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Selma, die Aufwartefrau

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Obgleich der Pfarrer bereits einige Jahre in der Gemeinde gewohnt hatte, war er noch nie in der Hütte Selmas gewesen. Und doch lag diese in nächster Nähe des Pfarrhofes, am Hang des zum Flusse abfallenden Hügels.

Eine elendere Hütte konnte man sich schwerlich vorstellen. Wenn etwas die Bezeichnung »verfallen« verdiente, so jedenfalls die Hütte Selmas.

Selma selbst sah jedoch alles andere als verfallen aus. Sie war eine hoch aufgeschossene, vierschrötige Frau in den Sechzigern und hätte vielleicht ganz gut ausgesehen, wenn sie nur nicht so schlampig angezogen gewesen wäre. Sie glich einem wandernden Kleiderbündel. Man wusste eigentlich nie recht, was sie anhatte. Röcke und Jacken baumelten und schlotterten an ihren Gliedern, und das Haar hing ihr in zottigen Strähnen um das graue Gesicht.

Trotz ihres vernachlässigten Äußern flößte Selma doch stets einen gewissen Respekt ein. Die Kinder fürchteten sie, die Lehrer mieden sie, nur wenige besaßen den Mut, sie anzureden, und sie selbst suchte nie einen Menschen auf. Sie hatte die Fähigkeit, sich mit einem derartigen noli me tangere – lasst mich in Ruhe – zu umgeben, dass nicht einmal der Pfarrer, ihr nächster Nachbar, einen Besuch bei ihr gewagt hatte. Auch hatte er sie nie in der Kirche gesehen.

Niemand wusste, wer sie war, noch woher sie stammte. Seit Menschengedenken war sie Aufwartefrau1 in der Schule gewesen. Die Eltern der heutigen Schulkinder erinnerten sich noch aus ihrer eigenen Schulzeit an Selma. Sie habe schon damals genauso ausgeschaut wie jetzt, behaupteten sie. Der Pfarrer hatte auch nie in den Kirchenbüchern nach Selmas Herkunft geforscht. Geistliche sind in dieser Hinsicht selten neugierig.

Heute feierte der Pfarrer seine dritte Weihnacht in der Gemeinde. Er befand sich auf dem Heimweg von dem üblichen Besuch im Krankenhaus. Ein Gefühl großer Feierlichkeit bemächtigte sich seiner, während er im funkelnden Sternenlicht den Weg an der Uferböschung des Flusses entlangschritt. Die Lichter aus den Dörfern am jenseitigen Ufer glitzerten wie Perlenketten. Überall feierten die Leute Weihnachten. Jetzt tauchte die kleine Häusergruppe rings um den Pfarrhof vor ihm auf. Er gewahrte Licht hinter den Fenstern. Frau und Kinder harrten seiner, und er empfand ein dankbares Glücksgefühl, Weihnachten mit den Seinen feiern zu dürfen und für eine Weile seiner Amtspflichten ledig zu sein.

Doch gerade in dem Augenblick, da er diesen Gedanken nachhing, gelangte er an die zu Selmas Hütte hinabführende Wegkreuzung. Und wie immer, wenn er hier vorüberschritt, fiel ihm ein, dass er seine nächste Nachbarin noch nie besucht hatte. Er entsann sich des Wortes: »Die Armen sind stets unter euch.« Doch war Selma eigentlich arm? Dass sie es knapp hatte, daran war nicht zu zweifeln, aber sicher hatte sie genug zum Leben.

Dennoch beherrschte den Pfarrer das seltsame Gefühl, als ob Selma in geistlicher Hinsicht irgendetwas fehlen müsse. Sie gehörte zu jenen rätselhaften Menschen, die ein ernstes Geheimnis in sich bergen, ohne je Gelegenheit zu finden, die vielleicht schwerwiegende Bürde in vertraulichem Gespräch mit einem verständnisvollen Menschen von sich abzuwälzen.

Und nun fasste er seinen Entschluss. Er wollte eintreten und Selma begrüßen. Der Augenblick dafür hätte nicht geeigneter sein können als am Heiligen Abend, wo sie allein zu Hause weilte und in der ganzen Welt keinen Menschen hatte, der sich um sie gekümmert hätte. Doch vorerst ging er noch rasch in den Pfarrhof hinüber, um den Seinen mitzuteilen, dass sie noch eine Weile warten müssten, ehe er Zeit fände, sich ganz seiner Familie zu widmen.

Die Kinder waren im Hausflur versammelt, wo sie auf sein Kommen warteten. Sie machten etwas lange Gesichter, als sie vernahmen, dass er noch einen Besuch vorhabe. Als seine Frau erfuhr, wem dieser Besuch gelten sollte, legte sie etwas Weihnachtsgebäck und Speisen in einen Korb, den der Mann mitnahm.

Im Flur vor der Kammertüre blieb der Pfarrer stehen. Die Hütte besaß anscheinend nur ein Zimmer. Er wiederholte sein Klopfen.

»Herein!«

»Guten Abend und gesegnete Weihnacht!«, grüßte der Pfarrer, indem er die Brillengläser trocknete.

Er erhielt keine Antwort. Aber nachdem er die Brille wieder aufgesetzt hatte und klar zu sehen vermochte, entdeckte er, dass sich in der Stube zwei Personen befanden. Die eine war Selma, die andere einer der Kirchenältesten.

»Nein, was sehe ich, der Kirchenälteste!«, sagte der Pfarrer und reichte Johannes As die Hand.

Dieser erhob sich zum Gruße.

»Schönen guten Abend, Selma. Ich bin gekommen, um frohe Weihnacht zu wünschen, und meine Frau bittet mich, einen Gruß zu bestellen. Sie hat mir etwas von unseren Weihnachtsspeisen mitgegeben.«

»Danke!«, erwiderte Selma kurz und ein wenig abweisend, wenn auch nicht gerade unhöflich. »Ich habe, was ich brauche, und wie der Herr Pfarrer sieht, hat der Kirchenälteste mir eine ganze Menge mitgebracht.«

»Ich muss zugeben«, meinte der Pfarrer überrascht, »dass das ein musterhafter Kirchenältester ist. Hier scheint der Pfarrer wahrhaftig nicht als Einziger derer zu gedenken, die am Weihnachtsabend allein ohne Freunde und Verwandte sind. Ich habe beinahe das Gefühl, hier überflüssig zu sein.«

Kaum hatte der Pfarrer diese Worte geäußert, so fühlte er, dass sie mehr Wahrheit enthielten, als er selbst ahnte. Er hatte den Eindruck, dass seine Anwesenheit Selma und den Kirchenältesten nicht nur überraschte, sondern geradezu belästigte. Es war, als wünschten die beiden, er möge so rasch wie möglich verschwinden, ehe etwas gesagt werden oder geschehen könnte, was sie lieber ungesagt und ungeschehen lassen wollten.

Hätte der Pfarrer der Versuchung, sich dieser unangenehmen Situation zu entziehen, Folge leisten wollen, so hätte er ganz einfach Abschied nehmen und heimgehen können. Aber er hatte das Gefühl, dies würde einer Fahnenflucht gleichkommen. In diesem Falle wäre es um seinen Weihnachtsfrieden geschehen. Vielleicht lag auch ein höherer Sinn oder eine Führung dahinter, dass er gerade an diesem Heiligen Abend in Selmas Hütte eintreten und hier einen der Kirchenältesten hatte vorfinden müssen.

Und so tat er denn, was er bei seinen Hausbesuchen meistens zu tun pflegte: Er holte sein Gesangbuch hervor.

»Darf ich mit Selmas Erlaubnis einen Weihnachtspsalm singen, ehe ich gehe?«

Selma nickte. Sie saß mit über der Brust verschränkten Armen da.

»Vielleicht singt der Kirchenälteste mit?«, meinte der Pfarrer und rückte einen Stuhl an dessen Seite. »Johannes As verfügt über die schönste Stimme in der ganzen Gemeinde.«

Aber Johannes sang nicht mit.

Der Pfarrer musste allein singen. Noch nie war ihm das Singen der Worte »Sei gegrüßt, du schöne Morgenstunde« so schwergefallen. Er fand keinen Widerhall in der Stube, weder im natürlichen noch im geistlichen Sinn. Ihm schien allmählich, er hätte sich auf ein unmögliches Unternehmen eingelassen. Er hatte vorgehabt, alle vier Strophen zu singen, brachte aber nur zwei davon zustande. Er schloss mit den seltsamen, sich erst so hoch emporschwingenden und dann so tief absinkenden Worten:

Wärmen,

nähern,

eins zum andern,

die da wandern

ohne Liebe

und aus trüben

Brunnen schöpfen.

Der Pfarrer wollte soeben mit dem Vorlesen eines Weihnachtstextes beginnen, als der Kirchenälteste ihm die Hand auf den Arm legte.

»Es dürfte genügen«, sagte er, »Selma will bestimmt nicht mehr hören.«

Der Pfarrer blickte verwirrt auf. Er war nicht gewohnt, solchermaßen in einer Hausandacht unterbrochen zu werden, am allerwenigsten von einem Kirchenältesten.

Die Ungemütlichkeit und die Spannung wurden schließlich unerträglich. Dem Pfarrer blieb nur die Wahl zwischen zwei Dingen: entweder seines Weges zu gehen oder aber diese Leute zu einer Aussprache zu bewegen. Da fiel sein Blick auf den Küchentisch. Dieser war voll beladen mit zum Teil geöffneten, zum Teil noch verschnürten Paketen, die der Kirchenälteste mitgebracht hatte. Es war klar ersichtlich, dass der Besuch des Pfarrers die beiden Menschen beim Öffnen der Weihnachtspakete unterbrochen hatte. Der Pfarrer ärgerte sich, dass er gerade den Heiligen Abend für seinen Besuch in Selmas Hütte gewählt hatte. Es war – ja, es war beinahe ein wenig taktlos. Er hatte es so gut gemeint, aber vielleicht doch nicht richtig gehandelt. Er entschloss sich zu gehen. Mochte aus seinem eigenen Weihnachtsfrieden werden, was wollte. Jedenfalls wollte er nicht den Frieden anderer zerstören. Er griff nach seinem Hut.

»Ich merke, dass mein Besuch ungelegen kam«, sagte er. »Und ich bitte um Entschuldigung, dass ich mitten in der Weihnachtsbescherung gestört habe.«

Er streckte Selma die Hand hin. Sie erhob sich nicht, reichte ihm aber die eine Hand, ohne die andere von der Brust zu heben. Schlaff, wie gefühllos ruhte ihre Rechte in der seinen.

Er wandte sich an den Kirchenältesten.

»Adieu, Johannes, wir sehen uns morgen früh.«

Doch Johannes bot ihm die Hand nicht. Er saß vornübergebeugt, die Hände zwischen die Knie geklemmt.

»Nein, der Pfarrer soll nicht gehen«, sagte er. »Er soll sich ein Weilchen zu uns setzen. Will der Herr Pfarrer nicht wieder Platz nehmen?«

»Gewiss«, erwiderte der Pfarrer, »das will ich gerne tun. Wünscht der Kirchenälteste vielleicht etwas mit mir zu besprechen?«

»Das hängt von Selma ab«, meinte der Kirchenälteste, ohne den Kopf zu heben.

Der Pfarrer glaubte, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Wie sehr er auch daran gewöhnt war, dass die Leute ihm ihre Geheimnisse anvertrauten und ihn in ihre intimsten Tragödien einweihten, vermochte er sich gleichwohl nie des seltsamen Gefühles zu erwehren, dass die Schwierigkeiten der anderen ihn persönlich so tief betrafen, als wären sie seine eigenen. Er fühlte die Gewissensbisse anderer so intensiv, als wären sie seine eigenen, und schämte sich anderer Irrtümer und Fehltritte gerade so, als hätte er sie selbst begangen. Und er glaubte in diesem Augenblick, selbst der Schuldige zu sein, falls zwischen diesen beiden Menschen ein Unrecht bestand.

»Es hängt von Selma ab«, wiederholte der Kirchenälteste. »Wenn sie nicht will, schweige ich.«

Der Pfarrer blickte Selma an. Ihr Gesicht zeigte die gleiche unergründliche und stolze Gleichgültigkeit auf, die er stets darin gelesen hatte.

»Nun, Selma«, sprach der Pfarrer leise, indem er den Kopf senkte. »Soll der Kirchenälteste reden oder soll ich meines Wegs gehen?«

»Er soll reden«, drang es tonlos über Selmas graubleiche Lippen.

Eine lange Weile herrschte Stillschweigen.

Der Pfarrer sah den Kopf des Kirchenältesten immer tiefer sinken.

Er stöhnte leise, und der Pfarrer fühlte den Schweiß auf seiner eigenen Stirne ausbrechen.

Schließlich kam es, kaum vernehmbar, von Johannes As:

»Sie sollen wissen, Herr Pfarrer, dass sie meine Mutter ist.«

So, nun war es gesagt.

Stille herrschte in der Stube. Man vernahm nur das leise Ticken der Weckeruhr auf der Kommode und das Zischen eines Kohlenstückes im Herde.

Doch war es, als hätte plötzlich der Friede seinen Einzug in die Hütte gehalten. Ein lange vermisster Friede. Es war, als würde es lichter. Als hätte alles Schwere, Eingeschlossene und Graue sich wie Nebel in der aufgehenden Sonne verflüchtigt.

Der Pfarrer hob langsam den Kopf und richtete den Blick auf Selma. Diese ließ ihr stolzes Haupt bis auf die Brust sinken. Sie schlug die Hände vors Gesicht, ihre starken männlichen Schultern bebten, und jäh brach sie in Tränen aus.

Der Pfarrer überlegte eine Sekunde, dass keiner ihm glauben würde, wenn er den Menschen erzählen würde, er habe Selma weinen gesehen. Tränen waren das Letzte, woran man im Zusammenhang mit Selma denken mochte. Jetzt aber schien es, als wollten alle während eines ganzen Lebens zurückgehaltenen Tränen hervorquellen. Der Kirchenälteste rückte seinen Stuhl näher an den ihrigen heran und legte unbeholfen den Arm um ihre Schultern. Sie lehnte sich an ihn und weinte, weinte. Der selbstsichere Johannes As wischte sich mit dem freien Arm ein paar verstohlene Tränen aus den Augen. Alsdann wandte er sich an den Pfarrer und erzählte in kurzen Zügen Selmas Geschichte.

Es war das altbekannte, aber immer gleich bittere Erlebnis einer betrogenen Jugendliebe.

Selma aber hatte die Schmach nie auf sich nehmen wollen, ein Kind, zu dem kein Vater sich bekannte, geboren zu haben. Sie hatte es fremden Menschen überlassen und war nach Amerika ausgewandert. Dort war sie erkrankt und wieder nach Hause geschickt worden. Sie hatte mehrere Stellen innegehabt, aber ihr Stolz und ihre Bitterkeit hatten jedes Zusammenleben mit anderen Menschen unmöglich gemacht. Schließlich war sie als Aufwartefrau an der Schule eines entfernten Sprengels2 gelandet, wo niemand sie kannte.

Ihr Sohn hatte Nachforschungen nach der Mutter angestellt und sie schließlich entdeckt. Sie aber war zu stolz, den Fehltritt ihrer Jugend vor aller Welt zu bekennen. Es war ihr gelungen, sich in einer geachteten, ehrbaren Anstellung selber zu erhalten, und sie wollte daher nicht zu ihrem Sohne übersiedeln. Nur einmal im Jahre, zu Weihnachten, räumte sie ihm das Recht ein, sie zu besuchen. Beiden aber fiel es bitter schwer, getrennt voneinander leben zu müssen. Johannes As war kinderlos und hatte eine kränkliche Frau, die keinen größeren Wunsch kannte, als die tüchtige Schwiegermutter bei sich zu haben und sie den Haushalt führen zu lassen. Selma aber wünschte dies nicht. Hauptsächlich wegen der Schande, lautete ihr steter Einwand.

Hier endete der Bericht des Kirchenältesten.

Selma hatte zu weinen aufgehört. Sie saß da und wiegte sich gemächlich hin und her, den Kopf noch immer in die Hände gestützt.

Der Pfarrer erhob sich und reichte Johannes die Hand.

»Johannes, ich danke dir für dein Vertrauen. Es hat uns gegenseitig näher gebracht und zu Freunden gemacht.«

Alsdann legte er die Hand auf Selmas Haupt.

»Und jetzt, Selma«, sprach er, »werden wir ein neues Leben beginnen.«

Ein Schluchzen erschütterte wiederum Selmas zusammengesunkene Gestalt. Der Pfarrer empfand ein seltsames Mitleid mit der eben noch so stolzen Frau. Er dachte daran, wie viele Schwestern sie seit Urzeiten gehabt und noch bis ans Ende aller Zeiten haben würde, die sich um einer betrogenen Jugendliebe willen mit lebenslänglichen Selbstvorwürfen und Schamgefühlen quälen müssen. Und wie nie zuvor verstand er den Meister, der zur Sünderin sprach: »So verdamme ich dich auch nicht.«

Und er begann davon zu sprechen. Leise, als sei er sich der Nähe des Meisters in der kleinen Kammer bewusst, sprach er von einer Liebe, größer als alle Irrtümer, alle Schande und Unehre der Menschen. Er sprach von Jesus, der als ein kleines Kind ohne irdischen Vater zur Welt kam, und schloss mit den wunderbaren Worten des Gekreuzigten: »Weib, siehe deinen Sohn, Sohn, sieh deine Mutter!«

Als er geendet hatte, hob Selma sachte den Kopf und blickte den Pfarrer an. Doch schien es, als hätte sie geradewegs durch ihn hindurchgeblickt, auf jemanden, der hinter und über ihm stand.

»Ich glaube«, sagte sie leise, »ich glaube, dass Er mich nicht verurteilt, wenn auch die Menschen es tun. Aber ich will versuchen, ihr Urteil zu ertragen, im Glauben an Ihn, der nicht verdammt.«

Ihre Hände tasteten nach der Hand des Sohnes und drückten sie fest.

»Ich folge dir, Johannes«, sagte sie.

»Heute Abend noch?«, fragte Johannes. Seine Stimme verriet ein seltsam bebendes Glück.

»Jawohl, noch heute Abend«, sagte sie.

»Dann wird es Weihnachten«, meinte Johannes, »zum ersten Mal in meinem Leben eine richtige Weihnacht.«

Axel Hambraeus


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