Читать книгу MUSIK-KONZEPTE 190: Giacomo Puccini - Группа авторов - Страница 8

I Rückblick in die jüngste Vergangenheit

Оглавление

Zeitdimensionen in der Wissenschaft sind relativ: Eingedenk der allgemeinen temporären Dynamiken wissenschaftlicher Aufarbeitung, die in der Opernforschung aufgrund der Komplexität des per se interdisziplinär-verflochtenen Gegenstands (Zusammenwirken unterschiedlicher ästhetischer Ausdrucksformen; Ereignischarakter der Aufführung usw.) verstärkt den Charakter entschleunigter Prozesse annehmen, fällt es mit Blick auf Puccini schwer, von einer bereits existenten ›älteren‹ Forschung im Allgemeinen zu sprechen, die inzwischen von einer ›neueren‹ abgelöst worden wäre. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Puccini lässt sich daher zutreffender als neue bzw. neueste Forschung kennzeichnen. Das Jahr 1996, in dem das Centro studi Giacomo Puccini (http://www.puccini.it) von den führenden internationalen Puccini-Forschern als privater Verein in seiner Geburtsstadt Lucca gegründet wurde, kann rückblickend als wichtige Institutionalisierungsleistung und formelle Zäsur gewertet werden. Sie erwuchs indes aus wesentlichen wissenschaftlichen Aktivitäten und Forschungsimpulsen bereits seit den 1980er Jahren,3 markiert also keine inhaltliche Neu- oder gar Gegenorientierung, sondern eine stringente Konsolidierung und Etablierung einer unabhängigen und kritischen Puccini-Forschung, die in dieser Form noch nicht lange existent, geschweige denn institutionell gebunden war. Kaum eine der wesentlichen Publikationen der letzten Dekaden ist außerhalb der Einflusssphäre dieses Forscherverbundes entstanden, wie ein kurzer Blick auf die standardsetzenden Monografien zeigt, ohne deren Konsultation keine kompetente Beschäftigung mit Leben und Werk des Komponisten heute möglich erscheint. Michele Girardis Werkanalysen, Giacomo Puccini. L’arte internazionale di un musicista italiano, erschienen erstmalig 1995 und wurden im Jahr 2000 ins Englische übersetzt.4 Zwei Jahre später legte der namhafte britische Verdi-Forscher Julian Budden eine Puccini-Monografie5 vor, noch bevor Dieter Schickling mit seinem systematischen Werkkatalog von 2003 das akribisch erarbeitete Elementarwissen über das musikalische Œuvre Puccinis veröffentlichte6.

Diese Marksteine haben zwei Gemeinsamkeiten: Sie sind kaum älter als annähernd 25 Jahre – in akademischer Zeitrechnung also noch ›neu‹ – und wurden mehrheitlich in englischer und italienischer Sprache publiziert. Letzteres mag den im internationalen Kontext Forschenden nicht tangieren, ist aber mit Blick auf die Sedimentation wissenschaftlicher Erkenntnis und das Einwirken auf einen erweiterten Rezipientenkreis ein reales, verzögerndes Hindernis der Wissenskommunikation. Für den deutschsprachigen Raum und das Puccini-vertraute Publikum einer historisch singulär gewachsenen Dichte an Theatern und Orchestern, deren Aufnahme in die UNESCO-Liste des Immateriellen Kulturerbes möglicherweise zeitnah gelingen kann, schlägt diese Diskrepanz zwischen aktuellem Forschungsstand und ›allgemeinem‹, ›breitem‹ Reflexionshorizont von Operngängern, Musikjournalisten, Gesangsolisten, Dramaturgen und Operndirektoren usw. besonders negativ zu Buche. Ablesen lässt sich dieser nachdenklich stimmende Befund am Beispiel des 2016 erschienenen musikalischen Werkführers zu Puccinis Opern aus der Feder des renommierten Opernpraktikers Gerd Uecker, der allerdings die oben lediglich mit ihren wichtigsten Monografien erwähnte ›neue‹ Puccini-Forschung vollständig ausblendet – von der ›neuesten‹ ganz zu schweigen.7 Das 2017 vom Autor dieses Beitrags herausgegebene Puccini Handbuch (Anm. 1) hatte sich aus dieser langjährig angestauten Problematik heraus auch zum Ziel gesetzt, in der synoptischen Form des Handbuch-Genres dem durch Sprachbarrieren entstandenen Wissensgefälle entschieden entgegenzuwirken. Von einem solchen Rückfall der deutschsprachigen Fachliteratur explizit ausgenommen ist die biografische Forschung zu Puccini, denn mit Schickling schreibt der derzeitige und weltweit renommierteste Puccini-Biograf in seiner deutschen Muttersprache, dessen erweiterte Neuausgabe (von 2007) seiner erstmals 1989 veröffentlichten Biografie inzwischen auch in einer italienischen Version vorliegt.8 Eine zweite Ausnahme markiert die biografische Forschung gegenüber den genannten standardsetzenden Monografien der Jahrtausendwende, denn Schicklings Arbeiten heben sich korrigierend und in partieller Neubewertung von einem an dieser Stelle mit Recht so bezeichneten ›älteren‹ Forschungsstand ab, welchen der Pionier der Puccini-Biografik schlechthin, Mosco Carner, mit seiner 1958 erstmalig erschienenen Critical Biography9 etabliert hatte. Den lediglich einsprachigen Leser in Deutschland erreichte dieses vielrezipierte, zuvor bereits ins Italienische, Französische, Japanische und Spanische übersetzte Standardwerk jedoch erst mit der deutschen Ausgabe von 199610, also sogar erst mehrere Jahre nach der weitaus jüngeren Schickling-Biografie. Vor dem Hintergrund eines enormen Zuwachses an biografischem Quellenmaterial und einer Kritik an der von Carner in Engführung auf psychoanalytische Kategorien vorgenommenen Erklärungsansätze einer u. a. durch »ungelöste[…] Mutterbindung«11 bestimmten Persönlichkeit, welche die hauptsächliche Triebfeder seines Kunstschaffens wie seines (außerehelichen) Liebeslebens gewesen sei, formt sich das Bild des Menschen Puccini im Spiegel der neueren Beiträge Schicklings weitaus differenzierter, vielschichtiger und mit bestmöglicher empirischer Grundierung.

Die Fortschritte an wissenschaftlicher Aufarbeitung von Leben und Werk Puccinis innerhalb der letzten Dekaden lassen sich auch anhand des thematischen Spektrums erkennen, das von Fachbeiträgen und Einzelstudien inzwischen abgedeckt wurde. Die systematische Bibliografie, die vom Centro studi Giacomo Puccini erstellt und partiell auf der (lediglich auf Italienisch konsultierbaren) Webseite sowie integral und regelmäßig aktualisiert in den Periodika der Studi pucciniani (seit 1998) veröffentlicht wird, hat sich zum unerlässlichen hilfswissenschaftlichen Orientierungsinstrument mit Vorbildcharakter entwickelt, dem man mehr Sichtbarkeit und Konsultierende wünscht. Die Systematik der Erfassung reicht von den einzelnen Werkbesprechungen (Opern, Instrumental- und Vokalwerke) über die Kategorie der Libretti (Editionen und Libretto-Studien) zu jenen von Quelleneditionen (Briefe, Ego-Dokumente), Findmitteln (Repertorien, Bibliografien), Monografien, Biografien, werkübergreifenden und zeitkontextualisierenden Beiträgen bis hin zu ikonografischen Studien, Ausstellungskatalogen und Erinnerungsliteratur. Auch wenn ein strukturierender wie gleichermaßen quantifizierender Blick auf den verfügbaren Forschungsbestand die Frage nach Qualität und Nachhaltigkeit der Ergebnisse nicht beantwortet, lässt sich doch mit einiger Berechtigung behaupten, dass Themenbereiche, die bezogen auf Puccini noch gar nicht angebrochen worden sind, eine zunehmend verschwindende Größe in diesem Panorama darstellen dürften. Die Schwerpunktsetzungen der einschlägigen werkanalytischen Opernstudien ließen sich skizzenhaft und ohne Anspruch auf Vollständigkeit folgendermaßen umreißen: stoffgeschichtliche, werkgenetische, musikdramaturgische und satztechnische Analysen vorzugsweise der ›bekannten‹ Opern (also im Negativ und noch weniger erschöpfend zu Le Villi, Edgar, La fanciulla del West und La rondine), Analysen zum musikalischen Formbau, zur Melodiegestaltung sowie zur Dimension des Klangs, Aspekte des musikalischen und stofflichen Exotismus und Lokalkolorits (besonders zu den beiden ›asiatischen‹ Opern), der Fragmentcharakter von Turandot und Rekonstruktionen des Finalduetts, Puccinis Verfahren der Selbstanleihen, Rollenprofile vorzugsweise seiner weiblichen Bühnenfiguren, Aspekte von Puccinis spezifischem Umgang mit dem Erbe der traditionellen Versifikation, der singuläre Werkstattcharakter der Zusammenarbeit mit seinen Librettisten-Teams wie schließlich auch der musik- und zeithistorische Einfluss- und Abhängigkeitshorizont seiner Kompositionen während aller Lebensphasen. Neben etablierten Themen wie diesen, zu dem auch der weite und hier nicht weiter en détail genannte Komplex der Rezeptionsforschung gehört, formen sich, aus diesen einerseits hervorgehend, sie andererseits ergänzend, Problemfelder heraus, die verstärkt in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt sind. Dazu gehört die faktische Komplexität der Werkgenesen mitsamt den mitunter nicht minder schwierigen Revisionsphasen nach den Uraufführungen, welche die Definition von Werkfassungen vor ganz neue Herausforderungen stellt, sowie Puccinis unablässige Rezeption der neuesten musikalischen wie theater-, bühnen- und filmästhetischen12 Entwicklungen Europas und partiell auch Nordamerikas, die sein gesamtes Opernschaffen ab der Madama Butterfly von 1904 zu experimentellen Einzellösungen auf die Frage nach der ästhetischen Relevanz der Gattung überhaupt werden ließen. Vor diesem Hintergrund – der noch lange nicht bis zum Grund durchmessen ist – stellt sich schon jetzt die Frage nach Position und Partizipation Puccinis am Modernitäts-Diskurs völlig neu.

MUSIK-KONZEPTE 190: Giacomo Puccini

Подняться наверх