Читать книгу Menschen, die Geschichte machten - Группа авторов - Страница 18
FAHRT ANS ENDE DER WELT
ОглавлениеKönig Gilgamesch, voll ungezügelter Kraft und zu zwei Dritteln Gott, nur zu einem Drittel Mensch, bedrängt die ihm anvertrauten Menschen Uruks, die ihres Königs wegen keine Ruhe finden können. Um ihn zu bändigen, erschaffen die Götter Enkidu als seinen Gegenpart. Ist Gilgamesch die Kultur, so ist Enkidu ganz Natur. Der ganz Behaarte
frisst mit den Gazellen das Gras,
mit dem Wild trinkt er am Wasserloch
und mit dem Getier erfreut er sich am Nass.
Die Tiere weichen erst dann in Angst vor ihm, nachdem eine Dirne, die sich vor ihm entblößte und mit der er „6 Tage und 7 Nächte schläft“, ihn verführt, von der Natur zur Kultur verführt: „Komm, ich will dich hineinführen nach Uruk …“ Brot, Bier und Kleidung empfing er aus ihrer Hand. Diesen „Sündenfall“ zur Kultur wird Enkidu in der Stunde seines Todes einst verfluchen und mit ihm die Verführerin, die Dirne, die für alle Zukunft auf der Straße leben und von Betrunkenen geschlagen werden möge. Der Sonnengott muss intervenieren, um von Enkidu auch einen Segen für die Dirne zu erwirken: „Um deinetwillen werde verlassen die Mutter von sieben Kindern, die Gattin!“, lautet einer dieser Segenssprüche.
Der „domestizierte“ Enkidu und Gilgamesch messen ihre Kräfte, werden unzertrennliche Freunde. Gemeinsam ziehen sie gegen Chumbaba, den von den Göttern eingesetzten „Wächter des Zedernwaldes“, den noch nie ein Mensch betreten hatte. Als erste wollen sie die gewaltigen Bäume fällen und mit diesen prächtige Bauwerke errichten, so wie es seit ihrer Urtat dann dem Königtum geziemt. Mächtige Baumstämme stehen in dem waldarmen Mesopotamien kaum zur Verfügung und werden dennoch von jedem mesopotamischen König, der seiner Macht mit einer repräsentativen Architektur Ausdruck verleihen möchte, für die Dachkonstruktionen großer Bauwerke und für die Herstellung monumentaler Türen dringend benötigt. Über Jahrtausende führten die Herrscher des Zweistromlandes Kriege mit den Völkern Irans, Anatoliens, Syriens und Palästinas, um an diesen unverzichtbaren Rohstoff zu gelangen. Der uranfängliche dieser Kriege ist der Zug Gilgameschs und Enkidus gegen Chumbaba, die furchtbare, feuerspuckende, aber nicht bösartige Kreatur: „Sein Mundwerk ist ‚Das Feuer‘, sein Ausspruch ist der Tod“. Mit List bezwingen die beiden Freunde den armen Chumbaba, der ganz vergebens um sein Leben bittet (s. S. 33). Er wird geschlachtet, zerfetzt, sein Haupt als Trophäe verschickt. Dann werden die Zedern gefällt und den Euphrat herabgeflößt.
In dem Mord am göttlichen Diener, der doch eine notwendige Bluttat war – denn die hohe Kultur zwischen Euphrat und Tigris braucht das Holz und würde es immer brauchen –, in diesem Mord liegt tiefe Hybris. Dreist griffen Menschen in die göttliche Ordnung ein und zerstörten sie. Und nicht allein der Wunsch, die „Hürde“ Uruk mit Bauholz zu errichten, trieb Gilgamesch und Enkidu zu ihrer grausamen Tat. Auch eitle Geltungssucht war mit im Spiel. Denn vor der Gefährlichkeit des Chumbaba gewarnt, hatte Gilgamesch gesagt: „Würde ich fallen, hätt’ ich (mir dennoch) einen Namen gemacht. / (Man würde sagen:) ‚Gilgamesch hat den unbänd’gen Chumbaba in Kampf verstrickt!'“. – Der Sieg der Kultur über die Natur, der Gilgameschs und Enkidus über Chumbaba hat seinen Preis, der höchsten Triumph und Allmachtsgefühle vergällt.
Enkidu muss sterben und Gilgamesch, der seinen geliebten Freund nicht eher verlässt, „bis ihm der Wurm aus der Nase fiel“, erfährt hautnah, dass die Triumphe des Mächtigen vor den essentiellen Dingen des Lebens nichts weiter sind als Schall und Rauch. Später wird es ihm der aus dem Reich der Toten empor beschworene Enkidu bitter bestätigen: Hinter dem Eingang zur Unterwelt liegen die Kronen irdischer Herrscher, abgelegt auf einem Haufen – denn vor des Todes Angesicht sind alle gleich.
Nun tut Gilgamesch etwas Unerhörtes, etwas im Umfelde mesopotamischen Königtums nie Gesehenes. Er, der königliche Hirte, verlässt seine Stadt, verlässt seine Menschen und irrt durch die Welt, um zu entdecken, wie er dem endlichen Schicksal entkäme. Vergessen ist scheinbar alle Eitelkeit auf der Suche nach dem unbegrenzten Leben. Als Gilgamesch an das Ende der Welt gelangt, ist er nicht mehr König. Verschmutzt, abgerissen, nur notdürftig in Felle gewickelt, wie einst der Natur-Mensch Enkidu, kommt er an das Ende der Welt. Die Göttin, auf die er hier trifft, soll ihm den Weg weisen, zu Uta-napischti, dem babylonischen Noah und seiner Frau, den einzigen Menschen, denen die Götter das ewige Leben gewährten. Von ihnen erhofft er sich das Geheimnis unendlichen Lebens. Doch spöttisch nur antwortet ihm Siduri, die Göttin:
Gilgamesch, was streunst du umher?
Das Leben das du suchst, wirst du nicht finden:
Als die Götter die Menschheit schufen,
setzten sie der Menschheit den Tod,
das Leben aber behielten sie in ihrer eigenen Hand.
Du, Gilgamesch, lass voll sein den Bauch, und hab’ Freude bei Tag und bei Nacht!
An jedem Tage bereite dir Freude, spiele und tanze bei Tag und bei Nacht!
Strahlen mögen all deine Kleider.
Dein Kopf sei gewaschen, in Wasser seist du immer gebadet!
Schau auf das Kind, das an der Hand dich ergreift!
Die Gattin möge sich immer wieder erfreuen in deinem Schoße!
Nur dies ist das Schicksal der Menschen.
So muss der herrliche Gilgamesch erfahren, dass ihn, den Fürsten, von den Menschen nichts unterscheidet. Er will es nicht wissen und reist weiter durch Räume und Regionen, die noch nie ein Mensch betreten, bis er letztlich – wie niemand vor ihm – doch zu Uta-napischti gelangt.
Dieser ist zwar gerne bereit, Gilgamesch das Geheimnis anzuvertrauen, wie er selbst zur Unsterblichkeit gelangte – dies ist die berühmte 11. Tafel des Gilgamesch-Epos mit der Sintflutgeschichte. Aber sein Urteil über den durch Irren und Wirren verwahrlosten Gilgamesch ist gar noch härter als das der Siduri. Gilgamesch, der erfahren hatte, wie Uta-napischti für immer dem Tode entronnen war, erhoffte sich, dem babylonischen Noah das Geheimnis zu entlocken, wie er selbst zu einem Unsterblichen werden könnte. So rät Uta-napischti dem Gilgamesch, eine ganze Woche lang zu wachen. Gilgamesch besteht diese Probe aber nicht und muss so erfahren, dass er den Tod nie wird besiegen können, wenn er nicht einmal dem Schlaf zu widerstehen weiß. Nun geht der weise Uta-napischti mit Gilgamesch hart ins Gericht:
Was treibt dich, Gilgamesch, denn dauernde Trübsal,
der du doch aus Fleisch der Götter und Menschen geschaffen?
[…]
In der Versammlung stellt’ einen Thron man dir hin: ‚Setz dich‘, sagten sie zu dir!
[…]
Was aber ist dem Dumpfen gegeben?
Der im Folgenden leider nur schlecht erhaltene Text lässt erkennen, dass Uta-napischti von Gilgamesch verlangt, sich endlich wie ein König zu betragen und seiner Natur, seiner Bestimmung entsprechend für die Menschen zu sorgen und sicherzustellen, dass die Menschen, so wie es die Regeln verlangen, die Götter versorgen. Nicht die Sorge um das eigene Ich, sondern die um die Menschen und die Götter hat das Streben des Königs zu bestimmen, der erst dann wahre Heldentaten, Ordnungstaten vollbringen kann, wenn er sich selbst bescheidet. Der babylonische Noah stattet den verwilderten Gilgamesch mit dem prächtigen Königsornat aus und schickt ihn zurück nach Uruk. Auf Bitten seiner Gattin verrät er, wohlwissend um den Ausgang, Gilgamesch zum Troste, wo er ein Kraut finden kann, das ihn wieder in den Zustand der Jugend zurückzuversetzen vermag. Zwar findet Gilgamesch das Kraut, doch bevor er selbst es essen kann, verschlingt es eine Schlange, die sich dann – wie es Schlangen bis heute tun – verjüngt, indem sie ihre alte Haut abwirft. Gilgamesch hingegen bleibt nicht nur das Geschenk des ewigen Lebens, sondern auch das der zweiten Jugend verwehrt. Er muss sich nun endgültig bescheiden und – wie alle mesopotamischen Könige – mit einem Fortleben in seinem Nachruhm begnügen.
Dass Gilgamesch den Rat des Sintflutweisen, die nachsintflutlichen Menschen mit den Göttern zu versöhnen, befolgt hat, zeigen nicht nur die ersten Zeilen des Epos, die den herrlichen Bau des „Himmelshauses“ preisen, sondern auch folgende Verse der Einleitung:
Der, der die heiligen Stätten, die die Sintflut zerstörte, wieder errichtete,
der den umwölkten Menschen die Kultordnungen festlegte -
wer ist der, der sich mit seinem Königtum messen könnte,
und so wie Gilgamesch sagen könnte: Ich, ja ich, bin König.
Das Königsbild, das hier gezeichnet und späteren Königen zum Vorbild gestellt ist, lässt sich nicht in Einklang bringen, mit dem Bilde des „Orientalischen Despotismus“, das der Westen so gerne – von den Perserkriegen bis heute – von den Herrschaftsformen des Orients zeichnet. So möge man auch hier die uralte Warnung vernehmen, die im Epos von Gilgamesch in die Ohren der Mächtigen gelegt ist: Es bescheide sich der Mensch…