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Das Mütterchen

Ein Flüchtling, der unter vielen Mühsalen der Verfolgung entronnen war, erzählte uns folgende kleine Geschichte: In jenem Jahre, als man mit besonderer Schärfe und Grausamkeit zum Schlage ausholte gegen alle Gottesehrung im Lande und mit Gewalt versuchte, die alten, frommen Sitten aus dem Herzen des Volkes zu reißen, wachten sie drüben eifernd darüber, dass es niemandem einfalle, die christlichen Feste zu feiern, denn dies schien ihnen darum gefährlich, weil sich hier alte Sitte mit kindlichem Glauben am innigsten verbunden hatte.

Auch auf das Weihnachtsfest hatten sie es abgesehen, vielleicht in der Ahnung, dass sie (einem König Herodes gleich) von dem Kinde, welchem die Herrschaft der Welt verheißen ist, in ihrer Macht tödlich bedroht würden.

Jedenfalls verboten sie bei schweren Strafen jegliche Feier der Geburt des Heilandes.

Damals konnte man an der Grenze entlang viel Volk sehen, das des Nachts heimlich aufgebrochen war, um die Weihnachtsglocken von der Grenze herüberhallen zu hören und sich an ihrem fernen Klange zu getrösten, und mancher fand bei dieser Pilgerfahrt seinen Tod durch die Kugeln der Grenzwächter.

Am Heiligen Abend aber wurden überraschende Patrouillen in die Dörfer gehetzt, um alle Funken verhasster Festnachtsfreude im Keime zu ersticken.

So drangen auch Reiter in das Dorf K. ein, um nachzuforschen, ob man dem Gebot der Obrigkeit Gehorsam leiste. Zuerst ritten sie zur Kirche, gierig danach, eine gläubige Gemeinde mitten in ihrer Andacht aufzustören. Aber das Gotteshaus war menschenleer, und der Widerhall der Sporen auf dem Steinboden klirrte vom hohlen Gewölbe zurück.

Aus Ärger darüber rissen sie die Bilder von den Wänden, zerschlugen die bunten Fensterscheiben und wandten sich dann, um das Dorf gründlich zu untersuchen. Aber auch dort war keine lebende Seele zu entdecken, das geringe Vieh in den Ställen ausgenommen. Und nun gerieten sie in Wut, zogen von Hütte zu Hütte, schlugen die Türen ein, fielen über die Vorräte her, rissen Kasten und Truhen auf, plünderten, was zu plündern war und schlugen mit ihren Karabinern Möbel und Geschirr in Trümmer. Schließlich versammelten sie sich wieder und waren gesonnen weiterzureiten, als einer der Soldaten gerannt kam und schrie, er habe aus einer Scheune abseits vom Dorf einen Lichtschimmer hervorblicken sehen. Sofort sprangen sie auf die Gäule und galoppierten johlend und brüllend die Gasse entlang, zerschmetterten, bei der Scheune angekommen, das Tor mit Säbeln und Gewehrkolben und sahen nun, als sie eingedrungen waren, das ganze Dorf versammelt. Beim Schein einer Stalllaterne lagen Männer, Weiber, Greise und Kinder auf ausgebreitetem Stroh im Kreise umher und blickten ruhig und gefasst den Einstürmenden entgegen. Nur die Kinder fingen leise an zu weinen und schmiegten sich Schutz suchend an die Kleider der Älteren.

Der Kommandant trat vor und forderte Rechenschaft von der Dorfgemeinde. Niemand antwortete ihm. Darauf befahl er seinen Leuten, die Scheune zu durchstöbern. Die Bauern erhoben sich und leisteten keinen Widerstand. Das Stroh wurde durchwühlt, mit den Säbeln auseinandergerissen und durchstochen und die Dörfler aufs Genaueste untersucht, aber es fand sich nichts, kein Kreuz, kein geweihtes Gefäß, und auch kein Geistlicher wurde unter ihnen erkannt.

Da begannen die Peiniger nun von den Bauern mit Schlägen und Stößen ein Geständnis zu erpressen. Der Kommandant, ein vierschrötiger, stämmiger Kerl, ging mit vorgehaltener Pistole von einem zum andern, aber außer dem leisen Jammern der Greise und dem Winseln der Kinder ließ sich nichts aus der schweigenden Schar herausquälen; keiner war zu einem Bekenntnis zu bewegen, was der Anlass ihrer Versammlung sei.

Solche Verstocktheit musste gesühnt werden, und schon waren die Dorfbewohner noch grausamerer Mittel gewärtig, denn der Kommandant rief flackernden Auges seine Leute zusammen; da, in einem Augenblick furchtbarer Stille, trat ein altes Mütterchen in den Kreis. Sie mochte ihre achtzig Jahre auf dem Buckel haben, denn sie ging tief gebückt, das bleiche Gesicht von einer vielfältigen Zahl von Runzeln durchfurcht, und ihre Haare waren grau wie Asche. Sie schlurfte hin, beugte sich tief vor dem Kommandanten, und es ging eine solche Würde des Alters und der Fassung von dem greisen Weiblein aus, dass der Rohe, wie von höherer Gewalt bezwungen, seine Pistole sinken ließ, den Kopf niederbog und, die Lippen zusammengepresst, zu Boden starrte. Über die Soldaten aber flog ein Schimmer der Rührung, denn sie, alles Bauernsöhne, wie es schien, mochten einen unverlorenen, in der Tiefe schlummernden Ruf des Herzens in sich vernommen haben. Auch sie beugten ihre Flachsköpfe und fingerten verlegen an ihren Waffen herum.

Das Mütterchen nun wandte sich der Gemeinde zu, reckte sich, soweit es ihre hagere Greisengestalt vermochte, schaute einem der Dorfsassen nach dem andern mit tiefem, gütigem Blick in die Augen, erhob die Hand und segnete sie alle mit dem Zeichen des Kreuzes. Dazu sprach sie, und ihre feine, dünne Stimme klang wie ein silbernes Glöckchen: »Geliebte, uns ist heute der Heiland geboren!«

Über alle Gesichter der Versammelten flog es wie ein Freudenschein. Man hörte Schluchzen und sah Tränen von den Wangen herniederrinnen, und alle wie aus einem Munde wiederholten den Gruß: »Uns ist heute der Heiland geboren.«

Über der Stirn des Kommandanten wetterleuchtete es. Er warf den Kopf in den Nacken und umklammerte krampfhaft mit der Faust seine Pistole. Aber das Mütterchen hatte sich nun ihm zugewendet. Es machte ein paar Schritte und stand ihm gegenüber, ganz nahe vor ihm, so dass er ihren Blicken nicht ausweichen konnte.

Es hob wieder die Hand, machte wieder das Zeichen des Kreuzes über ihn und seine Soldaten und sprach mit der gleichen hellen und freudigen Stimme: »Geht zu eurer Mutter, Geliebte, geht heim. Denn auch euch, ihr Lieben, auch euch ist heute der Heiland geboren.« Der Kommandant hatte die Augen aufgerissen und schaute über die Greisin weg in den Dämmerraum hinein. Es war, als hielten alle den Atem an. Die Soldaten hatten ihr Kinn bis zur Brust herabgesenkt, einige waren rückwärts zum Tor gewichen, und es schien, als suchten sie schnell den Ort zu verlassen, um ihre Ergriffenheit zu verbergen. Mehrere Sekunden lang dauerte das Schweigen, da bewegten sich die Lippen des Kommandanten und er flüsterte, nur der Alten vernehmlich: »Mutter – Mutter!« Plötzlich aber riss er sich zusammen, gab, wie um sich selbst zur Besinnung zu rufen, einen jähen Schuss ab gegen die Decke, der alle zusammenfahren ließ, aber keinen traf, brüllte mit der Stimme eines Stieres seine Soldaten an: »Hinaus!« und nochmals: »Hinaus!«, und sogleich war die Scheune geräumt von den Häschern. Man hörte die Schritte draußen, hörte, wie sie sich auf die Gäule schwangen, hörte sie im Galopp die Dorfstraße entlangfegen, und dann verhallte der Hufschlag in der Ferne.

Otto Bruder


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