiss lag auf dem Sofa. Er trug eine grüne, halb zugeknöpfte Strickjacke über einem wollenen Hemd mit offenem Kragen. Als er uns erblickte, setzte er sich auf und schob die Füße unter den Tisch.
»Du sollst in die Zeitung, Alwin«, sagte Frau Leiss. »Sie wollen dich aufnehmen. – Entschuldigen Sie, Ihren Namen habe ich schon wieder vergessen.«
Ich sagte, sie müsse aber mit auf das Bild. Dann stellte ich mich und Lille dem Steuermann vor.
»Angenehm«, sagte er und erhob sich ein bisschen. »Leiss.«
Er sah erschreckend mager aus. Die lange, dünne Nase ging an der Spitze etwas nach oben. Ich fragte ihn, ob er schon etwas Neues von dem Kapitän und dem Jungen gehört habe. Dabei wies ich mit dem Kopf auf das Fernsehgerät, das auf der breiten Kommode neben einem spärlich geschmückten Tannenbäumchen stand.
»Nein«, sagte er, »sie haben nichts mehr darüber gebracht. Schon vergessen.«
»Wir vergessen Sie aber nicht«, sagte ich. »Und deshalb wollen wir erst einmal ein paar Aufnahmen von Ihnen machen. Wenn Sie erlauben. An die Arbeit, Fräulein!«
»Hol mal was zu trinken, Mutter!«, sagte der Steuermann. »Mögen Sie echten Genever, aus Schiedam?« Er sprach es wie Ss-chiedam aus.
»Ein Gläschen traue ich mir wohl zu«, sagte ich, »aber mehr nicht. Ich muss ja fahren.«
»Und das Fräulein?«
»Dasselbe«, sagte Lille, während sie den Belichtungsmesser vor die Brust des Steuermanns hielt. »Achteinhalb Schein. Wir nehmen am besten die chromatische Superanastigmat mit Blende 11 und Gummilinse.«
Lauter Unsinn. Sie hat keine Ahnung vom Fotografieren. Aber es klang so wunderbar unverständlich, dass Frau Leiss ein ergriffenes Gesicht machte. Unverständlichkeit bewirkt immer Hochachtung. Davon lebt heutzutage die Kunst.
Während der Aufnahmen kamen wir ins Gespräch über das Kentern und die Strandung der Einigkeit. Der Steuermann hatte sich mit dem neuen Kapitän, einem Hamburger, nicht verstanden. Schon bei der Ausreise waren sie aneinandergeraten. Und auf der Westerems noch mehr.
»Westerems«, sagte ich, »woher kamen Sie denn?«
»Von Delfzijl. Ich hielt es für unverantwortlich, mit dem kleinen Schiff in das harte Wasser hineinzugehen. Wir hatten nur vierzehn Tonnen Ladung im Raum. Tee und Seidenpapier. Aber mit dem Kapitän war nicht zu reden. Er wollte und wollte am ersten Weihnachtstag in Hamburg sein, und da gab es nichts. Gott mag wissen, was auf dem Spiel stand.« Als sie gegen Mitternacht von Delfzijl ablegten, hatte der Steuermann das Ruder. Der Kapitän ging zur Koje und der Junge auch. Bei wachsendem Westnordweststurm und auflaufendem Wasser schlingerte die Einigkeit die Westerems hinunter, immer am Tonnenstrich entlang. Querab von Borkum traf sie das Wetter mit voller Gewalt. Der Steuermann musste die Fahrt herabsetzen. Das war gegen 6 Uhr morgens. Kurz vor 7 Uhr weckte er den Kapitän, weil der Diesel nicht einwandfrei arbeitete. Dann aß er ein paar Scheiben Brot mit Speck, trank einen Schluck, zog die Gummistiefel aus und warf sich in die Koje. Im nächsten Augenblick war er in tiefe Bewusstlosigkeit gesunken.
Und dann kam es. Ein Gedonner kam und ein Brechen und eine sich drehende Finsternis. Er fiel irgendwohin. Die Einigkeit sank weg, fing sich und ruckte hoch.
Ja, was nun? Er stand schwankend da und stierte in die Dunkelheit. Wenn es mit rechten Dingen zugegangen wäre, hätte doch alles längst vorbei sein müssen. Aber die Einigkeit musste so schnell gekentert sein, dass sie nicht hatte volllaufen können und dass sich eine Luftblase in der Kajüte gefangen hatte, die ihm das Atmen ermöglichte wie in einer Taucherglocke.
Wo mochten sie jetzt sein, das Schiff und er? Seine Armbanduhr zeigte ein Viertel nach 13 Uhr. Dann hatte die Flut schon eingesetzt. Dadurch verringerte sich die Gefahr, dass die Einigkeit auf die Schifffahrtsstraße geriet und von einem großen Pott vollends unter Wasser gedrückt wurde. Flut und Wind drängten sich gegen die Inseln. Das konnte die Rettung bedeuten. Hoffentlich hielt die Luft noch so lange vor.
Zuerst hatte ihm die Kälte am meisten zugesetzt. Aber mit der Zeit nahm die Einsamkeit überhand, sie quälte ihn noch mehr als die Kälte. So sehr, dass er ein paar Mal in Versuchung kam aufzugeben. »Ich habe keine weichmütige Natur«, sagte er, »das dürfen Sie mir glauben. Aber es war, als ob mir die Wände immer näher auf den Leib rückten in der Finsternis. Und ich hatte keine Hilfe und konnte nicht weg. Schön ist das nicht.« Er griff nach der Flasche. »Trinken Sie aus! Oder hätten Sie lieber ein Bier? Mutter, hol mal Bier aus dem Kühlschrank!«
»Nein, nein«, sagte ich. »Danke, ich darf ja nicht.«
Lille trank ihr Glas aus, zog es dann an sich und schüttelte den Kopf. »Ich danke auch. Aber ich möchte Sie wohl etwas fragen.«
»Fragen Sie nur, kleines Fräulein.«
Sie fasste wieder ihr Haar, so schräg von hinten, und schob es auf und ab. »Vorhin haben Sie gesagt, dass Ihre Armbanduhr noch ging.«
»Ging noch tadellos. Hier.« Er streckte ihr sein Handgelenk entgegen. »Hat keinen Tropfen durchgelassen.«
Lille schob noch immer ihr Haar auf und ab. »Ich wollte Sie fragen, ob Ihnen das Ticken, wenn Sie die Uhr ans Ohr hielten, und die Leuchtziffern, ob Ihnen die nicht wie etwas Lebendiges vorgekommen sind in der Finsternis.«
»Sieh mal an«, sagte der Steuermann. Er ließ den ausgestreckten Arm mit der Uhr auf dem Tisch liegen und richtete seine Augen auf Lille. »So war es tatsächlich. Wie kommen Sie darauf?«
»Ich hätte Sie gern gefragt«, fuhr Lille fort, »ob Sie – oder ich will einmal so anfangen.« Sie spielte mit ihrem Glas. »Wenn Menschen – es braucht sich nicht einmal um eine so furchtbare Lage zu handeln wie Ihre – ich meine, wenn Menschen in großer Not sind und nicht mehr aus noch ein wissen, dann, na ja, dann kommt manchmal etwas über sie.«
»Hm«, sagte der Steuermann.
»Na ja, zum Beispiel, dass sie anfangen zu beten.«
Der Steuermann sah vor sich hin, warf einen kurzen Blick auf Lille und sah dann wieder vor sich hin.
Schweigen. Ich räusperte mich leise. Wieder Schweigen.
Frau Leiss zupfte Lille am Ärmel ihres Pullovers und flüsterte ihr unter verstohlenem Nicken zu: »Er auch.«
Der Steuermann schien es nicht gehört zu haben, er atmete tief aus: »Ich jedenfalls nicht.« Dann zog er die Luft wieder ein.
»Das ist doch keine Schande, Alwin«, sagte Frau Leiss, »was du mir erzählt hast, ist doch keine Schande.«
»Ich habe ja gar nicht richtig. Alles Unsinn. Nur so – wie das so geht – man will es nicht, man hat ganz was anderes im Sinn, man denkt, wie man hier herauskommen soll. Und dann ist noch was anderes da, wie ein Gestöhn irgendwo innen. Kann keiner was gegen machen. – Aber dass Sie mir ja nichts darüber schreiben, sonst werde ich verdammt unangenehm.«
Ich wies seine Befürchtung mit beiden Händen zurück, zeigte auf Lille und erhob die Hände noch einmal.
»Außerdem war ja auch Weihnachten«, sagte Lille.
Frau Leiss stand auf. »Ach je, ich sollte dir ja … Du wolltest das ja noch nachlesen.«
Aber der Steuermann befahl ihr mit einer unwilligen Bewegung zu bleiben. »Jetzt doch nicht.«
Lille sah ihn an. Er fasste nach dem angebrochenen Tabakpäckchen und begann, sich die Pfeife zu stopfen. Als er fertig war, rauchte er schweigend vor sich hin. Ich überlegte, ob ich meinerseits etwas fragen sollte. Da fing er an zu sprechen.
»Nach zwei Stunden hatte ich nur noch verdammt wenig Hoffnung. Ich merkte, dass der Sauerstoff in der Luftblase abnahm. Meine Augen konnten die Leuchtziffern kaum noch erkennen vor Taumeligkeit. Zwei Stunden in der Finsternis sind eine lange Zeit, das kann ich Ihnen sagen. Da ist man nicht mehr für das verantwortlich, was einem durch den Kopf kommt. Und was kommt einem da nicht alles durch den Kopf! Weihnachtstag. Daran denkt man natürlich auch, ist ja verständlich. Christi Geburt. ›Und es ging ein Gebot vom Kaiser Augustus aus.‹ Ich versuchte, ob ich es noch zusammenkriegte. Gleich der Anfang kam mir nicht ganz richtig vor. Mit einem Male hatte ich es: ›Und es begab sich, dass ein Gebot vom Kaiser Augustus ausging.‹«
»›Zu der Zeit‹«, warf Lille ein.
»Sehen Sie! Nicht einmal jetzt kriege ich es zusammen. Und in der Finsternis schon gar nicht. ›Da machte sich auch auf Joseph aus Nazareth, der Stadt Davids.‹ Oder stimmt’s wieder nicht?« Er wandte sich an mich. »Ich bin für so etwas nicht zuständig«, sagte ich.
Lille schüttelte den Kopf.
»Wahrscheinlich stimmt es nicht. Mir schummerte die ganze Zeit über, dass es nicht stimmte. Und schließlich gab ich’s auf. Aber dann sagte ich mir, es könnte ja sein – ich sage ja, worauf verfällt man nicht alles, wenn man so ins Ungewisse treibt, in den Tod und in was für einen Tod! Und da machte ich eine Wette gegen das Schicksal: Wenn ich die Geschichte richtig zusammenbrächte, dann würde ich doch noch gerettet. Junge, was habe ich mir den Kopf zergrübelt, dass ich es in die Erinnerung kriegte. Aber ich erwischte immer nur einen Fetzen. ›Und sie gebar einen Sohn in der Krippe, denn es war sonst kein Platz in der Herberge, und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in die Krippe, und die Engel verkündeten den Hirten: Ehre sei Gott in der Höhe und den Menschen ein Wohlgefallen.‹ So ungefähr. Ich weiß, dass es nicht stimmt, aber für mich stimmte es trotzdem. Ich hatte etwas, worauf ich meine Gedanken richten konnte, dass ich nicht unterging in der Finsternis, dass die Finsternis mich nicht unterkriegte.«
»Es gibt noch eine andere Weihnachtsgeschichte«, sagte Lille. »Und das Licht scheint in der Finsternis.«
»Mag sein«, sagte der Steuermann. »Ich kenne nur: ›Und es begab sich ein Gebot vom Kaiser Augustus.‹ Und das hat mich gerettet. Weil ich es nicht richtig konnte, hat es mich gerettet. Und darauf kommt es an.«
»Und die Finsternis hat’s nicht begriffen«, fuhr Lille fort, aber so tonlos, dass es kaum zu verstehen war.
»Gerettet«, sagte ich, »obwohl Sie die Wette eigentlich verloren hatten. Hören Sie, Herr Leiss, das mit der Weihnachtsgeschichte würde ich aber doch gern bringen.«
»Auf keinen Fall«, sagte er.
»Schade«, sagte ich. »Und dann?«
»Ja, dann …« Er dehnte sich, indem er die Hand mit der Pfeife hochstreckte und mit der andern seinen Nacken rieb. »Kurz nach 16 Uhr kam der erste Stoß. Die Trümmer im Niedergang kreischten, im Laderaum rumpelte es, ich hielt den Atem an. Und da kam auch schon der nächste Stoß. Das Schiff saß auf Grund. Auf Grund, meine Herrschaften! Mit ungeheurer Wucht donnerte die Brandung darüber hin. Jeder Brecher lüftete es an und schob es ein Stück vor sich her. Und dann rollte einer heran, der es nicht weiterschob, sondern umdrehte. Wie wenn ein Riese sich mit seiner Schulter von unten dagegenstemmte und es umdrehte. Jetzt brauchte ich nicht mehr mit der Luft zu sparen. Ich pumpte mir die Lunge voll und tauchte nach dem Türknopf. Er war auch jetzt wieder unter Wasser. Ich drehte ihn um, und die Tür ging wahrhaftig auf, nicht weit, aber doch so weit, dass ich mich hindurchzwängen konnte. Das Eisengewirr und das zersplitterte Holz, die den Niedergang versperrt hatten, mussten sich beim Umdrehen verschoben haben. Ich kletterte hindurch. Gerade fegte wieder ein Brecher über Deck. Das Schiff lag auf einer Sandbank. Da drüben zogen sich die Dünen einer Insel hin. Aber zwischen der Bank und der Insel tobte und schäumte noch die See. Kein Gedanke, dass ich hinüberkonnte. Ich war steif wie eine Handspake. Hoffentlich merkten sie drüben, dass hier noch jemand am Leben war. Vorläufig ließ sich keine Seele blicken. Dabei hatten sie mich auf dem Beobachtungsturm der Seenotfunkstelle längst entdeckt. Aber das wusste ich ja nicht. Der Rettungskreuzer Langeoog war schon ausgelaufen und wollte versuchen, mich von See aus zu erreichen. Die Insel hieß also Langeoog. Und da kamen sie endlich über die Dünen und am Strand entlang, die Inselbewohner. Sie winkten, und ich winkte zurück. Ich verstand nicht, dass sie mich auf den Rettungskreuzer hinweisen wollten. Er kam nicht heran, die Brandung ging viel zu hoch. Schließlich forderten sie einen Hubschrauber von Ahlhorn an. Im Handumdrehen war er da. Er ließ eine Strickleiter hinunter, ich streckte den Arm hindurch und krallte mich fest mit meiner letzten Kraft. Dann hoben sie mich ein paar Meter an und orgelten mich erst zum Strand hinüber und dann nach Esens. Das Ganze dauerte keine Viertelstunde. Und nun sitze ich hier und freue mich meines Lebens.«
»Und ich freue mich, dass ich ihn bei mir habe«, sagte Frau Leiss. Sie stand auf, murmelte etwas vor sich hin und ging hinaus.
»Junge, Junge«, sagte ich, indem ich meine Notizen zusammenraffte, »da sitzt wirklich Musik drin. Und jetzt wird es höchste Zeit, dass ich an meinen Schreibtisch komme. Vielen Dank, Herr Leiss, und gute Tage, und dass Sie bald ein neues Schiff kriegen!«
»Wird schon werden.«
Lille verabschiedete sich mit einer kleinen Verbeugung.
»Wo ist Ihre Frau denn geblieben?«, sagte ich.
Frau Leiss rief durch die offene Tür, sie käme schon. »Hier ist es, Alwin.« Sie hatte ein schwarzes Buch in der Hand. »Du wolltest es doch nachlesen.«
»Jetzt nicht. Leg’s irgendwohin.« Er wies mit dem Arm ins Ungewisse.
Frau Leiss brachte uns hinaus. Die Straßenlaternen brannten schon. Es fing wieder an zu schneien.
»Was wirst du nun schreiben?«, fragte Lille, als wir im Wagen saßen.
»Stoff genug. Viel zu viel. – Du fährst doch mit zu mir?«
Sie fasste in ihr Haar. »Vom Eigentlichen wird wieder einmal nicht gesprochen.«
»Darf ich ja nicht. Hat er mir doch ausdrücklich verboten.Und das ist sein gutes Recht. Leider.« Ich steckte den Zündschlüssel ins Schloss und ließ den Motor anspringen. »Außerdem will ich dir mal was sagen, Lille. Das Eigentliche ist außerdem schon nicht mehr das Eigentliche. Ist längst vorbei und abgetan. War nur, solange er in der Finsternis saß. ›Leg’s irgendwohin.‹ Das kennt man doch.«
»Das kennt man doch«, wiederholte sie. Ihre Augenbrauen zogen sich gegen die Nasenwurzel zusammen.
»Was ist denn los, Lille?«
»Nichts. Bitte, nichts.«
»Ist es dir so schrecklich, dass der Mensch so ist, wie er ist?« Ihre Fäuste drehten sich auf dem Schoß gegeneinander.
Ein Flockenwirbel trieb durch die Helligkeit der Scheinwerfer. Ich fuhr langsam an.
Manfred Hausmann