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Soziale Konkurrenz Religiöse und säkulare Anbieter und kollektive Akteure
ОглавлениеDas Herzstück unserer Theorie bezieht sich auf religiös-säkulare und intra-religiöse Konkurrenzbeziehungen. Hier operieren religiöse und säkulare Anbieter und kollektive Akteure. Es handelt sich um ganz konkrete Gruppen, Organisationen, Milieus, die sich für die Ziele ihrer Gruppe einsetzen. Die Art der Gruppen, Organisationen und Milieus ist extrem vielgestaltig. Es kann sich um religiöse bzw. säkulare Berufsgruppen (z. B. Kleriker, Ärzte), Organisationen, politische Parteien, Eliten und selbst den Staat handeln. Diese kollektiven und individuellen Akteure kämpfen gemäss unserer Theorie um drei erstrebenswerte Konkurrenzobjekte.
Eine erste Konkurrenzebene betrifft Konkurrenzen um die Macht auf der Ebene der Gesamtgesellschaft.93 Hier kämpfen religiöse und säkulare Akteure um die Frage der herrschenden Ordnung, um die Deutungshoheit, um die Regeln des Zusammenlebens und die Zuständigkeit für die Lösung von Problemen.94 Einerseits geht es um die Ausgestaltung des Konkurrenzregimes, d. h. um die Frage nach den Prinzipien, Normen, Regeln und Verfahren, mit denen legitime Macht, Einfluss und |37| Deutungshoheit in der Gesellschaft geregelt werden.95 Auf der anderen Seite kämpfen die kollektiven Akteure um Macht, Einfluss und Deutungshoheit innerhalb eines jeden gegebenen Konkurrenzregimes. Beispiele lassen sich leicht finden. So kämpften während der iranischen Revolution 1979 säkulare und religiöse Parteien um die Macht im Land.96 In den dreissiger Jahren des 20. Jahrhunderts stritten in Deutschland Nazi- und katholische Jugendgruppen um den Einfluss auf die deutsche Jugend.97 Und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wetteiferten Kleriker und Neurologen darum, wer für «persönliche Probleme» zuständig war.98
Aber nicht nur auf der Ebene der Gesamtgesellschaft, sondern auch auf der zweiten Ebene von Gruppen, Organisationen und Milieus kommt es zu Konkurrenzierungen um Macht, Einfluss und Deutungshoheit99. Hier stehen etwa Fragen nach der generellen Marschrichtung der Gruppe, nach der Legitimation der Zuständigkeit für wichtige Aufgaben im Vordergrund. So kämpften verschiedene muslimische Strömungen nach dem Tod von Mohammed um die legitime Nachfolge, was zur bekannten Trennung von Sunniten und Schiiten führte. Während des II. Vatikanums stritten konservative und reformwillige Katholiken um die Reichweite der anzustrebenden Reformen. Und im späten 19. Jahrhundert kam es in vielen protestantischen Gemeinden der Schweiz zu erbitterten Kämpfen zwischen Gemeindemitgliedern um eine «positive» (supranaturalistische) oder eine «liberale» (v. a. ethische) Bibelauslegung.
Eine dritte Ebene der Konkurrenz bezieht sich nicht so sehr auf Macht als vielmehr auf die individuelle Nachfrage nach Gütern. Gemeint ist die Tatsache, dass religiöse und säkulare «Anbieter» miteinander in Konkurrenz um Güternachfrage, Partizipation und Spenden der Individuen stehen.100 Die Konkurrenz entsteht, weil die Güter religiöser und säkularer Anbieter oft die gleichen Bedürfnisse befriedigen. Wer aufgrund einer Depression ein Bedürfnis nach Hilfe hat, kann das religiöse Gut «Seelsorge» nachfragen – aber es gibt einen säkularen Konkurrenten im säkularen Gut «Psychotherapie». Das Bedürfnis nach sozialen Kontakten |38| kann durch das religiöse Gut «aktive Mitgliedschaft in einer Gemeinde» befriedigt werden – aber es gibt viele säkulare Konkurrenten: Sportclubs, Vereine aller Art, Nachbarschaftsnetzwerke usw. Je nach betrachtetem Bedürfnis treten andere Konkurrenten von religiösen Anbietern in den Blick (Tabelle 2.1).101
Tabelle 2.1
Von Religion behandelte Bedürfnisse | Religiöse Konkurrenten | Mögliche säkulare Konkurrenten |
Hilfe in Problemsituationen | Gebet, Beichte, Seelsorge, Diakonie | Psychotherapie, Beratungen, Wohlfahrtsstaat |
Sicherheit, Gesundheit, Erfolg | Heilsgüter | Versicherungen, Wohlfahrtsstaat, Karriere |
Innerer Friede und Geborgenheit | Gemeinschaft | Sport, Familie |
Interpretation der Welt, Sinn | Predigt, Auslegung religiöser Texte, Dogmen | Wissenschaft |
Lebensstrukturierung | Kasualien, religiöse Feste | Private Feste, Arbeitszeit-Ferien-Zyklus |
Soziale Identität, soziales Kapital | Gemeinde als Netzwerk | Berufliche Netzwerke, neue soziale Medien, Vereine |