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2. Das Evangelische Gottesdienstbuch (EGb) im Spiegel des gemeinsamen Gebets oder: Gelingen und Scheitern eines Projekts 2.1 Integration als das große Thema des EGb und die Problematik der Struktur
ОглавлениеDie Agende I als erstes Stück der Agendenarbeit nach dem Zweiten Weltkrieg entstand lutherisch 1955 und uniert 1959. Sie war – im Bild gesprochen – wie eine schön gestaltete Schatulle, in die man den evangelischen Gottesdienst in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg zu sperren versuchte: fern von den Gefährdungen einer natürlichen Theologie, fern von den Anfechtungen einer Anpassung an den Zeitgeist.
Aber die Schatulle bekam Risse, das gottesdienstliche Leben ließ sich nicht einsperren. Nach und nach wurde es bunt und unübersichtlich. Das «Amt» vermochte den Gottesdienst nicht mehr zu normieren, die Agende ihn nicht mehr zu |46| regeln. Stattdessen entstand eine Vielfalt, die mit Kritik an der verordneten Restauration der Nachkriegsagende einherging. Neue Experimente begannen: Familiengottesdienste, Gottesdienste in freien Formen, Gottesdienste mit neuer Musik, Politische Gottesdienste. Die traditionelle «Liturgie» wurde vielfach als Problem empfunden, als das, was man «absingen» muss, bevor dann mit der Predigt der Gottesdienst «eigentlich» beginnt. Auf der liturgischen Wiese blühte es vielfältig. Und der Gottesdienst nach Agende I war nicht der normierende und die Kirche verbindende Zusammenschluss, sondern lediglich ein Gottesdienst unter vielen anderen. In dieser Zeit regte sich erstmals der Wunsch vieler nach Übersicht in der verwirrenden Pluralität. Was ist Gottesdienst? Gibt es (noch) eine kirchliche Einheit, die sich gottesdienstlich greifen lässt?
«Integration» war das große Thema auf dem Weg zum Evangelischen Gottesdienstbuch – ein Weg, der von den Vorüberlegungen Anfang der 70er Jahre bis zu dem fertigen Buch 1999 beinahe 30 Jahre dauerte.132 Frieder Schulz, einer der wesentlichen Protagonisten, hätte wohl nicht von «Integration» gesprochen, sondern eher von «Konvergenz»133 – das Ziel ist das gleiche.
Faktisch war der Weg zum Evangelischen Gottesdienstbuch die Fortsetzung des Projekts der Agende I mit anderen Mitteln. Versuchte die Agende I mit einem normierenden Textbestand und zahlreichen Rubriken den einen evangelischen Gottesdienst (konfessionell gebunden als entweder lutherischen oder unierten!) darzustellen, so schien dieser Weg angesichts der faktischen Vielfalt und angesichts der Ablehnung der restaurativen Normierung verbaut. Die Alternative sah man in einer formalen Reduktion, in der im Rückblick durchaus genialen, aber eben auch extrem problematischen Vokabel der «Struktur». Nicht mehr die Textgestalt des Gottesdienstes und seine rubrizierte Leibgestalt sollte festgelegt werden, sondern nur noch dessen Syntax. Die Idee einer «schmiegsamen Liturgie» stand damit im Raum – und manche waren von dieser Überlegung so beeindruckt, dass sie – wie Joachim Stalmann – von einem liturgischen «Prager Frühling» sprachen.134 Es war eine Entdeckung, dass man angesichts der Fülle von neuen Gottesdiensten erkannte, dass diese alle der gleichen Grundstruktur folgen – einer Struktur, die sich in der Geschichte der Kirche seit dem zweiten Jahrhundert und in der Ökumene nachweisen lässt und selbstverständlich auch die evangelischen Liturgiefamilien miteinander verbinden kann. |47|
Faktisch können die meisten der sieben Kriterien, die der Entstehung des Evangelischen Gottesdienstbuches zugrunde liegen, auf dem Hintergrund des Anliegens der Integration gelesen werden: stabile Struktur und freie Ausgestaltung (Kriterium 2), traditionelle und neue Texte im Miteinander (Kriterium 3), der Kontext der Ökumene (Kriterium 4), verbindende, niemanden ausgrenzende Sprache (Kriterium 5), Leib und Geist im Wechselspiel (Kriterium 6).
Schon bald allerdings wurden die Probleme eines abstrakten Strukturbegriffs gesehen und kritisiert. Genügt es tatsächlich zu sagen, der Gottesdienst bestehe aus (1) Eröffnung und Anrufung, (2) Verkündigung und Bekenntnis, (3) Abendmahl, (4) Sendung und Segen? Was ist damit tatsächlich erreicht, außer festzustellen, dass zwischen Anfang und Ende auch noch verkündigt und das Abendmahl gefeiert wird? Läuft irgendwie ähnlich nicht jede Party ab, so fragte Manfred Josuttis 1991?135 Man kommt zusammen, das Ganze wird eröffnet, die «Festlegende» wird erzählt, es wird gegessen und getrunken, man verabschiedet sich und geht auseinander? Es war die Michaelsbruderschaft, die bereits 1974 an das Berneuchener Buch (1926) erinnerte – und betonte, dass alles «Lebendige» «Gestalt» sei, «die Leibhaftigkeit besitzt und fordert».136 Auch Karl-Heinrich Bieritz wehrte sich mit beachtlichen Argumenten gegen die Ontologisierung der Struktur, die er in den Vorüberlegungen zum Evangelischen Gottesdienstbuch erkannte. Struktur «gibt» es nicht, meinte er zu Recht; sie sei etwas, das gestaltet (also: gemacht) und gegebenfalls erkannt werde (oder auch nicht!).137
Wie wenig die Strukturierung des Evangelischen Gottesdienstbuchs im Blick auf die Rezeption funktioniert, wird m. E. vor allem an den Übergängen deutlich. Das «Gebet des Tages» (eine Formulierung, in der Kollekten- und Eingangsgebet verschmolzen sind) steht klassisch als Abschluss des ersten Teils «Eröffnung und Anrufung». Im Blick auf seine liturgische Tradition bündelt es die Gebete des Eingangsteils des Gottesdienstes. Die Unsicherheit von Studierenden über den Charakter dieses Gebets, die ich regelmäßig in homiletischen und liturgischen Seminaren erlebe, zeigt, dass Ort und Funktion unklar geworden sind. Weit stärker als der Einschnitt nach dem Kollektengebet wird von den Gottesdienstfeiernden wohl der Beginn der Predigt erlebt. Jetzt ist die Eingangsliturgie am Altar bzw. am Lesepult erst einmal vorbei – und die Predigt beginnt (in aller Regel auf der Kanzel). Innerhalb der Struktur des Gottesdienstbuches aber ist dieser Einschnitt nicht |48| vermerkt; sowohl die Lesungen als auch Credo und Predigt gehören zu «Verkündigung und Bekenntnis».
Die Gestalt des Gottesdienstes, zu der Form und Inhalt gehören, wurde – ausgerechnet in einer Zeit, in der ästhetische Paradigmen mehr und mehr das praktisch-theologische Nachdenken bestimmten – in den Strukturüberlegungen auseinandergerissen. Beachtet wurde zunächst die Form, die sich in der Struktur abbildet und vom Strukturpapier «Versammelte Gemeinde» (1974) bis zur Endfassung des Evangelischen Gottesdienstbuches (1999) die Diskussionen bestimmt.138
Müsste und könnte die Einheit des evangelischen Gottesdienstes nicht anders gesucht werden? Etwa in der Ausrichtung am «gemeinsamen Gebet», an einem Wort-Wechsel, den «wir» als Menschen nicht machen können, den Gott eröffnet und in den er uns einlässt? Einen Wort-Wechsel, der sich als Leben verändernd, aufrüttelnd, heilsam erweist, weil er die Begegnung mit Gott bedeutet? Ein Wort-Wechsel, der die feiernden Menschen als Sünder identifiziert und zugleich die Gnade Gottes zuspricht? Ein Wort-Wechsel, der die verschiedenen Menschen, die sich versammeln, so (und nur so!) zur Gemeinde als Gemeinschaft der voneinander Verschiedenen verbindet und als Kirche Jesu Christi konstituiert? Ein Wort-Wechsel, der keineswegs nur verbal abläuft, sondern auch musikalisch, auch leiblich, gestisch? Ein Wort-Wechsel, der ohne konkrete Gestalten nicht auskommt, wie die Reformatoren wussten, die ihn an das Wort der Bibel und an die Zeichengestalten von Abendmahl und Taufe banden und dies gegen jeden Spiritualismus einerseits, gegen jeden Objektivismus andererseits verteidigten?