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8.4 Sprache in der Familie

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Um die Sprachverhältnisse und Sprachentwicklungen in der Familie genauer zu eruieren, läuft ein Projekt zu Sprecherbiographien (Walker 2017c). Als Grundthese wird angenommen, dass Spracherwerb und Sprachgebrauch von Generation zu Generation und von Ort zu Ort variieren. Untersucht wird zunächst der Erwerb in den Lebensabschnitten a) vor der institutionellen Bildung, b) in der institutionellen Bildung, c) in der Ausbildung und d) im Beruf, wobei eine weitere Binnendifferenzierung möglich ist. Ein möglicher, aber noch nicht eingeführter Abschnitt wäre das Rentenalter. Ein Beispiel: Ein Mann wurde 1942 auf Sylt geboren, wo die Familie Hochdeutsch sprach. Als er vier Jahre alt war, zog die Familie aufs Festland, wo sie bei der friesischsprachigen Urgroßmutter wohnte. Nebenan wohnten die friesischsprachigen Großeltern. Die Familiensprache wechselte zu Friesisch. Auf der Straße lernte der Knabe Niederdeutsch. Mit sechs Jahren ging er auf die dänische Schule, wo er Dänisch und Englisch lernte. Im Beruf lernte er später Jütisch.

In der Untersuchung spiegelt sich zunächst der starke gesellschaftliche Wandel wider. Während zum Beispiel die Groß- und Urgroßelterngeneration zur Volksschule im Dorf gingen, besuchen die Kinder heute häufig eine große, zentral gelegene Schule. Während die älteren Generationen wenig mobil waren, ist die Mobilität ein Zeichen der modernen Zeit usw.

Auf Grund des gesellschaftlichen Wandels befinden sich die Spracherwerbsprozesse ebenfalls im Wandel. Allgemein gilt, dass die Großeltern- und Urgroßelterngenerationen zu einem großen Teil in friesischer und/oder niederdeutscher Sprache sozialisiert wurden. Hochdeutsch hat man erst in der Schule gelernt. Die heutige Kindergeneration wird weitgehend hochdeutsch sozialisiert. Gewisse Kenntnisse des Friesischen oder des Niederdeutschen werden, wenn überhaupt, oft erst im Kindergarten oder in der Schule erworben.

In diesem Zusammenhang wird auch der Frage nachgegangen, welche Sprache mit den unterschiedlichen Familienmitgliedern gesprochen wird, etwa Eltern, Großeltern, Kindern, Enkelkindern, Tante, Onkel, Kusinen, Mann/Frau, Schwiegereltern, -sohn oder -tochter. Die Gründe für die jeweilige Sprachwahl werden analysiert. Es lässt sich beobachten, dass die dem Erwerb sowie dem Gebrauch der jeweiligen Sprachen zugrunde liegenden Faktoren komplex sein können. Ein Beispiel: Ingeborg wurde 1941 auf Amrum geboren. Sie sprach Hochdeutsch mit ihrer vom Festland stammenden Mutter, da die Hebamme bei der Geburt mit ihr Hochdeutsch gesprochen hatte. Als der Vater später aus dem Krieg kam, hat er auch mit ihr Hochdeutsch gesprochen, da sich dies als Eltern-Kind-Sprache etabliert hatte. Mit Ingeborgs Bruder (*1933) sprachen Mutter und Vater Niederdeutsch, die Geschwistersprache ist jedoch Hochdeutsch. Friesisch hat Ingeborg in erster Linie von einem monolingualen Spielfreund (*1946) sowie später von ihrem Mann Erk (*1939) gelernt. Die Ehesprache war Friesisch. Dänischkenntnisse erwarb sie mit etwa elf Jahren von einem friesischen Wanderlehrer auf Amrum, der Dänischkurse in privaten Häusern anbot und Ferien in Dänemark organisierte. Erk hat Hochdeutsch erst auf der Schule sowie von den Flüchtlingen nach dem Krieg gelernt. Als er später als Zimmermann auf Wanderschaft war, hat er in Hamburg Niederdeutsch- und in Kopenhagen Dänischkenntnisse erworben. 1962 sind Ingeborg und Erk nach Amerika ausgewandert, wo Englisch dazu kam. Dies war auch die Sprache, die sie mit ihren beiden dort geborenen Töchtern sprachen. Als sie 1974 nach Amrum zurückkamen, wechselte die Eltern-Kinder-Sprache zu Hochdeutsch, da die Töchter ohne Deutschkenntnisse hier eingeschult wurden. Im Laufe der Zeit begannen Ingeborg und Erk zunehmend Friesisch mit ihren Töchtern zu sprechen, die beide hochdeutschsprechende Männer von der Insel geheiratet haben. In beiden Fällen sprechen die Töchter Hochdeutsch mit ihrem jeweiligen Ehemann und Friesisch mit den Kindern. Bei der ältesten Tochter scheint dies daran zu liegen, dass die Hebamme, eine Föhrerfriesin, Friesisch mit den Kindern bei der Geburt gesprochen hatte. Ingeborg und Erk sprechen Friesisch mit den Enkelkindern, die auch untereinander diese Sprache verwenden (Walker 2017c: 116f.).

Ein weiterer Aspekt der Untersuchung ist die mit Tieren sowie beim Zählen, Beten, Fluchen usw. verwendete Sprache. In der Tierwelt spielt der Hund sprachlich oft eine Sonderrolle, indem er als Schoßhund mit der Nähesprache (Friesisch), als Befehlsempfänger dagegen mit der Distanzsprache (Hochdeutsch) angesprochen wird. Die Wahl der Sprache beim Zählen kann mit dem Numeralisierungsprozess, die Wahl beim Gebet mit dem formellen/informellen Charakter des Gebetes zusammenhängen.

Handbuch der Sprachminderheiten in Deutschland

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