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DER GRÜNDERHEROS
ОглавлениеDem Faszinosum ‚Gilgamesch‘, wie es in den Jahrhunderten und Jahrtausenden der mesopotamischen Textüberlieferung – möglicherweise sich jeweils verändernd – wahrgenommen wurde, möchte ich mit Hilfe einer kleinen Beobachtung ein wenig näher kommen. Hierfür sollen jeweils die ersten Zeilen der altbabylonischen Fassung des Gilgamesch-Epos (also diejenige, die im 18. Jahrhundert v. Chr. entstanden war) und jener des Sin-leqe-unnini betrachtet und verglichen werden. Zur Erläuterung dieses Vorgehens ist es jedoch zunächst notwendig, ein wenig auszuholen. In dem Schrifttum des Alten Orient ist es, abweichend von unserer eigenen westlichen Tradition, nicht üblich, literarischen oder wissenschaftlichen Werken eine Überschrift zu geben. Sie werden daher nicht mit einem Titel wie Ilias oder De divinatione benannt, sondern schlicht nach ihren Anfangsworten, die in der Regel freilich so geschickt gewählt sein müssen, dass sich in ihnen dem aufmerksamen Leser möglichst das Wesen des gesamten Werkes offenbart. So heißt etwa der große babylonische Schöpfungsmythos ebenso wenig zufällig Enüma elis lä nabü samämü, „Als droben noch nicht benannt waren die Himmel“, wie das erste Buch der hebräischen Bibel berēšīt, „Im Anfang“ heißt, denn dieses behandelt die Urgeschichte der Menschheit und des Gottesvolkes, jenes babylonische Werk die Geschichte der Vorwelt, der Zeit also, die vor der Schöpfung der Welt liegt. Vor diesem Hintergrund dürfte klar sein, dass auch die Anfangszeilen der Gilgamesch-Epen mit größtem Bedacht gewählt wurden und jeweils Licht auf die Aussageabsicht des gesamten Werkes werfen.
Das uns nur teilweise erhaltene altbabylonische Epos, das zu Beginn des zweiten vorchristlichen Jahrtausends entstand, heißt nach seinen Anfangsworten Šūtur eli šarrī, „Von allen Königen unübertroffen“. Diesem Titel zufolge stehen im Mittelpunkt des Epos die Herrlichkeit, die Größe, die Machttaten und der Ruhm eines Königs und Feldherrn, dessen gewaltige Leistungen in Vergangenheit und Zukunft unerreicht bleiben. Dass ein solcher Text nicht nur an den Königshöfen Mesopotamiens, sondern auch an denen anderer Völker und Kulturen, in Syrien, Palästina und Anatolien Verbreitung fand und zur Erbauung – und wohl auch als Exemplum – studiert wurde, überrascht uns daher nicht. Der Eindruck der ersten Zeile des frühen Gilgamesch-Epos findet in den folgenden Versen rasch Bestätigung:
Šūtur eli šarrī šanu’udu bēl gatti
qardu lillid Uruk rīmu muttakpu
illak ina pāhi ašāred
arka illakma tukulti ahhēšu
kibru dannu şulūl ummānīšu
agû ezzu mu’abbit dūr abni
Unter allen Königen unübertroffen, hochberühmt und von edler
Gestalt,
der kühne Spross Uruks, der stoßende Stier
geht vorne als erster voran.
Auch hinten geht er als Zuversicht seiner Brüder;
festes Ufer und Schirm seiner Truppen,
wütende Woge, die einreißt die Mauer aus Stein.
Der Titel des Jahrhunderte später entstandenen Zwölf-Tafel-Epos Sin-leqe-unninis betont nicht die unbändige Kraft des Königs und Feldherren, sondern einen ganz anderen Aspekt des Titelhelden. Ša nagha īmuru, „Der, der alles sah“ nannten Babylonier und Assyrer das jüngere Epos um Gilgamesch, den König von Uruk. Die ersten Zeilen des Werkes lauten in deutscher Übersetzung:
Der; der alles sah, das Fundament des Landes,
der [um Verdecktes] wusste, der der alles erkannt -
Gilgamesch, der alles sah, das Fundament des Landes,
der [um Verdecktes] wusste, der der alles erkannt -
[…]
über alles [erfuhr er] das All an Weisheit.
Er sah das Geheime und legte dar das Verdeckte,
brachte Weisung von der Zeit vor der Flut.
Bereits das zweite Wort, nag/qbu, das hier etwas leichtfertig mit „alles“ wiedergegeben wurde („Der, der alles sah“), hat es in sich. Denn nagbu in Ša nagba īmuru bedeutet keineswegs nur „Gesamtheit“ oder „alles“. Im Babylonischen gibt es ein gleichklingendes (homophones) Wort nagbu, das in der ersten Zeile des Epos ganz sicher ebenso gemeint ist wie das Wort nagbu, „Gesamtheit, alles“. Dieses zweite Wort nagbu bezeichnet einen für das mesopotamische Weltbild äußerst wichtigen kosmographischen Begriff. Dem babylonischen Weltbild zufolge besteht der Kosmos aus vier Schichten: dem Himmel, der begehbaren Erde, einem unmittelbar darunter befindlichen Süßwasserhorizont, der Brunnen und Quellen speist, sowie der Unterwelt. Nagbu ist die babylonische Bezeichnung für den ‚Süßwasserhorizont‘, den Machtbereich des wasserspendenden und damit – insbesondere für das aride Mesopotamien – auch lebensspendenden Gottes der Weisheit Enki, durch dessen indiskreten Hinweis auf die bevorstehende Sintflut der babylonische Noah und damit die gesamte Menschheit dem göttlichen Beschluss, dem Leben ein Ende zu setzen, entkam. Gilgamesch sah also nicht nur „alles“, sondern er „sah“ und erfuhr auch den nagbu genannten Süßwasserhorizont, der den Menschen ansonsten unzugänglichen Machtbereich des Weisheitsgottes selbst. Das jüngere Gilgamesch-Epos stellt anders als das ältere, so sehen wir es gleich an der ersten Zeile, die Erfahrung, die Weisheit Gilgameschs deutlich in den Vordergrund. Dies ist es, was das jüngere Epos in erster Linie rühmt: den Gilgamesch, der nicht nur ein „All an Weisheit“ erworben hatte, sondern das „Geheime, das er sah“, der Menschheit „offenlegte“. Die Ruhmestaten dieses Königs Gilgamesch sind nicht durch Kraft erlangt, sondern durch erworbene und offenbarte Erkenntnis, die der König zum Nutzen der ihm Anempfohlenen einsetzte und weitergab. Gilgamesch, so haben wir es als zentrale Aussage bereits aus den ersten Zeilen des Textes vernommen, brachte Erkenntnis, „brachte Weisung von der Zeit vor der Flut“.
Was bedeutet dies? In der Weltenschöpfung hatten, nach babylonischer Vorstellung, die Götter nicht nur den Kosmos, die Natur und den Menschen erschaffen. Als Vollendung des göttlichen Schöpfungswerkes seien, so berichten es die Keilschriftquellen, nacheinander sieben göttliche Weise aus den Wassern gestiegen (den babylonischen Theologen zufolge soll es immer wieder der Weisheitsgott selbst gewesen sein) und diese sieben Weisen hätten die Menschen Wissenschaften und Künste, kurz alle Kulturleistungen gelehrt, die seitdem nicht mehr hätten vermehrt werden können. Durch die Katastrophe der Sintflut jedoch waren die Menschen abgeschnitten von der Frische und der klaren Ordnung der Schöpfung, beraubt des Ordnungswerkes der uranfänglichen Schöpfung und gesetzt in eine Zeit, der es an dem ordnenden Regelwerk der vorsintflutlichen Welt gebrach. Das mit und von der Flut Verschüttete ist es, was Gilgamesch, der Allerfahrene – so lesen wir es aus den ersten Zeilen des Textes – den Menschen wiederbringt: die „Weisung von der Zeit vor der Flut“. Die folgenden Zeilen des Textes zeigen dies deutlicher:
Er brachte Weisung von der Zeit vor der Flut.
[…]
Er baute die Mauer von ‚Uruk, der Hürde‘,
die des hochheil’gen Eanna, des glanzvollen Schatzhauses.
Sieh’ an dessen Mauer, deren Friese (strahlen) wie Kupfer!
Betrachte deren Brustwehr, die niemand nachzubilden weiß!
Nimm doch die Treppe, die (dort) seit ewigen Zeiten!
Komm heran an Eanna, den Wohnsitz der Ischtar,
den kein künft’ger König wird nachbilden können, noch sonst ein
anderer Mensch.
Steig doch herauf, auf der Mauer von Uruk wandle einher.
Nimm ihre Fundamente in Augenschein und prüfe ihr Ziegelwerk:
(Prüfe), ob ihr Ziegelwerk nicht aus Backstein besteht
und ob nicht die Sieben Weisen (selbst) ihre Fundamente gelegt!
Die „Hürde“, die Gilgamesch, der König, der ihm anempfohlenen menschlichen Herde errichtet hat, die Mauer Uruks, das über Jahrtausende unvergängliche Werk des Königs, ist in der Sicht des Dichters keineswegs erstmals auf Weisung Gilgameschs entstanden! Die letzten Verse: „Prüfe, ob ihr Ziegelwerk nicht aus Backstein besteht / und ob nicht die Sieben Weisen (selbst) ihre Fundamente gelegt!“ besagen deutlich: Gilgamesch errichtete die von der Flut zerstörte Mauer auf ihren vorsintflutlichen Fundamenten und bietet so durch seine Kraft, sein Wissen und seine Kunst den Menschen wieder den Schutz, den die vorsintflutliche Ordnung ihnen bot und die nachsintflutliche Welt ihnen bisher verwehrte. Die Mauer ist den Menschen ewiges Zeichen dafür, dass mit Aufwand und Kraft die Sicherheit der sozusagen paradiesischen Ordnung wiederhergestellt werden kann. Hierum geht es – unter anderem jedenfalls – im Gilgamesch-Epos.
Ein weiteres zeigt noch die erste Passage des Epos: Die Erinnerung der schon im 1. Jahrtausend v. Chr. ehrwürdig-uralten Schriftkultur Mesopotamiens geht offenbar so weit zurück, dass nach Jahrtausenden noch bewusst geblieben ist, dass „Stadt“ als segen- und schutzbringende „Hürde“ der Menschen eine mit höchsten Anstrengungen erreichte Kulturleistung ist, die sich erstmals im südlichen Mesopotamien vollzog. Von Kulturleistungen soll auch im Folgenden noch die Rede sein.