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Der Wechsel des Konkurrenzregimes der 1960er Jahre

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In den 1960er Jahren kam es in der Schweiz – wie in fast allen westlichen Ländern – zu einer kulturellen Revolution, die kein an sich religiös-säkularer Konflikt war, aber dennoch das gesamte gesellschaftliche Gefüge so auf den Kopf stellen sollte, dass die intra-religiösen und religiös-säkularen Konkurrenzkämpfe von nun an in anderer Weise ablaufen mussten.153

Bei der kulturellen Revolution der 1960er Jahre handelte es sich zunächst um einen Generationenkonflikt: Eine junge Generation lehnte sich gegen die Älteren und deren – wie man dachte – veraltete, spiessige und langweilige Lebens- und Wertvorstellungen auf. Die 1968er Revolution kristallisierte sich an einer Reihe bevorzugter Themen. Die Akteure kritisierten insbesondere den Vietnamkrieg, den Kolonialismus, Imperialismus, Militarismus und Faschismus. Sie widersprachen jeglicher Autorität, sei diese nun staatlich, universitär, elterlich oder kirchlich. Ein zentrales, eng damit verbundenes Thema war die individuelle Freiheit: Das Individuum sollte frei von jeglichem Zwang selbst entscheiden dürfen und |54| seine ganz individuellen Wünsche, insbesondere auch seine Sexualität, völlig selbstbestimmt ausleben können.154 Die damalige Zeit wurde von vielen Jugendlichen und jungen Erwachsenen als eine äusserst emotionale Phase erlebt, in der die Welt aus den Fugen geriet und alles möglich schien. Die Beatles fassten das Lebensgefühl zusammen in ihrer Hymne «All You Need Is Love», und Cat Stevens sang 1971:

If you want to sing out sing out / and if you want to be free be free / there’s a million ways to be / you know that there are155

Die Jugendlichen konsumierten jetzt eine neue, sich als gegenkulturell verstehende Musik (Beatles, Rolling Stones, Doors, in der Schweiz: les Sauterelles um Toni Vescoli), unkonventionelle Kleidung und Haartracht (bunte, weite Kleidung, lange Haare für Männer, kurze für Frauen), alternative Freizeitbeschäftigungen (Sit-ins, Teach-ins, Happenings). Vor allem die junge Generation der Städte und in besonderem Masse die Studentinnen und Studenten wurden von der Revolution erfasst.156

Die neuen individualistischen Wert- und Lebensweisen blieben jedoch keineswegs auf die städtischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen beschränkt, sondern breiteten sich von Jungen auf ältere Generationen, von den Städten aufs Land und von höheren Bildungsschichten auf alle Schichten aus. Die Ausbreitung auf alle Altersgruppen geschah nicht so sehr dadurch, dass die Älteren die neuen Werte angenommen hätten, sondern durch die Tatsache, dass ältere Generationen mit traditionellen Vorstellungen wegstarben und die nachkommenden Generationen von Anfang an die neuen Werte hochhielten. Die Ausbreitung von der Stadt aufs Land wurde massiv durch die neue Mobilität (Auto, Ausbau des Schienenverkehrs) begünstigt: Immer mehr Menschen lebten in der Agglomeration oder auf dem Land und pendelten zum Arbeiten und zu Freizeitzwecken in die Stadt.

Grafik 2.2: Schematische Darstellung des Regimewechsels religiös-säkularer Konkurrenz


Die Revolution der 1960er Jahre hatte verschiedene äusserst wichtige Auswirkungen auf Religion. Wir können sie an drei zentralen Punkten festmachen. Erstens bewirkte sie, dass die Jugendlichen und jungen Erwachsenen die Religion und die Kirchen als eine der verschiedenen Autoritäten angriffen und herausforderten. Die Kirchen hatten zwar in den letzten Jahrzehnten ständig Funktionen verloren, |55| aber sie waren bis in die 50er Jahre immer noch in der Lage gewesen, die Schweizer Gesellschaft als Ganzes zu legitimieren. Durch die kulturelle Revolution der 60er Jahre wurde ihnen diese Funktion abgesprochen, und zwar von aussen wie von innen.157 Zweitens führten die neuen Lebensumstände der 50er und 60er Jahre mit ihren extremen Einkommenssteigerungen und den neuen Freizeitoptionen dazu, dass die kirchliche Jugendarbeit – die bisher einen wichtigen Stellenwert innehatte – von den säkularen Konkurrenzangeboten ausgehebelt wurde. Schon in den 1940er und 1950er Jahren hatte sich abgezeichnet, dass die kirchlich organisierten Freizeitaktivitäten einen schweren Stand haben würden – jetzt wurden sie oft einfach weggefegt. Drittens kam es interessanterweise auch innerhalb der Grosskirchen zu eigentlichen Revolutionen. Auf der Seite der Katholiken war das II. Vatikanum ein einschneidendes Ereignis, das zu riesigen Veränderungserwartungen führte; auf der Seite der Reformierten hatten extrem institutionskritische Gedanken wie auch die Idee vom «Tod Gottes» Konjunktur. 1971 schrieb der Kirchenhistoriker Kurt Guggisberg über das vorangegangene Jahrzehnt: |56|

Als im Jahre 1962 das umfangreiche «Handbuch der reformierten Schweiz» eine Heerschau des damaligen Protestantismus vorführte, schienen die hergebrachten kirchlichen Strukturen noch unangefochten zu sein. Alles ist seither von den revolutionär eingestellten Theologen und Laien als überholt und verbesserungsbedürftig verworfen worden.158

Dabei waren die 1960er Jahre kein besonders säkulares Jahrzehnt. Im Gegenteil: Es handelte sich um Jahre grossen – wenn auch kritischen – religiösen Interesses. Die Kirchen wurden zwar kritisiert, aber man sprach über sie. Viele Menschen hielten das Jahrzehnt für eine Zeit neuen religiösen Aufbruchs. Wenige sahen den bevorstehenden Sturzflug der Kirchen voraus.

Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft

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