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Verspätete Rehabilitierung

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Ein Zwischenstand zu neuen und neuesten Perspektiven der Puccini-Forschung

Kontinuierliche Gegenwärtigkeit kann eine Crux bedeuten: Manche Dinge sind so vertraut, dass sie als selbstverständlich gelten. Man kennt sie, ein zur Routine gewordener Umgang ist längst gefunden, man schätzt sie bisweilen sogar ein wenig mehr als andere und verlässt sich auf sie, als wären es dauerhafte Garanten des Gewohnten. Mindestens für die Hälfte von Giacomo Puccinis zehn Werken für die Opernbühne dürfte dieses Phänomen einer vermeintlich selbstverständlichen Dauerpräsenz im Operngeschäft rund um den Globus zutreffen (von der fragmentierten Rezeption in massenmedialen und digitalen Kontexten ganz zu schweigen): Ein weltumspannendes Publikum kennt ihn, reagiert enthusiastisch auf seine Musik und Bühnendramatik, ja schätzt ihn bisweilen sogar ein wenig mehr als andere. Bei Puccini füllen sich die Reihen: Das wissen um Auslastungszahlen und Abendeinnahmen besorgte Operndirektoren und Programmplaner und vertrauen auf ›risikofreie‹ Titel wie La bohème, Tosca, Madama Butterfly, Gianni Schicchi oder Turandot. Sicherlich lassen sich bei näherer Betrachtung Konjunkturkurven einzelner Titel ausmachen: Puccini selbst bemühte sich etwa noch zu Lebzeiten, den sinkenden Produktionszahlen der Manon Lescaut entgegenzuwirken, während in jüngster Vergangenheit besonders La fanciulla del West eine in dieser Form noch nicht dagewesene Aufmerksamkeit erfährt. Doch ganz allgemein kann gelten: Puccinis Stellung als Opernkomponist beim ›breiten‹ Publikum und innerhalb verschiedenster Programmkontexte ist seit nunmehr über 100 Jahren unangefochten stabil; ein Nachlassen des Interesses an seiner Musik blieb bislang aus und scheint auch bis auf Weiteres nicht in Sicht. Puccini gehört seit Beginn des 20. Jahrhunderts zum Kanon der Opernpraxis.

Puccini gehörte aber sehr lange Zeit gerade nicht zum Kreis jener Komponisten, mit denen sich besonders eine deutschsprachige Musikwissenschaft auseinandersetzen mochte. Dieses Phänomen von Ausblendung und Negierung der Würdigung seiner Werke wurde von Dieter Schickling zu Recht als »programmatische Nichtbeachtung« und »jahrzehntelange Geringschätzung«1 beschrieben. Das hat sich – wie zu zeigen sein wird – erst in den 1990er Jahren durch konsequent auf internationale Diskussion und Vernetzung setzende Forscher-Persönlichkeiten in grundlegender Weise verändert. Diese zeitliche Verzögerung des Einsetzens einer substanziellen, kritischen Puccini-Forschung unterscheidet sich insofern von sicherlich zahlreichen ähnlich gelagerten Fällen, als Puccini eben weitaus mehr darstellt als lediglich ein rezeptionsgeschichtlich kontinuierliches Breitenphänomen, das man despektierlich und als der Kunstreflexion wie wissenschaftlichen Erschließung nicht würdige, niedrigstehende Unterhaltungsmusik beiseiteschieben könnte. Bekannt, ja, aber nicht erklärungsbedürftig, hieße pointiert diese inzwischen überwundene Einstellung, die sich im Falle Puccinis durch eine fortschreitende, quellenkritisch gestützte wissenschaftliche Aufarbeitung auch jenseits abwertender Ignoranz im Übrigen als unhaltbar erwiesen hat. Puccinis Œuvre für die Opernbühne besitzt so überdeutlich hohe Anteile an Singularität, dass seine musikhistorische Bedeutung inzwischen auch in der erweiterten Wissenschaftsgemeinde außer Frage stehen dürfte dank der, wenngleich verspäteten, Rehabilitierungsleistung ausgewiesener Forschender nicht allein italienischer Provenienz. Puccini gehört damit zu jener Kategorie von Komponisten, bei denen sich Erklärungen im wissenschaftlichen Kontext größtenteils erübrigen, die verharren auf der Ebene von Werkparaphrasierung, Verständnisanleitung oder Begründungsspekulation über ausbleibende Wirkung – also meist als Kritik an der Oberfläche des Werktextes verhaftet bleiben. Puccini verlangt nach Tiefenerschließung. Und vor dem Hintergrund der konstanten Wirkmächtigkeit seiner Opern bleibt das Phänomen des scheinbar zeitenthobenen Vertrauten und Selbstverständlichen seiner Kunst ganz im Gegenteil ein erklärungsbedürftiger Fakt. Dieser wesentliche Aspekt, mit dem jede Puccini-Forschung umgehen muss, kann indes nicht ohne eine kompetente Aufarbeitung von Zeitkontext, Biografie und Opernschaffen diskutiert werden, benötigt also die Basis detaillierter Partituranalysen (Notentext, Libretto), welche ganz entschieden die bisweilen äußert komplexen Werkgenesen zu berücksichtigen hat, unter Hinzufügung aller aufführungsrelevanten Quellmaterialien und wirkästhetischer Parameter, die Puccini mitgestaltete wie beispielsweise die immer stärker in den Fokus rückende visuelle Dimension gerade seines Spätwerkes (also generell: Szenenanweisungen, disposizioni sceniche2, Selbstaussagen des Komponisten usw.). Vieles ist schon geleistet worden und wartet darauf, auch außerhalb des einschlägigen Fachkollegiums zur Kenntnis genommen zu werden. Vieles aber – so der hier darzulegende Zwischenbefund – steht noch aus.

MUSIK-KONZEPTE 190: Giacomo Puccini

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