Читать книгу MUSIK-KONZEPTE 192-193: Sándor Veress - Группа авторов - Страница 10

II Rom 1942

Оглавление

Der abgebrochene Versuch des Frühjahrs 1941 fand ein Jahr später eine erstaunliche Fortsetzung: Veress hatte im Sommer bei der Behörde nachgehakt und ein Folgestipendium erwirken können, diesmal auf acht Monate angelegt.15 Zwischen Ende März und Anfang August 1942 lebte er wiederum im Collegium Hungaricum, kehrte dann für einen kurzen Monat nach Budapest zurück und brach schon im September wieder Richtung Venedig auf, um am 8.9.1942 an der dortigen Biennale mit Végh seine drei Jahre zuvor komponierte Seconda Sonata aus der Taufe zu heben.16 Den Oktober und November verbrachte er nochmals – und diesmal zusammen mit Enid Blake, die er am 12.7.1941 in Budapest geheiratet hatte – in Rom.

Obwohl der Komponist sein erklärtes Ziel, das während des Frühsommers konkrete Gestalt annehmende neue Ballett Térszili Katicza in einem der erwähnten Häuser zu lancieren, schließlich nicht realisieren konnte, brachte ihm der zweite Rom-Aufenthalt eine Fülle von Anregungen, deren Bedeutung für seine künstlerische Entwicklung gar nicht überschätzt werden kann. Das Geschenk eines ungestörten Arbeitsorts in einzigartiger Umgebung, mitten im historischen Zentrum der Stadt und mit Aussicht auf den nahen Tiber gelegen, deblockierte nach fast zwei Jahren schmerzlich erlebter kompositorischer Unfruchtbarkeit im Budapester familiären Bienenkorb seine kreativen Energien. Milloss befand sich zwar zwischen Ende April und Ende Juni gar nicht in Rom: Grund dafür war – ausgerechnet – ein Engagement an der Budapester Oper.17 Aber die Klammer von Perioden fast täglichen Austauschs, die sich um diese Abwesenheitslücke des Freundes schloss, scheint doch die weitgehende Fertigstellung der Katicza-Partitur ermöglicht zu haben. Am 6.7.1942 schreibt Veress aus Rom nach Budapest, sowohl Mario Labroca in Florenz (Maggio Musicale) als auch Tullio Serafin in Rom (Teatro dell’Opera) zeigten substanzielles Interesse an einer italienischen Uraufführung des Balletts. Der Kriegsereignisse wegen konnte es aber weder in der italienischen Saison 1942/43 noch im Budapester Winter 1943/44, wie vom Komponisten ursprünglich erhofft, zu einer solchen kommen. Vielmehr sollte es bis Februar/März 1949 dauern, bis sich in Stockholm und Rom wieder eine entsprechende Konstellation ergab.18

Die künstlerische Atmosphäre, die Veress in Rom vorfand, war trotz mancherlei ideologisch motivierter Beschränkungen, die sich seit Beginn der 1930er Jahre auch im faschistischen Italien immer deutlicher bemerkbar gemacht hatten, verglichen mit den Zuständen in Ungarn und dem Deutschen Reich, auffällig offen für progressive Impulse. Näher gesehen handelte es sich hierbei um die eine, quasi-liberale (und von Mussolini persönlich weitgehend gedeckte) Seite einer komplexen Gemengelage, die Umberto Eco in seinem Essay Eternal Fascism wie folgt beschreibt:

»Der italienische Faschismus war zweifellos eine Diktatur, aber er war nicht durchgehend totalitär (…). Es gab keinen faschistischen Shdanow, der eine strikte kulturpolitische Linie vorschrieb. Es gab in Italien zwei bedeutende Kunstpreise: Der Premio Cremona wurde von einem ungebildeten und fanatischen Faschisten wie Roberto Farinacci kontrolliert, der eine propagandistische Kunst förderte (…); der Premio Bergamo wurde von dem gebildeten und einigermassen toleranten Faschisten Giuseppe Bottai finanziert, der sowohl die L’art-pour-l’art-Richtung schützte als auch die vielen Arten der Avantgardekunst, die in Deutschland als ›entartet‹ und ›kryptokommunistisch‹ galten, da allein der Germanenkitsch zugelassen war.«19

Ein ähnliches Bild – spezifisch auf die Verhältnisse in der Musikszene gemünzt – zeichnet Goffredo Petrassi, von 1937 bis 1940 Intendant des Teatro La Fenice di Venezia und seit 1939 Kompositionslehrer am Römer Conservatorio di Santa Cecilia, in einem von Harvey Sachs 1987 veröffentlichten Interview.20

So befremdlich es »with the benefit of hindsight« erscheinen mag: Freiräume dieser Art, die es in Ungarn und Nazi-Deutschland nicht mehr gab, machten anscheinend den entscheidenden Unterschied aus, den der junge Komponist in seiner existenziellen Suche nach einem geschützten Ort kreativer Unbelangbarkeit wahrnahm – und der ihn geradezu euphorisierte. Da er das Zufallsglück hatte, nicht persönlich von ihnen betroffen zu sein, konnte er die Tatsache, dass es inzwischen auch in Italien rigide Rassengesetze nach dem Modell des Dritten Reiches21 gab, die die jüdischen Beiträge zum kulturellen Überbau systematisch von diesem ausschlossen, gleichsam dem – wenn auch unliebsamen – »Hintergrundrauschen« der Zeit zuschlagen, vor dem die relative Toleranz seines Gastlandes gegenüber avantgardistischem Schaffen erkennbar abstach.22 Im Briefwechsel mit seiner Frau finden sich denn auch Tagträume, in denen er – vermutlich nicht gänzlich unbeeinflusst von kulturpolitischen Elementen mussolinischer Rhetorik auf dem damaligen hegemonialpolitischen Höhepunkt der »Achse Rom-Berlin«23 – Wunschprojektionen auf eine Nachkriegszeit unter der kulturellen Ägide Italiens freien Lauf lässt und die belegen, dass die Rom-Fluchten in seiner Biografie alles andere als akzidentelle Episoden, vielmehr höchst ernsthaft unternommene Emigrations-Proben waren. Dabei taucht zum ersten Mal in bislang bekannten Selbstzeugnissen auch die Kategorie »Europa« auf, die in späteren Reflexionen des Emigrationskontexts unter inzwischen gewandelten Vorzeichen in der Formel vom »weiten europäischen Horizont« zum nicht nur geografisch-politischen, sondern ästhetischen Bekenntnis24 werden sollte:

»Ich habe Dir mehr als einmal über meinen Glauben und meine Überzeugung geschrieben, wonach Italien im neuen Nachkriegs-Europa die führende Nation in allen kulturellen und künstlerischen Belangen sein werde. (…) Der hohe Standard der Musik, ihr (der Italiener, Anm. CV) Ernst und ihr Bestreben, ihr Bestes zu geben, ihr Interesse an moderner Musik, der Reichtum der Konzert- und Theaterprogramme und ihr gesunder Internationalismus, der auf nichts anderes als die Qualität der Kunst achtet (…), geben Anlass zu bester Hoffnung für dieses Volk. Ich muss sagen, dass ich mehr und mehr beginne, ein Bürger Europas als eines bestimmten Landes zu sein, was nicht bedeutet, dass ich Ungarn nicht lieben würde – aber was ich sicherlich nicht liebe, ist Budapest und jenen scheusslichen Ungeist, der jede tiefergehende künstlerische Initiative tötet. Ich kann mir vorstellen, mein Leben gerade so glücklich in Rom oder London zu verbringen, wie es sich andere Ungarn ausschliesslich vorstellen können, in Budapest zu leben.«25

Aus den Konzertereignissen neuer Musik – auf ein schlechthin prägendes des Spätherbstes wird noch näher einzugehen sein – stechen v. a. ein Radiokonzert unter der Leitung Previtalis Ende April und der Florentiner Maggio Musicale von Ende Mai hervor. Bei Ersterem handelte es sich um Veress’ initiale Begegnung mit Bartóks Divertimento und einem Werk Luigi Dallapiccolas für Frauenchor und Kammerorchester: »ein hervorragendes Stück, das ich sogar noch mehr genoss als den Bartók«26 (welch bemerkenswertes Urteil!). Über das zweite Ereignis berichtet prospektiv – ob der Plan verwirklicht wurde, lässt sich anhand der erhaltenen Korrespondenz nicht zweifelsfrei belegen – ein Brief an Alfred Schlee bei der Universal Edition:

»Ende dieses Monats fahre ich nach Florenz um Busonis Doktor Faust und die von Dallapiccola neulich bearbeitete Oper von Monteverdi ›Il ritorno di Ulisse‹ anzuhören. Kommen Sie nicht hin? Es wäre schön, ein wenig Zeit zusammen mit unseren Freunden in Florenz zu verbringen.«27

Es steht stark zu vermuten, dass Dallapiccola von Veress als zu dem hier erwähnten »Freundes«-Kreis gehörig mitgemeint ist. Der Florentiner Kollege schreibt jedenfalls gut drei Wochen früher ebenfalls an Schlee, dass er Veress seine Canti di prigionia anlässlich eines Besuchs in Budapest Anfang März überlassen habe und fest damit rechne, dass jener nach Florenz komme und ihm die Partitur dieses Werks zurückbringe, er wolle sie nämlich Anton Webern schicken.28 Andreas Traub vermutet zu Recht, dass eine solche Überlassung eines frischen Manuskripts – noch dazu eines politisch so klar Stellung beziehenden – nicht unter Kollegen hätte stattfinden können, die nicht in einem Vertrauensverhältnis zueinander standen.29 Leider gibt die Rom-Korrespondenz – und geben auch andere bisher bekannte Dokumente dieser Periode – keine weiteren Aufschlüsse über einen engeren Austausch zwischen Veress und Dallapiccola. Hätte es einen gegeben, dürften wir ihn möglicherweise zu den frühesten kollegialen Auseinandersetzungen zu Fragen der Reihentechnik in Veress’ Entwicklung als Komponist zählen.30

Was im Falle Dallapiccolas – zumindest bis auf Weiteres – vage bleiben muss, lässt sich im Fall des oben schon erwähnten Goffredo Petrassi wesentlich besser belegen.31 Schon kurz nach Veress’ Ankunft kam es hier zu einer ersten Begegnung:

»Freitag (a)bends war ich bei Petrassi eingeladen. Ich schätze ihn sehr hoch, als Künstler ebenso wie menschlich. Es ist in diesem Manne etwas so rein und unverdorben, was man heutzutage sehr selten finden kann. Dabei ist er ein ernster und hochbegabter Musiker. Es ist bemerkenswert, dass er vom Lande kommt, seine Eltern waren Bauern. Er ist also die erste Generation, welche immer so fein und stark ist.«32

In Petrassi lernte Veress einen Kollegen kennen, der neben verwandten ästhetischen Idealen auch seine eigenen musikethnografischen Interessen teilte. Dies geht u. a. aus dem Schlussbericht hervor, den er dem Nationalen Stipendienrat im Sommer 1943 einreichte, wo er die von Petrassi und Giorgio Nataletti 1930 herausgegebene Sammlung Canti della campagna romana besonders lobt.33 Dabei verrät der Hinweis auf Petrassis bäuerliche Herkunft viel über Veress’ eigenes ästhetisches Ideal, das er in der Person des anderen – in scharfem Kontrast zur Situation seiner eigenen »sentimentalischen« Vermitteltheit34 – geradezu verkörpert sehen konnte. Aus anfänglichen Sympathien scheint sich über die Wochen ein recht eigentlich freundschaftliches Verhältnis entwickelt zu haben (»Petrassi ist sehr liebenswürdig mit mir und ich habe ihn sehr gerne.«35) – und im Frühsommer kam es sogar seitens des Italieners zu einem professionellen Sukkurs, der für Veress’ künftige Laufbahn als Komponist von entscheidender Bedeutung werden sollte – einer Empfehlung an das Mailänder Verlagshaus Edizioni Suvini Zerboni:

»Ich habe gute Nachrichten. Es scheint, dass ich hier in Mailand durch einen sehr guten Verleger publiziert werden soll, der sich sehr für die Musik unserer Zeit interessiert und sehr schöne Editionen von modernen italienischen Komponisten wie Dallapiccola, Petrassi, Malipiero etc. herausbringt. Er kannte meinen Namen, aber es ist eigentlich Petrassi, der seine Aufmerksamkeit auf die Tatsache gelenkt hat, dass ich noch nicht verlegt bin, und ich habe ihn hier in Rom getroffen.«36

Was sich hier anbahnte, konnte sich zwar erst volle sieben Jahre später in größerem Umfang zu entfalten beginnen – Veress sollte Rom und Italien erst 1949 wiedersehen –, markiert jedoch nichtsdestoweniger die Grundlegung dessen, was im Sommer 1939 in London noch versäumt worden war, nämlich die stabile Bindung an ein seriöses, an neuer Musik substanziell interessiertes und international tätiges Verlagshaus.

Veress hat in späteren Jahren nur sehr sparsam über seine Rom-Erlebnisse der frühen 1940er Jahre gesprochen. Wenn er aber darüber sprach, malte er ein Ereignis in lebendigsten Farben aus – die italienische Erstinszenierung von Bergs Wozzeck, die am 3., 7, und 11. November 1942 unter der musikalischen Leitung Tullio Serafins in der Regie Aurél von Milloss’ am Teatro dell’Opera über die Bühne ging.37 Für Petrassi aus der Rückschau Schlüsselbeispiel des nicht nur unabhängigen, sondern sogar antifaschistischen Geistes der damaligen Römer Musikszene,38 hatte für Veress das Erlebnis dieser Aufführungen – er hörte sie alle und verfolgte auch die Proben – die Bedeutung einer ästhetischen Initiation.39 Die Werke der Wiener Schule hatten in seiner bisherigen künstlerischen Entwicklung so gut wie keine Rolle gespielt – im Ungarn der 1920er und 1930er Jahre gab es auch keine nennenswerte Rezeption dieser Impulse.40 Mit dem Wozzeck ging ihm eine neue Welt auf, wie er in einem nach der Rückkehr nach Budapest geschriebenen Brief an Schlee freimütig gesteht:

»Wie geht es Ihnen nach den schönen, vom Wozzeck gekrönten Tagen, die wir in Rom verbrachten? Ich höre noch immer diese wunderbare Musik, die mich so gefesselt hat, wie nur wenige zwischen den modernen Werke(n), die ich in den letzten Jahre(n) kennenlernte. Künstlerischer Stil und die Art, auf welche() Berg seine Gedanken in dieser Partitur dem Zuhörer mit(zu)teilen weiss – nichts zu sagen von seinem ungeheuren musikalischen Können – erscheinen mir in so einer vollkommenen Harmonie, die nur bei den grössten Künstler(n) vorhanden ist. Es ist eigentlich merkwürdig, dass ein musikalischer Stil wie die Schönbergische Schule in so kurzer Zeit mit Berg sich zu dieser Verfeinerung – Plastizität und Elastizität des künstlerischen Materials – entwickeln k(o)nnte. – Oder ist es vielleicht nicht einmal so merkwürdig; d(as) Genie braucht nur die Sprache – die immer zeitgenössische Sprache – um sich ausdrücken zu können und dann erfüllt e(s) die Form mit jenem unfassbaren, latenten Geist, der das Wesen alles wahren künstlerischen Schaffen(s) ist. War es nicht derselbe Fall mit den Mannheimer(n) und Mozart?«41

MUSIK-KONZEPTE 192-193: Sándor Veress

Подняться наверх