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3. Evangelischer Gottesdienst – unterwegs zum gemeinsamen Gebet 3.1 Die Tyrannei der Sichtbarkeit und das Geheimnis der Absenz

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Der Berliner Philosoph Byung-Chul Han analysiert immer wieder die Gesellschaft, in der wir leben. 2012 erschien sein Buch zur «Transparenzgesellschaft».162 Das Buch ist eine rasante Sammlung von Aperçus, Aphorismen und Fragmenten. Es lässt sich auch auf dem Hintergrund des in diesem Beitrag Erarbeiteten lesen und dann als Hinweis verstehen auf eine nicht nur aus theologischen Gründen notwendige, sondern auch angesichts der kulturell-gesellschaftlichen «Großwetterlage» angezeigte Ausrichtung liturgischer Arbeit.

Für Han ist Transparenz ein durch und durch problematischer Begriff. Er bedeute Glätte, Gleichmacherei, Oberfläche, pornografische Sichtbarkeit und vor allem den Verlust der Kontemplation und des Anderen. Han im Wortlaut: «Transparent werden die Dinge, wenn sie jede Negativität abstreifen, wenn sie geglättet und eingeebnet werden, wenn sie sich widerstandslos in glatte Ströme des Kapitals, der Kommunikation und Information einfügen […] Transparent werden die Handlungen, wenn sie operational werden […] Die Transparenzgesellschaft ist eine Hölle des Gleichen […] Die Negativität der Anders- und Fremdheit oder die Widerständigkeit des Anderen stört und verzögert die glatte Kommunikation des Gleichen.»163 |57|

Daher würden das Andere und Fremde eliminiert. «Ereignisse» gingen verloren – und mit ihnen die «Zartheit», der «Respekt» vor der «Andersheit».164 Es brauche ein neues Wahrnehmen, ein neues Sehen, ein neues Hören, ein neues Reden, ja, eine «neue Aufklärung»,165 damit wieder Lücken bleiben und wir nicht der maschinellen, operationalen Oberflächlichkeit anheimfallen. «Die transparente Sprache ist eine formale, ja eine rein maschinelle, eine operationale Sprache, der jede Ambivalenz fehlt.»166 Der Transparenzzwang vernichte Spiel–Räume der Lust. Dazu brauche es nämlich «mehrdeutige Zeichen».167

«Liebe ohne Sehlücke ist Pornografie.»168 So meint Han – und wenn ich hier einmal explizit den Übergang wage, dann ließe sich sagen: Gottesdienst ohne Zwischenräume, ohne Unterbrechungen, ohne Geheimnis ist Götzendienst. Ein Gottesdienst, dem das Gebet und damit die Fragilität der Gott-Mensch-Beziehung fehlt, die niemand machen kann und die sich immer nur erwarten lässt, der als dauerhafte Unterhaltung durch ein starkes liturgisches Subjekt oder eine perfekte Bühneninszenierung besticht, ist kein Gottesdienst mehr. Han schreibt weiter: «Obszön ist die Hypervisibilität, der jede Negativität des Verborgenen, des Unzugänglichen und des Geheimnisses fehlt. Obszön sind auch die glatten Ströme der Hyperkommunikation, die frei von jeder Negativität der Andersheit ist.»169 Was es bräuchte, wäre eine «Gebrochenheit», die ein Innehalten, ein «Nachsehen, ein Nachdenken» ermöglichen würde,170 ein «kontemplatives Verweilen».171

Es wundert mich nicht, dass Han immer wieder auf religiöse Metaphern und auf religiöse Vollzüge zu sprechen kommt. Denn es geht ihm letztlich um die Wiederentdeckung einer Transzendenz inmitten der transparenten Welt. «Das Heilige ist nicht transparent. Vielmehr zeichnet es eine geheimnisvolle Unschärfe aus.»172 «Es wäre ein Sakrileg, eine Opferhandlung beschleunigen zu wollen. Rituale und Zeremonien haben ihre Eigenzeit, ihren eigenen Rhythmus und Takt.»173

Das alles ist nicht völlig neu. Die Anleihen bei Benjamin und Agamben, Žižek, Barthes und Sennett sind deutlich zu hören. Aber es handelt sich dennoch um eine |58| kompakte Gesellschaftsanalyse, aus der ich fünf Thesen für eine Wiederentdeckung des gemeinsamen Gebetes ableite:

 (1) Wenn der Gottesdienst gemeinsames Gebet sein soll, braucht es von allen Beteiligten eine Haltung der Erwartung, eine Fähigkeit zur Stille (die über bloße Pausen, die hier und da gelassen werden, weit hinausgeht) und eine Bereitschaft zur Unterbrechung. In diese einzuführen, wäre wohl als die entscheidende transformative und Kirche stiftende Praxis des Gottesdienstes zu bezeichnen.

 (2) Gegen die Hypervisibilität und Hyperkommunikation, in der Pfarrerinnen und Pfarrer meinen könnten, «das» Evangelium zu haben und der Gemeinde nun portionsgerecht auszuteilen, braucht es verbale Enthaltsamkeit, die den Raum eröffnet für das «Andere» das sich im Gottesdienst ereignen wird und kann.

 (3) Es braucht nicht einfach liturgische «Entschleunigung» – das wäre zu wenig –, sondern eine neue Achtung vor der liturgischen Zeitkunst, der Eigenzeit von Ritual und Symbol, damit sich Gottes Zeit mitten in der Weltzeit Raum verschafft.

 (4) Es braucht eine Sprache der «Expression», die nicht einfach traditionelle Konventionen wiederholt, aber auch nicht einfach heutig sein will. Es erscheint mir zu pragmatisch, wenn im Evangelischen Gottesdienstbuch schlicht von einer Mischung von alten und neuen Texten als Lösung des liturgischen Sprachproblems ausgegangen wird. Umgekehrt erscheint es mir zu einseitig konservativ, wenn der Prince of Wales in seinem Geleitwort zu dem 2011 erschienenen Band «The Book of Common Prayer» angesichts liturgischer Neuerungen fragt: «But who was it who decided that for people who aren’t very good at reading, the best things to read are those written by people who aren’t very good at writing? Poetry is surely for everybody, even if it’s only a few phrases. But banality is for nobody.»174 Meines Erachtens ist die Sprache, die wir zu suchen haben, immer noch am ehesten in Anlehnung an die Sprache der Bibel zu gewinnen. «Gottesdienst als Textinszenierung»175, als Einwandern in die Sprache der Bibel – das scheint |59| mir ein Weg, der zu neuer sprachlicher Kreativität im Raum der liturgischen Tradition anleiten kann.176

 (5) Es braucht Pfarrerinnen und Pfarrer, die wissen, dass sie eine wichtige, aber zugleich auch eine bescheidene Rolle im Geschehen des öffentlichen Gebets haben. Im Judentum gibt es den Begriff des Schaliach Zibbur, des Beauftragten/Gesandten der Menge, als Bezeichnung für den Vorbeter. So etwas ist – evangelisch verstanden – auch ein Pfarrer/eine Pfarrerin im liturgischen Kontext.177

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