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III Budapest 1945 – und einige der Folgen

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Ende 1943 wurde Veress als Nachfolger Kodálys auf dessen Kompositionslehrstuhl an der Liszt-Akademie berufen. Kurz danach setzten in Ungarn jene Entwicklungen ein, die Budapest zu einem der entsetzlichsten Schauplätze des letzten Kriegsjahres auf europäischem Boden werden ließen: die Besetzung durch die deutsche Wehrmacht im März 1944, die unter Adolf Eichmanns persönlicher Überwachung und mit Beteiligung ungarischer Gendarmerie erfolgenden Deportationen von gegen einer halben Million jüdischer Menschen in die Vernichtungslager (bis internationaler Druck Anfang Juli bewirkte, dass Horthy die Transporte vorläufig wenigstens für den Großraum Budapest stoppte), das offen-faschistische Terrorregime der Pfeilkreuzler nach Horthys Sturz Mitte Oktober, die 50 Tage dauernde Belagerung und Eroberung der von Hitler zur »Festung« erklärten Hauptstadt durch die Rote Armee, eine der blutigsten Schlachten des Krieges (Dezember 1944 bis Februar 1945). Im Ergebnis war Ungarn am Tag der bedingungslosen Kapitulation Nazi-Deutschlands im militärischen und politischen Einflussbereich von Stalins Sowjetunion angelangt – und Veress in Budapest im Begriff, der Ungarischen Kommunistischen Partei (MKP) beizutreten.42

Wie es im Detail dazu kam, worin insbesondere die Motivationslage des Aspiranten damals und dort bestand, wissen wir nicht, da uns direkte Zeugnisse bislang fehlen.43 Weil die schiere Tatsache des Parteibeitritts aber wenige Jahre später, in den für Veress’ Westemigration entscheidenden Jahren ab 1948/49, zum politisch-bürokratischen Problem wurde, konnte sie letztlich nicht spurlos bleiben, auch wenn die offiziellen Lebensläufe des nachmaligen »ungarisch-schweizerischen« oder gar »Schweizer« Komponisten Veress44 – inklusive der eingangs erwähnten biografischen Berichte der 1980er Jahre – dieses zentrale Stück seiner Nachkriegsbiografie konsequent verschweigen.

Dank der erwähnten Spuren sind wir immerhin in der Lage, die Situation von 1945 aus der Sicht relativ zeitnaher Selbst- und Fremdzeugnisse rekonstruieren zu können.45 Deren Corpus besteht einerseits aus einem zwischen 1952 und 1955 in mehreren Fassungen entstandenen Rechtfertigungstext46, andererseits aus einem diesen begleitenden Briefwechsel mit drei Exponenten der ungarischen Emigration in den Vereinigten Staaten: István Borsody, Géza Soós und István Csicsery-Rónay. Pragmatischer Kontext des Austauschs wie der rechtfertigenden Konfession ist der – letztlich nie verwirklichte, jedoch bis 1955 auch nicht völlig aufgegebene – Plan einer Amerika-Emigration, der sich aus einer erstmals 1948 ausgesprochenen Einladung Veress’ als visiting professor ans Pennsylvania College for Women (heute Chatham University) ergeben hatte. Borsody, seines Zeichens Jurist, Historiker und Ex-Diplomat, inzwischen Professor für russische und osteuropäische Geschichte an ebendieser Institution, war ihr Promotor vor Ort. Um die MKP-Mitgliedschaft seines Freundes wissend, war er von Anfang an bestrebt, diesen darin zu beraten, wie genau man den US-Behörden im sich verschärfenden Klima der Kongressvorladungspraxis des HUAC (House Un-American Activities Committee47) jenen Beitritt von 1945 »verkaufen« könne. Veress selbst wollte zumindest seiner künftigen Universitätsleitung gegenüber so ehrlich wie möglich auftreten. In diesem Sinne muss er Paul Anderson, dem Präsidenten derselben, im Frühjahr 1949 eine Erklärung unterbreitet haben48, die die Karten offen auf den Tisch legte und in Retrospektive auf das Frühjahr 1945 Sympathien zumindest für bestimmte Anliegen der MKP zugab. Borsody, offensichtlich in Kenntnis dieses Textes, versuchte Veress – sinngemäß – vor Augen zu führen, dass, was man Anderson mitteilen konnte, nicht unbedingt identisch mit dem war, was man einer zuständigen Immigrationsbehörde mitteilen sollte.49 Die Inkongruenz zwischen diesen beiden Ebenen durchzieht in der Folge, wie Rachel Beckles Willson in ihrer scharfsinnigen Lektüre des Materials gezeigt hat, die gesamte Entstehungsgeschichte des späteren Rechtfertigungstextes dergestalt, dass Veress damals zwar nach wie vor bestrebt war, die Authentizität seiner Entscheidung von 1945 zu verteidigen, dabei aber zugleich immer stärker einer eigentlichen Wegleitung Borsodys folgte, die gerade diese Authentizität zur rein »nominellen« Formsache herunterzustufen trachtete.50

Dennoch lässt sich aus einem direkten Vergleich der Spezifika von Wegleitung und Konfession recht gut erschließen, worin vermutlich das wichtigste Element eines Überzeugungskerns Veress’ in Bezug auf die MKP der Stunde Null bestand:

»Ich unternahm zahlreiche Volksmusik-Sammelreisen in ungarische und rumänische Dörfer, und diese Reisen und Studien brachten mich sehr nahe an die sozialen Probleme der Bauern, mit der unvermeidlichen Konsequenz, dass ich in engen Kontakt mit jenen demokratischen Jugendbewegungen (allgemein ›Dorfforscher‹ genannt) kam, die für die Rechte der Bauern und für eine demokratische Landreform kämpften.«51

Als erfahrener »Dorfforscher«52 wusste Veress aus konkretester Anschauung um das dringende, seit Ende des Ersten Weltkriegs systematisch verschleppte Desiderat, in den vom drastischen Klassengegensatz zwischen adligem bzw. kirchlichem Großgrundbesitz auf der einen, Kleinbauerntum und Agrarproletariat auf der anderen Seite geprägten Dörfern endlich für mehr Verteilungs- und soziale Gerechtigkeit zu sorgen. Und es waren in der Tat just die beiden Parteien am linken Rand des Koalitionsspektrums der provisorischen Übergangsregierung, die diese Aufgabe im März 1945 programmatisch-federführend und energisch an die Hand nahmen: die Nationale Bauernpartei NPP und die MKP mit ihrem Landwirtschaftsminister Imre Nagy, dem späteren Ministerpräsidenten des 1956er Aufstands, dem der Komponist noch 1983 ein berührendes Epitaph in Gestalt eines Memento für Bratsche und Kontrabass setzen sollte.53 Ganz im Sinne dieser Faktenlage weist Veress in einem weiteren, erst kürzlich ans Licht gekommenen Rechtfertigungsdokument aus dem ersten Schweizer Jahr – einem Brief an Paul Sacher, damals Präsident des Schweizerischen Tonkünstlervereins (STV) – auf die generelle Beweger-Rolle der MKP hin:

»Die politische Lage war (…) damals in Ungarn eine solche, dass die vier Parteien, die Kleinlandgutbesitzerpartei (= Kleinlandwirtepartei, Anm. CV), die Sozialdemokraten, die Bauernpartei und die Kommunisten, eine vollkommen ausgeglichene Koalition formten, die als eine Einheit für das einzige, grosse Ziel: die Rekonstruktion des Landes und des Lebens, arbeitete. In dieser Koalition war damals die kommunistische Partei eine kleine Minderheit, zugleich spielte sie aber die Rolle eines Motors, und war eigentlich nichts anderes als eine demokratische, progressive Reformpartei.«54

Das »Motor«-Argument ist wichtig, liefert es doch einen Ansatz zur Beantwortung der Frage: Warum ausgerechnet die MKP, wenn sich die vier großen Parteien doch eigentlich in der Identifikation und Bewertung der grundlegenden Desiderate der politischen Stunde vollkommen einig waren? – Interessanterweise fehlt es in der fünf Jahre später niedergeschriebenen Endfassung der Konfession: Dort wird, im Gegenteil, die Nichtunterscheidbarkeit der Parteiprogramme und daher der Zufallscharakter der Entscheidung für die MKP akzentuiert – ganz im Sinne der von Borsody adressatenbezogen insinuierten Tendenz, die Motive des Parteibeitritts möglichst gründlich zu entkernen.

Wie auch immer man die verwickelte Quellenlage zu diesem Komplex behandelt – eines lässt sich mit Bestimmtheit sagen: Veress hat als Komponist weder vorher noch nachher so ausgeprägt politisch komponiert wie zwischen 1945 und 1949.55

MUSIK-KONZEPTE 192-193: Sándor Veress

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