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Konkurrenzbeziehungen

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Die sicherlich wichtigste Konkurrenzbeziehung im Konkurrenzregime der Ich-Gesellschaft ist die religiös-säkulare Konkurrenz um Nachfrage. Auf buchstäblich allen von ihnen ehemals monopolistisch bearbeiteten Gebieten zeigen sich den Kirchen und religiösen Gemeinschaften gegenüber nun säkulare Anbieter, die für ähnliche Güter werben. Ein erstes Gebiet dieser Konkurrenzbeziehung ist die Freizeit. Da die Normen, die die religiöse Praxis sicherten, ihre Bindekraft verloren haben, ist die religiöse Praxis zur «Freizeitentscheidung» geworden. Dies wirkt sich besonders stark auf die Gestaltung des Sonntags aus. Für viele Menschen ist der «Tag des Herrn» zum säkularen Weekend geworden. Freizeitkonkurrenz zeigt sich ferner sehr deutlich in Bezug auf Jugendliche. Die Kirchen hatten vom Ende des 19. Jahrhunderts an versucht, Freizeitangebote für Jugendliche aufzubauen, um so eine kontinuierliche Transmission der christlichen Inhalte zu garantieren. Diese Angebote sahen sich in den 1950er und dann extrem seit den 1960er Jahren einer starken Konkurrenz zu säkularen Freizeitangeboten aller Art ausgesetzt. Die Konkurrenz um Nachfrage zeigt sich zweitens auch stark in der Kindererziehung, in der Eltern sich die Frage stellen müssen, wie viel Raum der religiösen Erziehung gegenüber säkularer Erziehung und anderen Zeitverwendungsmöglichkeiten eingeräumt werden soll. Ein dritter Aspekt dieser Konkurrenz betrifft die «Nachfrage nach Berufen». Durch den Wirtschaftsaufschwung und die verbesserten Bildungschancen für breite Kreise der Bevölkerung ist der Beruf des Priesters oder Pastors vergleichsweise weniger attraktiv geworden. Dieser Beruf war früher eine der wenigen Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs für Kinder aus ärmeren und ländlicheren Gegenden. Mit dem Verschwinden dieses Vorteils ist die Attraktivität des kirchlichen Berufs gesunken.160 Ein vierter und letzter Bereich der Konkurrenz betrifft die Kasualien, die lange noch als die letzte Bastion der Kirchen galten. Sie werden in dem Mass konkurrenziert, wie säkulare Ritualberater auf den Plan treten.161

Religiös-säkulare Konkurrenz um Nachfrage führt zu wichtigen Effekten sowohl für Nachfragende als auch für Anbieter. Nachfragende wählen meist die Angebote, die ihnen am attraktivsten erscheinen. Da die säkularen Angebote sehr stark ausgebaut worden sind und zudem dank gestiegener Kaufkraft auch leichter erreichbar sind, kommt es bei vielen Individuen zu einem «säkularen Driften», d. h., sie gleiten langsam in säkulareres Fahrwasser. Oft geschieht dies weniger als bewusste Entscheidung gegen religiöse Angebote, als vielmehr als ein Nebenprodukt der Entscheidung |58| für säkulare Angebote. Die Tatsache, dass Individuen selbst über ihre religiös-säkulare Nachfrage entscheiden, führt ferner zu einer zunehmenden Individualisierung (die Individuen unterscheiden sich zunehmend in Bezug auf ihren individuell zusammengestellten religiös-säkularen «Warenkorb») und eine zunehmende Konsumorientierung (die Individuen betrachten die religiös-säkulare Welt zunehmend als «Angebote», die sie nach Leistung und Preis beurteilen. Für religiöse Anbieter bedeutet das neue Konkurrenzregime der Ich-Gesellschaft, dass sie grosse Anstrengungen unternehmen müssen, um «im Markt zu bleiben», d. h. um Menschen zu motivieren, Zeit, Energie und Geld für religiöse (und nicht für andere) Zwecke bereitzustellen. Kirchen versuchen daher zunehmend, verschiedene aus dem Marketing bekannte Strategien anzuwenden (z. B. Bedürfniserfassung, Qualitätssicherung, Werbung).162 Eine wichtige Strategie besteht auch darin, eine bestimmte Grösse zu erreichen, um im Konkurrenzkampf bestehen zu können (daher das Phänomen der Fusionen und Megachurches).163

Ein für die Religion in der Gesellschaft äusserst wichtiger Konkurrenzkampf, der bereits im 19. Jahrhundert begann und das ganze 20. Jahrhundert mit steigender Virulenz in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren durchzieht, bezieht sich auf die Emanzipation der Frauen.164 Während es im vorindustriellen Zeitalter normal war, dass sowohl Männer wie auch Frauen erwerbstätig sein konnten,165 führte die Industrialisierung, die fortschreitende Trennung von Wohn- und Arbeitsort und die Erfindung der bürgerlichen Familie zu einer starken arbeitsteiligen Trennung der Geschlechterrollen. In dieser Ideologie war der Mann für den Broterwerb ausser Haus zuständig, während die Frau sich zu Hause um die Kinder und den Haushalt kümmerte. Gerade die Tatsache, dass die Frau nicht zu arbeiten brauchte, zeigte den Status der Familie an. Männern und Frauen wurden hierbei unterschiedliche, «naturgegebene» Eigenschaften zugeschrieben: Männer waren rational, hart, mutig, entschieden und potenziell durch «Laster» gefährdet; Frauen waren mütterlich, zart, liebend, rein und fromm.166 Aufgrund dieser Ideologie waren Frauen von politischen und den meisten übrigen öffentlichen Tätigkeiten ausgeschlossen. Im Erwerbsleben konnten sie nur bestimmte Berufe ausüben, nur sehr begrenzt beruflich aufsteigen und erhielten normalerweise für gleiche Arbeit weniger Lohn. Im Eherecht waren sie dem Mann nicht gleichgestellt, |59| er hatte die finanzielle Hoheit und konnte darüber entscheiden, ob die Ehegattin berufstätig sein durfte oder nicht. Auch in Fragen der Sexualität herrschte keine Gleichberechtigung. Die Frauenbewegungen forderten in allen diesen Bereichen Gleichberechtigung. Für unser Thema ist interessant, dass die bürgerliche geschlechtsspezifische Arbeitsteilung im 19. und frühen 20. Jahrhundert insgesamt zu einer Feminisierung der Religion führte.167 Einerseits wurde den Frauen eine Reihe von Betätigungsfeldern untersagt, die zu Religion in Konkurrenz hätten treten können und dies bei Männern auch tatsächlich taten (Erwerbsarbeit, Freizeitbeschäftigungen, Sport usw.), andererseits wurde ihnen als Gattin und Mutter eine Rolle geschaffen, die sich direkt auf die Vermittlung von Religiosität richtete. Die Frau hatte sich – insbesondere im Katholizismus – um die religiöse Erziehung der Kinder zu kümmern und als «Priesterin der Familie» zu walten. Wenn sie sich öffentlich betätigte, so hatte dies normalerweise karitativ zu geschehen.168 Im Kampf um Gleichberechtigung, der in der Schweiz langsamer als in anderen westeuropäischen Ländern vorankam, wurden diese beiden Grundpfeiler der bisherigen weiblichen Religiosität zerstört. Einerseits erstritten sich die Frauen gleiche politische, ökonomische und gesellschaftliche Rechte. So erhielten sie (wie gesagt im Vergleich sehr spät) 1971 das Stimmrecht, und 1981 wurde die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau in die Verfassung aufgenommen. Das Eherecht von 1985 sieht den Mann nicht mehr als Familienoberhaupt.169 Andererseits wurden in der sexuellen Revolution der 1960er Jahre und in der darauffolgenden Frauenbewegung die bürgerlichen geschlechtsspezifischen Rollenbilder zerstört.170 Frauen wehrten sich vehement gegen die überkommenen Stereotypen und verwarfen die religiöse Legitimation dieses Rollenbilds. Der Kampf um neue Freiheiten und eine neue Identität konnte von Frauen interessanterweise nicht nur gegen Religion, sondern gerade mit Hilfe einer neuen, alternativen Spiritualität geführt werden, die in den 1960er Jahren entstand und in den 1970er Jahren zu voller Blüte gelangte. Im Effekt führten beide Entwicklungen dazu, dass die Frauen jetzt den gleichen die Religion konkurrenzierenden Faktoren ausgesetzt sind wie die Männer.

Ein weiterer Konkurrenzkampf innerhalb des Konkurrenzregimes der Ich-Gesellschaft betrifft die Stellung der (in den meisten Kantonen) als öffentlich-rechtliche Institutionen anerkannten Kirchen. Hier geht es nicht mehr um individuelle Nachfrage, sondern um Fragen der Macht und Einfluss auf die herrschende Ordnung |60| in der Gesellschaft. Da die Anzahl der Konfessionslosen und nicht christlich Religiösen steigt, erscheint die ausschliessliche Anerkennung der Landeskirchen als immer weniger legitim. Dadurch wird ihre Stellung – etwa durch säkularistische Gruppen oder nicht anerkannte religiöse Gemeinschaften – angreifbar.171 So hat es in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Versuche gegeben, die Anerkennung der Landeskirchen in verschiedenen Kantonen zu stoppen oder aber an bestimmten Vorrechten zu rütteln. Die Kantone haben ihre Verfassungen denn auch schrittweise in Richtung einerseits einer Lockerung des Kirche-Staats-Verhältnisses und andererseits einer möglichen Anerkennung weiterer Religionsgemeinschaften angepasst. In diesem Zusammenhang ist auch interessant, dass die Grosskirchen in ihren Reaktionen auf die Konkurrenz eingeschränkt sind, denn im neuen Konkurrenzregime wird es nicht goutiert, wenn sie offen mit anderen Konfessionen oder Religionen um Herrschaft ringen. Sie können ihre öffentliche Stellung stärken, wenn sie sich für Themen einsetzen, die dem Gemeinwohl insgesamt dienen, z. B. für Frieden, interreligiösen Dialog und den Einsatz für die Menschenrechte.172

Schliesslich erkennen wir einen wichtigen Konkurrenzkampf rund um den Islam. Hier stehen sich Gegner eines als bedrohlich empfundenen Islams und Akteure gegenüber, die dem Islam die gleichen Rechte wie allen anderen Religionen in der Schweiz einräumen möchten. Die Aktivisten der Islamgegner setzen sich aus verschiedenen Gruppen zusammen: Rechtskonservative rund um die Schweizerische Volkspartei, politisch rechts stehende Mitglieder der evangelischen Freikirchen wie auch Feministinnen, denen die traditionellen Gendervorstellungen vieler Muslime ein Dorn im Auge sind. Die Aktivisten und Aktivistinnen der Islambefürworter setzen sich aus Vertretern der Grosskirchen, Praktikern des interreligiösen Dialogs wie auch Anhängern der multikulturellen Gesellschaft zusammen.173 Per Volksinitiative gelang es 2009 den Gegnern, ein Minarettverbot in der Schweiz durchzusetzen, das nun in Artikel 72 der Verfassung steht.174 Die meisten Befürworter der Anti-Minarett-Initiative lehnten Minarette dabei nicht aus religiösen Gründen ab. Vielmehr sahen sie Minarette als Symbole eines Phänomens, das ihrer Meinung nach die in der Schweiz herrschende Ordnung gefährde. |61|

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